Der große Streit beginnt


1512. Ein Sarg wird, von wenigen begleitet, von einer Kirche in Sevilla zum Gottesacker getragen. Es ist kein auffälliges, kein pompöses Leichenbegängnis, nicht das eines reichen Mannes, nicht das eines Edelmannes. Irgendein Beamter des Königs, der Piloto Mayor der Casa de Contratación, wird zur letzten Ruhe gebettet, ein gewisser Despuchy oder Vespuche. Niemand ahnt in der fremden Stadt, daß es derselbe Mann ist, dessen Name der vierte Teil der Erde tragen wird, und die Historiographen und Chronisten verzeichnen mit keinem Wort dieses belanglose Wegsterben; noch nach dreißig Jahren wird man in den Geschichtswerken lesen, Amerigo Vespucci sei 1534 auf den Azoren gestorben. Ganz unbeachtet geht der Taufpate Amerikas dahin, ebenso still wie man den Adelantado, den Großadmiral des Neuen Indien, Christophoro Colombo, 1506 in Valladolid zur letzten Ruhe senkte, ohne daß ein König, ein Duque den Sarg begleitet, und dessen Tod gleichfalls kein zeitgenössischer Geschichtsschreiber für wichtig genug hielt, um ihn der Welt zu melden.


Zwei stille Gräber in Sevilla und Valladolid. Zwei Männer, die sich im Leben oftmals begegnet sind, ohne einer den andern zu meiden oder zu hassen. Zwei Männer, vom gleichen Geist schöpferischer Neugier beseelt, die einer dem andern redlich und herzlich auf ihrem Wege geholfen. Aber über ihren Gräbern erhebt sich der erbittertste Streit. Ohne daß sie es ahnten, wird des einen Ruhm mit dem des andern kämpfen, Irrtum, Unverstand, Forschungslust und persönliche Rechthaberei werden immer von neuem eine – im Leben nie vorhandene – Rivalität zwischen den beiden großen Seefahrern anfachen. Aber sie selbst werden von diesem Zank und Lärm so wenig vernehmen wie von dem Wind, der mit unverständlichem Wort über ihre Gräber hinfahrt.


Der Unterliegende in diesem grotesken Kampf eines Ruhms gegen einen andern ist zunächst Columbus. Er ist als ein Besiegter, Gedemütigter und halb Vergessener gestorben. Ein Mann einer einzigen Idee und einer einzigen Tat, hat er seinen unsterblichen Augenblick in der Stunde gehabt, da diese Idee sich in der Tat verwirklichte, in der Stunde, da die »Santa Maria« an dem Strande von Guanahani landete, da der bisher unzugängliche Atlantische Ozean zum erstenmal durchmessen war. Bis zu dieser Stunde hatte der große Genueser der Welt als Narr, als Phantast, als wirrer, unrealistischer Träumer gegolten, und von dieser Stunde an gilt er es ihr zum zweitenmal. Denn von dem Wahn, der ihn getrieben, kann er sich nicht befreien. Als er zum erstenmal meldet, er habe »die reichsten Königreiche der Erde betreten«, als er Gold und Perlen und Gewürze verspricht aus dem erreichten »Indien«, schenkt man ihm noch Glauben. Eine mächtige Flotte wird ausgerüstet, fünfzehnhundert Menschen kämpfen um die Ehre, mitreisen zu dürfen nach dem Ophir und El Dorado, das er behauptet, mit eigenen Augen erschaut zu haben, die Königin gibt ihm, in Seide gewickelt, Briefe mit an den »großen Khan« in Quinsay; aber dann kommt er zurück von dieser großen Reise, und was er bringt, sind ein paar hundert halbverhungerter Sklaven, welche die fromme Königin sich weigert, zu verkaufen. Ein paar hundert Sklaven und den alten Wahn, er sei in China, in Japan gewesen. Und dieser Wahn wird immer wirrer, immer phantastischer, je weniger er sich bewahrheitet. In Cuba ruft er seine Leute zusammen und läßt sie unter Androhung von hundert Peitschenhieben vor einem escribano, einem Notar, feierlich beeiden, daß Cuba keine Insel sei, sondern das chinesische Festland. Die wehrlosen Seeleute zucken die Achseln über den Narren und unterschreiben, ohne ihn ernst zu nehmen, und einer von ihnen, Juan de Cosa, zeichnet, ohne sich um den erzwungenen Eid zu kümmern, Cuba geruhig als Insel in seine Landkarte ein. Aber unentwegt schreibt Columbus wieder der Königin, »nur ein Kanal trenne ihn noch vom Goldchersonnes des Ptolemäus« (der Halbinsel Malacca) und »es sei nicht weiter von Panama an den Ganges als von Pisa nach Genua«. Zuerst lächelt man noch am Hofe über diese wilden Versprechungen, allmählich wird man mißmutig. Die Expeditionen kosten schweres Geld, und was bringen sie heim: schwächliche, verhungerte Sklaven statt des verheißenen Goldes, und Syphilis statt der Gewürze. Die Inseln, die die Krone ihm zur Verwaltung anvertraut, werden zu schauerlichen Schlachthäusern und wüsten Leichenfeldern. Eine Million Eingeborene gehen allein auf Haiti innerhalb eines Jahrzehnts zugrunde, die Einwanderer verarmen und rebellieren, furchtbare Nachrichten von unmenschlichen Grausamkeiten kommen mit jedem Brief und mit den enttäuscht aus diesem »irdischen Paradies« zurückflüchtenden Kolonisten. Bald erkennt man in Spanien: dieser Phantast weiß nur zu träumen und nicht zu herrschen; das erste, was der neuentsandte Gouverneur Bobadilla von seinem Schiff aus sieht, sind Galgen mit im Winde schwankenden Leichen seiner Landsleute. In Ketten muß man die drei Brüder heimbringen, und selbst als man Columbus seine Freiheit, seine Ehre, seine Titel reumütig wiedergibt, ist sein Nimbus in Spanien doch völlig dahin.


Wenn er landet, wird sein Schiff nicht mehr umdrängt von großer Erwartung. Wenn er zu Hofe will, weicht man aus, und der alte Mann, der Entdecker Amerikas, muß ein flehentliches Gesuch einreichen, einen Maulesel auf dem Wege benützen zu dürfen. Noch immer verspricht und verspricht er, und immer phantastischere Dinge. Er werde auf der nächsten Fahrt »das Paradies« finden, verspricht er der Königin, und wiederum dem Papst, er wolle auf dem neuen kürzeren Wege in einer Kreuzfahrt »Jerusalem befreien«. Der sündigen Menschheit kündigt er in seinem ›Buch der Prophezeiungen‹ an, in hundertfünfzig Jahren werde die Welt zugrundegehen. Schließlich hört niemand mehr auf den »fallador« (den Schwätzer) und seine »imaginacôes com su Ilha Cipangu« (Phantastereien von der Insel Zipangu). Die Kaufleute, die an ihm Geld verloren haben, die Gelehrten, die seinen geographischen Nonsens verachten, die Kolonisten, die er mit seinen großen Ankündigungen enttäuscht, die Beamten, die ihm seine hohe Stellung mißgönnen, beginnen eine geschlossene Front gegen den »Admiral von Mosquitoland« zu bilden; immer mehr wird der alte Mann in den Winkel gedrängt, und er selbst bekennt reumütig: »Ich hatte gesagt, ich hätte die reichsten Königreiche betreten. Ich sprach von Gold, Perlen, Edelsteinen, Gewürzen, und als das alles nicht gleich auftauchte, fiel ich in Schande.« Um 1500 ist Christophoro Colombo in Spanien ein erledigter Mann und bei seinem Tode 1506 ein beinahe vergessener.


Auch die nächsten Jahrzehnte erinnern sich seiner kaum: es ist eine rasch strömende Zeit. Jedes Jahr meldet neue Heldentaten, neue Entdeckungen, neue Namen, neue Triumphe, und in solchen Zeiten wird das gestern Geleistete rascher übersehen. Da landen Vasco da Gama und Cabral von Indien; sie bringen nicht bloß nackte Sklaven und vage Verheißungen mit, sondern alle Kostbarkeiten des Ostens; König Manuel, el Fortunado, wird dank dieser Beute aus Calicut und Malacca der reichste Monarch Europas. Brasilien wird entdeckt, Nunez de Balboa erblickt von den Höhen von Panama zum erstenmal den Pazifischen Ozean. Cortez erobert Mexiko, Pizarro Peru: endlich strömt wirkliches Gold in die Schatzkammer. Magelhães umsegelt Amerika, und nach dreijähriger Reise kehrt – großartigste Seemannstat aller Zeiten – sein Flaggschiff »Victoria« rund um den Erdball nach Sevilla zurück. 1545 werden die Silberminen von Potosí erschlossen, Jahr um Jahr steuern hochbeladen die Flotten nach Europa zurück. Alle Meere sind durchfahren, alle oder beinahe alle Länder des Erdkreises umrundet in einem halben Jahrhundert: was zählt da der Einzelne und seine Tat in diesem homerischen Heldengedicht? Noch sind die Bücher nicht erschienen, die sein Leben schildern, seine einsame Voraussicht erklären; die Columbusfahrt gilt bald nur noch als eine in der ruhmreichen Schar der neuen Argonauten, und weil er den geringsten greifbaren Gewinn gebracht, verkennt und vergißt ihn die Zeit, die wie jede nur in ihren eigenen Maßen denkt und nicht in jenen der Geschichte.


Mächtig erhebt sich unterdessen der Ruhm Amerigo Vespuccis. Da alle noch irrten und sich verblenden ließen von dem Wahn, man habe Indien im Westen entdeckt, hat er die Wahrheit erkannt: daß dies ein Mundus Novus sei, eine neue Welt, ein anderer Kontinent. Immer hat er nur die Wahrheit berichtet: er hat nicht Gold und Edelsteine versprochen, sondern bescheiden gemeldet, die Eingeborenen erzählten zwar, man finde Gold in diesen Ländern, er aber sei wie der heilige Thomas behutsam im Glauben: die Zeit würde es lehren. Und nicht um Goldes und Geldes willen wie die andern ist er ausgefahren, sondern um der idealen Lust an der Entdeckung. Er hat nicht Menschen gemartert und Reiche zerstört wie alle die andern verbrecherischen Conquistadoren: er hat die fremden Völker als Humanist, als gelehrter Mann in ihren Sitten und Gebräuchen beobachtet und geschildert, ohne sie zu rühmen, ohne sie zu tadeln, er hat, ein weiser Schüler des Ptolemäus und der großen Philosophen, die neuen Sterne beobachtet in ihrem Lauf und die Meere und Länder durchforscht um ihrer Wunder und Geheimnisse willen. Nicht der blinde Zufall hat ihn geführt, sondern strenge mathematische und astronomische Wissenschaft – ja, er ist einer der Ihren, rühmen die Gelehrten, homo humanus, ein Humanist! Er weiß zu schreiben und weiß Latein zu schreiben, die einzige Sprache, die sie für geistige Angelegenheiten als gültig erachten; er hat die Ehre der Wissenschaft gerettet, indem er einzig ihr diente und nicht dem Gewinn und dem Geld. Jeder einzelne der zeitgenössischen Geschichtsschreiber beginnt mit einer Verbeugung, ehe er Vespuccis Namen nennt, Peter Martyr und Ramusio und Oviedo; und da es nicht mehr als ein Dutzend Gelehrte sind, die damals ihre Zeit belehren, gilt Vespucci als der größte Seefahrer seiner Zeit.


Diesen ungeheuren Nimbus innerhalb der gelehrten Welt dankt er also im letzten dem zufälligen Umstand, daß seine beiden – ach, so dünnen und anzweifelhaften – Werkchen in lateinischer Sprache, der Gelehrtensprache erschienen sind; vor allem ist es die Ausgabe der ›Cosmographiae Introductio‹, die ihm die überwältigende Autorität über alle andern gibt. Nur weil er sie als erster beschrieb, wird Vespucci von den Gelehrten, denen das Wort mehr gilt als die Tat, unbedenklich als der Entdecker dieser neuen Welt gefeiert. Als erster zieht Schoner, der Geograph, die Scheidelinie: Columbus habe bloß einige Inseln entdeckt, Vespucci aber die neue Welt. Und ein Jahrzehnt später ist es durch Nachsprechen und Nachschreiben schon Axiom geworden: Vespucci sei der Entdecker des neuen Erdteils, und nur zu Recht heiße Amerika Amerika.


Durch das ganze sechzehnte Jahrhundert strahlt hell und ungetrübt dieser irrtümliche Ruhm Vespuccis als der Entdecker der neuen Welt. Nur ein einzigesmal hebt sich ziemlich schüchtern ein leiser Einspruch. Ei kommt von einem sonderbaren Mann, von Miguel Servet, der später den tragischen Ruhm erlangt hat, als erstes Opfer einer protestantischen Inquisition von Calvin in Genf auf den Scheiterhaufen gestoßen worden zu sein. Servet ist ein merkwürdiger Charakter der Geistesgeschichte, ein Viertel Genie, ein Viertel Narr, ein unzufriedener, alles verwegen bemängelnder Irrlichtgeist, der auf jedem Gebiet der Wissenschaft meint, seine persönliche Meinung in heftigster Form vertreten zu müssen. Aber diesem eigentlich unproduktiven Mann eignet ein merkwürdiger Instinkt, überall an entscheidende Probleme zu rühren. In der Medizin spricht er Harveys Theorie vom Blutkreislauf beinahe schon deutlich aus, in der Theologie trifft er Calvins schwächsten Punkt, immer kommt ihm ein geheimnisvolles Ahnungsvermögen zu Hilfe, Geheimnisse, wenn auch nicht zu lösen, so doch aufzuspüren: auch in der Geographie rührt er an das entscheidende Problem. Von der Kirche geächtet, nach Lyon geflüchtet, wirkt er dort als Arzt unter falschem Namen und gibt gleichzeitig 1535 eine neue Ausgabe des Ptolemäus heraus, die er mit eigenen Anmerkungen versieht. Dieser Ausgabe sind die Karten der Ptolemäusausgabe von Laurent Frisius 1522 beigegeben, die gemäß dem Vorschlag Waldseemüllers den Südteil des neuen Kontinents mit »Amerika« benennen. Aber während der Herausgeber des Ptolemäus von 1522, Thomas Ancuparius, in seiner Vorrede, ohne Columbus überhaupt zu erwähnen, einen Hymnus auf Vespucci anstimmt, wagt Servet als erster gewisse Einschränkungen gegen die allgemeine Überschätzung Vespuccis und die vorgeschlagene Benennung des neuen Erdteils zu machen. Schließlich sei, schreibt er, Vespucci doch nur als Kaufmann ausgefahren – »ut merces suas comutaret« und »multo post Columbum«, lange nach Columbus. Es ist noch eine ganz vorsichtige Äußerung, gleichsam nur ein Räuspern des Protests; auch Servet denkt nicht daran, Vespucci seines Ruhms als Entdecker zu berauben; er möchte nur nicht, daß Columbus ganz übersehen werde. Es ist also noch keineswegs die Antithese Columbus oder Vespucci gestellt, noch kein Prioritätsstreit eröffnet; was Servet andeutet, ist nur, daß man sagen sollte: Vespucci und Columbus. Aber ohne richtige Beweise in Händen zu halten, ohne genauere Kenntnis der historischen Situation, einzig aus seinem argwöhnischen Instinkt, Irrtümer zu wittern und Probleme an einer ganz neuen Seite anzufassen, deutet Servet als erster an, daß es bei diesem mit der Wucht einer Lawine über die Welt gestürzten Ruhm Vespuccis nicht ganz mit rechten Dingen zugehe.


Entscheidender Einspruch kann freilich nur von jemandem kommen, der nicht wie Servet in Lyon auf Bücher und ungewisse Nachrichten angewiesen ist, sondern dem verläßliche Kenntnis der faktischen historischen Geschehnisse zugänglich ist. Und es wird eine gewichtige Stimme sein, die sich gegen den Über-Ruhm Vespuccis erhebt, eine Stimme, der sich Kaiser und Könige beugen mußten und deren Wort Millionen gepeinigter, gefolterter Menschen erlöste: die Stimme des großen Bischofs Las Casas, der die Greuel der Conquistadoren gegen die Eingeborenen mit einer so erschütternden Kraft aufgedeckt hat, daß man noch heute seine Berichte nur mit zuckendem Herzen zu lesen vermag. Las Casas, der ein Alter von neunzig Jahren erreichte, ist Augenzeuge der ganzen Entdeckungszeit gewesen, und dank seiner Wahrheitsliebe, seiner priesterlichen Überparteilichkeit, ein unbedenklicher Zeuge: seine große Geschichte Amerikas ›Historia general de las Indias‹, die er 1559 im fünfundachtzigsten Lebensjahre im Kloster von Valladolid begonnen, darf noch heute als die solideste Grundlage der Geschichtsschreibung jener Epoche gelten. 1474 geboren, war er 1502, also noch in der columbianischen Zeit, nach Hispaniola (Haiti) gekommen und hatte als Priester und später als Bischof, abgesehen von mehrmaligen Reisen nach Spanien, sein ganzes Leben bis zu seinem dreiundsiebzigsten Jahre in dem neuen Weltteil verbracht; niemand war also befugter und berufener, ein sachgemäßes und gültiges Urteil über Geschehnisse in der Epoche der Entdeckungen abzugeben.


Auf einer seiner Reisen, von den »Nuevas Indias« nach Spanien zurückkehrend, muß nun Las Casas auf eine jener Landkarten oder jene ausländischen Bücher gestoßen sein, in denen das neue Land mit dem Namen »Amerika« verzeichnet war. Und wahrscheinlich ebenso erstaunt wie wir, hatte er gefragt: »Warum Amerika?« Die Antwort, weil Amerigo Vespucci es entdeckt habe, mußte natürlich seinen Argwohn und seinen Zorn erregen, denn wenn irgendjemand, so war er im Bilde. Sein eigener Vater hatte Columbus auf der zweiten Fahrt persönlich begleitet, er selbst konnte also bezeugen, daß Columbus nach seinen Worten »der erste gewesen, der die Pforten jenes Ozeans geöffnet, der seit so vielen Jahrhunderten verschlossen gewesen«. Wieso konnte also Vespucci sich rühmen oder gerühmt werden, der Entdecker dieser neuen Welt zu sein? Anscheinend stieß er nun auf das damals übliche Argument, Columbus habe nur die Inseln vor Amerika, die Antillen, entdeckt, Vespucci aber das eigentliche Festland, und dürfe deshalb mit Recht als Entdecker des Kontinents angesprochen werden.


Nun wird Las Casas, der sonst so milde Mann, grimmig. Wenn Vespucci dies behaupte, sei er ein Lügner. Kein anderer als der Admiral habe im Jahre 1498 auf seiner zweiten Reise das Festland als erster bei Parias betreten: dies sei überdies bezeugt durch den feierlichen Eid Alonsos de Hojeda im Prozeß des Fiskus gegen die Erben des Columbus im Jahre 1516. Aber auch sonst habe kein einziger der über hundert Zeugen jenes Prozesses diese Tatsache zu bestreiten gewagt; nach Fug und Recht müßte dies Land »Columba« heißen. Wieso könne Vespucci also »die Ehre und den Ruhm usurpieren, der dem Adelantado gebühre, und die Leistung sich allein zuschreiben«? Wo und wann und mit welcher Expedition sei er vor dem Admiral auf dem Festland Amerikas gewesen?


Las Casas untersucht nun den Bericht des Vespucci, wie er in der ›Cosmographiae Introductio‹ gedruckt ist, um diesen angeblichen Prioritätsanspruch Vespuccis anzufechten. Und nun kommt eine neue groteske Wendung in dieser Komödie der Irrungen, die dem schon reichlich verfitzten Knäuel einen neuen Stoß in eine ganz falsche Richtung gibt. In der italienischen Originalausgabe, in der Vespuccis erste Reise von 1497 geschildert ist, heißt es, er sei an einem Ort namens »Lariab« gelandet. Infolge eines Druckfehlers oder einer eigenwilligen Verbesserung setzt nun die lateinische Ausgabe von St-Dié statt dieses »Lanab« den Ort »Parias« ein, und das gibt den Anschein, Vespucci hätte selbst behauptet, schon 1497 in Parias und somit ein Jahr vor Columbus auf dem Festland gewesen zu sein. Kein Zweifel also für Las Casas, daß Vespucci ein Fälscher ist, der nach dem Tode des Admirals die gute Gelegenheit benützt hat, sich »in ausländischen Büchern« (denn in Spanien hätte man ihm zu genau auf die Finger gepaßt) als den Entdecker des neuen Kontinents aufzuspielen. Und nun weist Las Casas nach, daß in Wahrheit Vespucci 1499 und nicht 1497 nach Amerika gefahren sei, aber wohlweislich den Namen Hojedas verschwiegen habe. »Was Amerigo geschrieben hat«, eifert der redliche Mann, »um sich selbst berühmt zu machen, indem er stillschweigend die Entdeckung des Festlands usurpierte«, sei in böser Absicht gewesen und Vespucci somit ein Betrüger.


Es ist eigentlich nur ein Druckfehler der lateinischen Ausgabe, die Einsetzung des Worts »Parias« statt »Lariab« der Originalausgabe, der die Erregung Las Casas’ über den angeblich beabsichtigten Betrug verursacht. Jedoch ohne es zu wollen, hat Las Casas an einen heiklen Punkt gerührt, nämlich, daß in allen Briefen und Berichten des Vespucci eine merkwürdige Dunkelheit über die Absichten und tatsächlich erreichten Ziele seiner Reisen herrscht. Vespucci nennt niemals klar die Namen der Befehlshaber der Flotte, seine Daten sind in den verschiedenen Ausgaben verschieden, seine Längenbestimmungen unrichtig; von dem Augenblicke an, da man begonnen hat, die historischen Grundlagen seiner Reisen festzustellen, muß der Verdacht aufkommen, daß aus irgendwelchen Gründen – mit denen wir uns später zu befassen haben werden – der einfache, klare Tatbestand hier absichtlich verdunkelt worden sei. Hier nähern wir uns zum erstenmal dem eigentlichen Vespucci-Geheimnis, das seit Hunderten von Jahren die Gelehrten aller Nationen beschäftigt hat – wieviel in den Berichten von seinen Reisen ist Wahrheit und wieviel Erfindung (oder sagen wir es härter: Fälschung)?


Dieser Zweifel betrifft vor allem die erste der vier Reisen, jene vom 10. Mai 1497, die schon Las Casas angezweifelt hat, und die Vespucci allenfalls eine gewisse Priorität als Entdecker des Kontinents hätte sichern können. Sie ist in keinem historischen Schriftstück erwähnt, gewisse Elemente in ihr sind zweifellos der zweiten Reise mit Hojeda entlehnt. Selbst die fanatischsten Verteidiger Vespuccis konnten kein Alibi für eine Seefahrt Vespuccis in jenem Jahre erbringen und müssen sich mit Hypothesen begnügen, um ihr einen Schatten von Wahrscheinlichkeit zu geben. Im einzelnen hier die Beweise und Gegenbeweise aus diesen endlosen und schroff kontradiktorischen Diskussionen der gelehrten Geographen anzugeben, würde allein ein Buch füllen; genug, daß drei Viertel von ihnen diese erste Reise als imaginär ablehnen, während der Rest seiner ex-offo-Verteidiger Vespucci bei dieser Gelegenheit bald Florida, bald den Amazonenstrom als erster entdecken läßt. Aber da der unermeßliche Ruhm Vespuccis sich größtenteils auf diese erste – höchst zweifelhafte – Reise gründete, mußte der ganze aus Irrtum, Zufall und unbelehrter Nachrednerei getürmte Babelturm ins Wanken geraten, sobald man mit der philologischen Axt an die Fundamente rührte.


Diesen entscheidenden Schlag führt Herrera 1601 in seiner ›Historia de las Indias Occidentales‹. Der spanische Geschichtsschreiber brauchte nicht lange um Argumente sich zu bemühen, da er Einblick hatte in das damals noch unveröffentlichte Buch des Las Casas, und eigentlich ist es also noch immer Las Casas, der gegen Vespucci eifert. Herrera erklärt und beweist mit den Gründen des Las Casas, daß die Datierung der »Quatuor Navigationes« eine unwahre sei, daß Vespucci 1499 und nicht 1497 mit Hojeda ausgefahren, und kommt zu dem Beschluß – ohne daß der Angeklagte zu Wort kommen kann–, daß Amerigo Vespucci »listig und absichtsvoll seine Berichte gefälscht habe in der Absicht, Columbus die Ehre zu stehlen, der Entdecker Amerikas gewesen zu sein«.


Der Nachhall dieser Enthüllung ist gewaltig. Wie? schrecken die Gelehrten auf, Vespucci war gar nicht der Entdecker Amerikas? Der weise Mann, dessen maßvoll bescheidene Art wir als vorbildlich bewundert, ein Lügner, ein Betrüger, ein Mendez Pinté, einer dieser verruchten Reiseschwindler? Denn wenn er auch nur eine Reise erlogen hat, warum sollten die andern dann wahrhaftig sein? Welche Schmach – der neue Ptolemäus nichts anderes als ein niederträchtiger Herostrat, der sich tückisch in den Tempel des Ruhms eingeschlichen, um mit einem schurkischen Verbrechen sich Unsterblichkeit zu erkaufen! Welche Schande für die ganze gelehrte Welt, daß man, von seinen Großsprechereien verführt, den neuen Erdteil mit seinem Namen taufte! Wäre es nicht an der Zeit, diesen blamablen Irrtum richtigzustellen? Und ganz ernsthaft schlägt Fray Pedro Simon 1627 vor, »den Gebrauch jedes geographischen Werkes und jeder Karte zu unterdrücken, worin sich der Name Amerika befindet«.


Das Pendel hat zurückgeschlagen. Vespucci ist ein erledigter Mann, und glorreich erhebt sich im siebzehnten Jahrhundert wieder der halb vergessene Name des Columbus. Groß wie das neue Land ersteht nun seine Gestalt. Von allen Taten ist nur seine Tat geblieben, denn die Paläste Montezumas sind geplündert und verfallen, die Schatzkammern Perus geleert, all die Taten und Schandtaten der einzelnen Conquistadoren vergessen; nur Amerika ist Realität, ein Schmuck der Erde, eine Heimstatt für alle Verfolgten, ein Land, das Land der Zukunft. Welches Unrecht ist getan worden an diesem Manne, welches Unrecht in seiner Zeit und in den Jahrhunderten nach ihm! Columbus wird zur Heldengestalt, alle Unterschätzung, alle Schatten in seinem Bilde werden getilgt, man schweigt über seine schlechte Verwaltung, seine religiösen Phantastereien, und idealisiert sein Leben. Alle Schwierigkeiten werden dramatisch gesteigert: wie die Matrosen schon meutern und er sie mit Gewalt nach vorwärts reißt, wie er in Ketten von einem niedrigen Schurken heimgebracht wird, wie er mit seinem halbverhungerten Kinde in dem Kloster zu Rabida Obdach findet – was vordem zu wenig getan wurde, um seine Tat zu rühmen, wird dank dem ewigen Heroisierungsbedürfnisse fast zu viel getan.


Aber nach dem uralten Gesetz alles Dramatischen und auch Melodramatischen braucht jede heroisierte Gestalt ihren Gegenspieler wie das Licht den Schatten, Gott den Teufel, wie Achilles Thersites und der tolle Träumer Don Quichotte den urgesund realistischen Sancho Pansa. Um das Genie zu zeigen, muß sein Gegensatz angeprangert werden, der irdische Widerstand, die niederen Kräfte des Unverstands, des Neids, des Verrats. Es werden also die Feinde des Columbus – Bobadilla, ein redlicher, gerechter, unbedeutender Beamter, der Kardinal Fonseca, ein tüchtiger, klarer Rechner – zu böswilligen Schurken geschwärzt. Aber der wahre Widersacher ist jetzt glücklich in Amerigo Vespucci gefunden, und gegen die Columbuslegende entsteht die Vespuccilegende. Da sitzt in Sevilla eine giftige Kröte, geschwollen von Neid, ein kleiner Kaufmann, der gerne als Gelehrter, als Forscher gelten möchte. Aber er ist zu feige, sich je auf ein Schiff zu wagen. Von seinem sicheren Fenster sieht er zähneknirschend zu, wie man den großen Columbus bei seiner Heimkehr bejubelt. Ihm den Ruhm stehlen! Den Ruhm für sich stehlen! Während man den edlen Admiral in Ketten heimschleppt, klaubt und skribelt er sich listig aus fremden Büchern Reisen zusammen. Und kaum ist Columbus begraben, kaum kann er sich nicht mehr wehren, so schickt diese Hyäne des Ruhms buhlerische Briefe und Berichte an alle Potentaten der Welt, er sei der erste, der eigentliche Weltentdecker, und läßt sie – vorsichtigerweise im Ausland – in lateinischer Sprache drucken. Er wirbt und bettelt bei ahnungslosen Gelehrten irgendwo am anderen Ende der Welt, daß sie den neuen Weltteil nach ihm Amerika nennen mögen. Er schleicht sich heran an den Erbfeind des Columbus, an seinen Bruder im Neid, den Bischof Fonseca, und listet ihm an, daß man ihn, der nichts versteht von Seefahrt, in seiner Schreibstube zum piloto mayor, zum Vorstand der Casa de Contratación ernenne, nur damit er die Hand auf die Landkarten legen könne. Damit hat er endlich – diese Dinge werden tatsächlich Vespucci zugeschrieben – die Möglichkeit zu dem großen Betrug; als piloto mayor, der die Landkarten zeichnen läßt, kann er unkontrolliert veranlassen, daß überall Amerika, Amerika, Amerika, sein verruchter Name, als Bezeichnung des neuen Landes eingetragen wird in alle Karten und Globen. So wird der Tote, den man zeit seines Lebens in Ketten schlug, noch einmal bestohlen und betrogen von diesem schurkischen Genie des Betrugs; nicht sein Name, sondern der dieses Diebes schmückt jetzt den neuen Weltteil.


Das ist das Bild des Vespucci im siebzehnten Jahrhundert: ein Ehrabschneider, ein Fälscher, ein Lügner. Aus dem Adler, der mit kühnem Blick die Welt überschaute, ist plötzlich ein widrig wühlender Maulwurf geworden, ein Leichenschänder und Dieb. Es ist ein ungerechtes Bild, aber es frißt sich ein in die Zeit. Für Jahrzehnte und Jahrhunderte erstickt Vespuccis Name im Schmutz; Bayle und Voltaire geben ihm jeder einen Fußtritt ins Grab, und jedes Schulbuch erzählt schon den Kindern die Geschichte seiner niederträchtigen Ruhmerschleichung. Und selbst ein so weiser und bedächtiger Mann wie Ralph Waldo Emerson wird noch drei Jahrhunderte später (1856) unter dem Bann dieser Legende schreiben: »Strange that broad America must wear the name of a thief. Amerigo Vespucci the pickledealer at Seville, whose highest naval rank was boatswain’s mate in an expedition that never sailed, managed in this lying world to supplant Columbus and baptize half the earth with his own dishonest name.«

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