Die Mondscheingasse
Das Schiff hatte, durch Sturm verzögert, erst spät abends in der kleinen französischen Hafenstadt landen können, der Nachtzug nach Deutschland war versäumt. So blieb ein unerwarteter Tag an fremdem Ort, ein Abend ohne andere Lockung als die einer melancholischen Damenmusik in einem vorstädtischen Vergnügungslokal oder eines eintönigen Gespräches mit den ganz zufälligen Reisegenossen. Unerträglich schien mir die Luft in dem kleinen Speiseraum des Hotels, fettig von Öl, dumpf von Rauch, und ich fühlte doppelt ihre trübe Unreinlichkeit, weil noch der reine Atem des Meeres mir salzig-kühl auf den Lippen lag. So ging ich hinaus, aufs Geratewohl die helle breite Straße entlang zu einem Platz, wo eine Bürgergardenkapelle spielte, und wieder weiter inmitten der lässig fortflutenden Woge der Spaziergänger. Anfangs tat es mir gut, dieses willenlose Geschaukeltsein in der Strömung gleichgültiger und provinziell geputzter Menschen, aber bald ertrug ich es doch nicht mehr, dieses Anwogen von fremden Leuten und ihr abgerissenes Gelächter, diese Augen, die mich angriffen, erstaunt, fremd oder grinsend, diese Berührungen, die mich unmerklich weiterschoben, dies aus tausend kleinen Quellen brechende Licht und unaufhörliche Scharren von Schritten. Die Seefahrt war bewegt gewesen, und noch gärte in meinem Blut ein taumliges und sanfttrunkenes Gefühl: noch immer spürte ich Gleiten und Wiegen unter meinen Füßen, die Erde schien wie atmend sich zu bewegen und die Straße bis auf in den Himmel zu schwingen. Schwindelig ward mir mit einem Male von diesem lauten Gewirr, und um mich zu retten, bog ich, ohne nach ihrem Namen zu blicken, in eine Seitenstraße ein und von da wieder in eine kleinere, in der dies sinnlose Lärmen allmählich verebbte, und ging nun ziellos weiter ins Gewirr dieser wie Adern sich verästelnden Gassen, die immer dunkler wurden, je mehr ich mich vom Hauptplatz entfernte. Die großen elektrischen Bogenlampen, diese Monde der breiten Boulevards, flammten hier nicht mehr, und über die spärliche Beleuchtung hin begann man endlich wieder die Sterne zu sehen und einen schwarzen verhängten Himmel.
Ich mußte nahe dem Hafen sein, im Matrosenviertel, das fühlte ich an dem faulen Fischgeruch, an diesem süßlichen Duft von Tang und Fäulnis, wie ihn auch die von der Brandung ans Land gerissenen Algen haben, an diesem eigentümlichen Dunst verdorbener Gerüche und ungelüfteter Stuben, der sich dumpfig in diese Winkel legt, bis einmal der große Sturm kommt und ihnen Atem bringt. Das ungewisse Dunkel tat mir wohl und diese unerwartete Einsamkeit, ich verlangsamte meinen Schritt, betrachtete nun Gasse um Gasse, eine immer anders wie die Nachbarin, hier eine friedfertige, dort eine buhlerische, alle aber dunkel und mit einem gedämpften Geräusch von Musik und Stimmen, das aus dem Unsichtbaren, aus der Brust ihrer Gewölbe so geheimnisvoll aufquoll, daß kaum die unterirdische Quelle zu erraten war. Denn alle waren sie verschlossen und blinzelten nur mit einem roten oder gelben Licht. Ich liebe diese Gassen in fremden Städten, diesen schmutzigen Markt aller Leidenschaften, diese heimliche Anhäufung aller Verführungen für die Matrosen, die von einsamen Nächten auf fremden und gefährlichen Meeren hier für eine Nacht einkehren, ihre vielen und sinnlichen Träume in einer Stunde zu erfüllen. Sie müssen sich verstecken irgendwo in einer Niederung der großen Stadt, diese kleinen Seitengassen, weil sie so frech und aufdringlich sagen, was die hellen Häuser mit blanken Scheiben und vornehmen Menschen in hundert Masken verbergen. Musik klingt und lockt hier aus kleinen Stuben, Kinematographen verheißen mit grellen Plakaten ungeahnte Prächte, kleine viereckige Lichter ducken sich unter die Tore und zwinkern mit vertraulichem Gruß eine sehr deutliche Einladung zu, zwischen dem aufgetanen Spalt einer Tür schimmert nacktes Fleisch unter vergoldetem Flitter. Aus den Cafés grölen die Stimmen der Berauschten und poltert der Zank der Spieler. Die Matrosen grinsen, wenn sie hier einander begegnen, ihre stumpfen Blicke werden grell von vieler Verheißung, denn hier ist alles, Weiber und Spiel, Trunk und Schau, das Abenteuer, das schmutzige und das große. All dies aber ist scheu und doch verräterisch gedämpft hinter den heuchlerisch gesenkten Fensterläden, alles nur innen, und diese scheinbare Verschlossenheit reizt durch die doppelte Verführung von Verborgenheit und Zugänglichkeit. Diese Straßen sind gleich in Hamburg und Colombo und Havanna, gleich da und dort wie auch die großen Avenuen des Luxus, denn das Oben und Unten des Lebens hat die gleiche Form. Letzte phantastische Reste einer sinnlich ungeregelten Welt, wo die Triebe noch brutal und ungezügelt sich entladen, ein finsterer Wald von Leidenschaften und Dickicht und voll triebhaften Getiers sind diese unbürgerlichen Straßen, erregend durch das, was sie verraten, und verlockend durch das, was sie verbergen. Man kann von ihnen träumen.
Und so war auch diese, in der ich mich mit einem Male gefangen fühlte. Aufs Geratewohl war ich ein paar Kürassieren nachgegangen, die mit ihrem nachschleifenden Säbel über das holprige Pflaster klirrten. Aus einer Bar riefen Weiber sie an, sie lachten und schrien ihnen grobe Scherze zu, einer klopfte an das Fenster, dann fluchte eine Stimme irgendwo, sie gingen weiter, das Gelächter wurde ferner, und bald hörte ich sie nicht mehr. Stumm war wieder die Gasse, ein paar Fenster blinkten unklar in einem Nebelglanz von mattem Mond. Ich stand und sog atmend diese Stille ein, die mir seltsam schien, weil hinter ihr etwas surrte von Geheimnis, Wollust und Gefahr. Deutlich spürte ich, daß dieses Schweigen eine Lüge war und unter dem trüben Dunst dieser Gasse etwas glimmerte von der Fäulnis der Welt. Aber ich stand, blieb und lauschte ins Leere. Ich fühlte die Stadt nicht mehr und die Gasse, nicht ihren Namen und nicht den meinen, empfand nur, daß ich hier fremd war, wunderbar losgelöst in einem Unbekannten stand, daß keine Absicht in mir war, keine Botschaft und keine Beziehung und ich doch all dies dunkle Leben um mich so voll fühlte wie das Blut unter der eigenen Haut. Dies Gefühl nur empfand ich, daß nichts für mich geschah und doch alles mir zugehörte, dieses seligste Gefühl des durch Anteilslosigkeit tiefsten und wahrsten Erlebens, das zu den lebendigen Quellen meines innern Wesens gehört und mich im Unbekannten immer überfällt wie eine Lust. Da plötzlich, horchend wie ich in der einsamen Gasse stand, gleichsam erwartungsvoll auf irgend etwas, das geschehen müßte, etwas, das mich fortschöbe aus diesem mondsüchtigen Gefühl des Lauschens ins Leere, hörte ich gedämpft durch Ferne oder eine Wand, sehr trübe von irgendwo ein deutsches Lied singen, jenen ganz einfältigen Reigen aus dem »Freischütz«: »Schöner, grüner Jungfernkranz«. Eine Frauenstimme sang ihn, sehr schlecht, aber doch eine deutsche Melodie war es, deutsch hier irgendwo in einem fremden Winkel der Welt und darum brüderlich in einem so eigenen Sinne. Es war von irgendwoher gesungen, aber doch, wie einen Gruß fühlte ichs, seit Wochen das erste heimatliche Wort. Wer, fragte ich mich, spricht hier meine Sprache, wen treibt eine Erinnerung von innen, in verwinkelt-verwilderter Gasse dies arme Lied sich wieder aus dem Herzen zu heben? Ich tastete der Stimme nach, ein Haus nach dem andern von all denen, die halbschlafend hier standen, mit geschlossenen Fensterläden, hinter denen es aber verräterisch blinzelte von Licht und manchmal von einer winkenden Hand. Außen klebten grelle Überschriften, schreiende Plakate, und Ale, Whisky, Bier verhieß hier eine versteckte Bar, aber alles war verschlossen, abweisend und doch wieder einladend. Und dazwischen – ein paar Schritte tönten von fern – immer wieder die Stimme, die jetzt den Refrain heller trillerte und immer näher war: schon erkannte ich das Haus. Einen Augenblick zögerte ich, dann trat ich gegen die innere Tür, die mit weißen Gardinen dicht verhangen war. Da aber, als ich mich entschlossen hinbeugte, ward etwas im Schatten des Flurs jäh lebendig, eine Gestalt, die offenbar eng an die Scheibe gepreßt dort gelauert hatte, zuckte erschrocken auf, ein Gesicht, begossen vom Rot der überhängenden Laterne und doch blaß im Entsetzen, ein Mann starrte mich mit aufgerissenen Augen an, murmelte etwas wie eine Entschuldigung und verschwand im Zwielicht der Gasse. Seltsam war dieser Gruß. Ich sah ihm nach. Etwas schien sich noch im entschwindenden Schatten der Gasse von ihm zu regen, aber undeutlich. Innen klang die Stimme noch immer, heller sogar, wie mirs schien. Das lockte mich. Ich klinkte auf und trat rasch ein. Wie von einem Messer zerschnitten fiel das letzte Wort des Gesanges herab. Und erschrocken spürte ich eine Leere vor mir, eine Feindlichkeit des Schweigens, gleichsam als ob ich was zertrümmert hätte. Mählich erst fand mein Blick sich in der Stube zurecht, die fast leer war, ein Schank und ein Tisch, das ganze offenbar nur Vorgemach zu andern Zimmern rückwärts, die mit halbaufgelehnten Türen, gedämpftem Lampenschein und bereiten Betten ihre eigentliche Bestimmung rasch verrieten. Vorn am Tisch lehnte auf den Ellbogen gestützt ein Mädchen, geschminkt und müd, rückwärts am Schank die Wirtin, beleibt und schmutziggrau mit einem andern nicht unhübschen Mädel. Mein Gruß fiel hart in den Raum, ganz spät kam ein gelangweiltes Echo zurück. Mir wars unbehaglich, so ins Leere getreten zu sein; in ein so gespanntes ödes Schweigen, und gern wäre ich sofort wieder gegangen, doch fand meine Verlegenheit keinen Vorwand, und so setzte ich mich resigniert an den vorderen Tisch. Das Mädel, jetzt sich seiner Pflicht besinnend, fragte mich, was ich zu trinken wünschte, und an ihrem harten Französisch erkannte ich sofort die Deutsche. Ich bestellte ein Bier, sie ging und kam wieder mit jenem schlaffen Gang, der noch mehr Gleichgültigkeit verriet als das Seichte ihrer Augen, die schlaff unter den Lidern glommen wie verlöschende Lichter. Ganz mechanisch stellte sie nach dem Brauch jener Stuben neben das meine ein zweites Glas für sich. Ihr Blick ging, wie sie mir zutrank, leer an mir vorbei: so konnte ich sie betrachten. Ihr Gesicht war eigentlich noch schön und ebenmäßig in den Zügen, aber wie durch eine innere Ermattung maskenhaft und gemein geworden, alles fiel schlaff nieder, die Lider waren schwer, locker das Haar; die Wangen, fleckig von schlechter Schminke und verschwemmt, begannen schon nachzugeben und warfen sich mit breiter Falte bis an den Mund. Auch das Kleid war ganz lässig umgehängt, ausgebrannt die Stimme, rauh von Rauch und Bier. In allem spürte ich einen Menschen, der müde ist und nur aus Gewohnheit, gleichsam fühllos weiterlebt. Mit Befangenheit und Grauen warf ich eine Frage hin. Sie antwortete, ohne mich anzusehen, gleichgültig und stumpf mit kaum bewegten Lippen. Unwillkommen spürte ich mich. Rückwärts gähnte die Wirtin, das andere Mädel saß in einer Ecke und sah her, gleichsam wartend, bis ich sie riefe. Gern wäre ich gegangen, aber alles an mir war schwer, ich saß in dieser satten, schwelenden Luft, dumpf torkelnd wie die Matrosen, gefesselt von Neugier und Grauen; denn diese Gleichgültigkeit war irgendwie aufreizend.
Da plötzlich fuhr ich auf, erschreckt von einem grellen Gelächter neben mir. Und gleichzeitig schwankte die Flamme: am Luftzug spürte ich, daß jemand die Tür hinter meinem Rücken geöffnet haben mußte. »Kommst du schon wieder?« höhnte grell und auf deutsch die Stimme neben mir. »Kriechst du schon wieder ums Haus, du Knauser du? Na, komm nur herein, ich tu dir nichts.«
Ich fuhr herum, zuerst ihr zu, die so grell diesen Gruß schrie, als bräche ihr Feuer aus dem Leib, und dann zur Tür. Und noch ehe sie ganz aufgetan war, erkannte ich die schlotternde Gestalt, erkannte den demütigen Blick dieses Menschen, der vorhin an der Tür gleichsam geklebt hatte. Er hielt den Hut verschüchtert in der Hand wie ein Bettler und zitterte unter dem grellen Gruß, unter dem Lachen, das wie ein Krampf ihre schwere Gestalt mit einem Male zu schüttern schien und von rückwärts, vom Schanktisch, mit raschem Geflüster der Wirtin begleitet wurde.
»Dort setz dich hin, zur Françoise«, herrschte sie den Armen an, als er jetzt mit einem feigen, schlurfenden Schritt näher trat. »Du siehst, ich habe einen Herrn.«
Deutsch schrie sie ihm das zu. Die Wirtin und das Mädel lachten laut, obwohl sie nichts verstehen konnten, aber sie schienen den Gast schon zu kennen.
»Gib ihm Champagner, Françoise, den teuern, eine Flasche«, schrie sie lachend hinüber, und wieder höhnisch zu ihm: »Ists dir zu teuer, so bleib draußen, du elender Knicker. Möchtest mich wohl umsonst anstarren, ich weiß, du möchtest alles umsonst.«
Die lange Gestalt schmolz gleichsam zusammen unter diesem bösen Lachen, der Buckel schob sich schief empor, es war, als wollte das Gesicht sich hündisch verkriechen, und seine Hand zitterte, als er nach der Flasche griff, und verschüttete den Wein im Eingießen. Sein Blick, der immer aufwollte zu ihrem Gesicht, konnte nicht weg vom Boden und tastete dort im Kreise den Kacheln nach. Und jetzt sah ich erst deutlich unter der Lampe dies ausgemergelte Gesicht, zermürbt und fahl, die Haare feucht und dünn auf beinernem Schädel, die Gelenke lose und wie zerbrochen, eine Jämmerlichkeit ohne Kraft und doch nicht ohne Bösartigkeit. Schief, verschoben war alles in ihm und geduckt, und der Blick, den er jetzt einmal hob und gleich wieder erschreckt zurückwarf, gekreuzt von einem bösen Licht.
»Kümmern Sie sich nicht um ihn«, herrschte mich das Mädel auf französisch an und faßte derb meinen Arm, als wollte sie mich herumreißen. »Das ist eine alte Sache zwischen mir und ihm, ist nicht von heute.« Und wieder mit blanken Zähnen, wie zum Bisse bereit, laut zu ihm hinüber: »Horch nur her, du alter Luchs. Möchtest hören, was ich rede. Daß ich eher ins Meer gehe als mit dir, habe ich gesagt.«
Wieder lachten die Wirtin und das andere Mädel, breit und blöde. Es schien ein gewohnter Spaß für sie, ein alltäglicher Scherz. Aber mir wars unheimlich, jetzt zu sehen, wie sich dies andere Mädel plötzlich in falscher Zärtlichkeit an ihn drängte und ihn mit Schmeicheleien abgriff, vor denen er erschauerte ohne den Mut, sie abzuwehren, und ich erschrak, wenn sein Blick im Auftaumeln mich traf, ängstlich verlegen und kriecherisch. Und mir graute vor dem Weib neben mir, das plötzlich aus ihrer Schlaffheit aufgewacht war und so voll Bosheit funkelte, daß ihre Hände zitterten. Ich warf Geld auf den Tisch und wollte fort, aber sie nahm es nicht.
»Geniert er dich, dann werfe ich ihn hinaus, den Hund. Der muß parieren. Nimm noch ein Glas mit mir. Komm!«
Sie drängte sich heran mit einer jähen, fanatischen Art von Zärtlichkeit, von der ich sofort wußte, daß sie nur gespielt war, um jenen anderen zu quälen. Bei jeder dieser Bewegungen sah sie rasch schief hinüber, und es war mir widerwärtig zu sehen, wie bei jeder ihrer Gesten zu mir es in ihm zu zucken begann, als spürte er Brandstahl an seinen Gliedern. Ohne auf sie zu achten, starrte ich einzig ihn an und schauerte, wie etwas jetzt in ihm wuchs von Wut, Zorn, Neid und Gier, und sich doch gleich niederduckte, wandte sie nur den Kopf. Ganz nahe drängte sie sich nun zu mir, ich spürte ihren Körper, der zitterte von der bösen Lust dieses Spiels, und mir graute vor ihrem grellen Gesicht, das nach schlechtem Puder roch, vor dem Dunst ihres mürben Fleisches. Sie von meinem Gesicht abzuwehren, griff ich nach einer Zigarre, und während mein Blick noch den Tisch nach einem Streichholz absuchte, herrschte sie ihn schon an: »Bring Feuer her!«
Ich erschrak mehr noch als er vor dieser gemeinen Zumutung, mich zu bedienen, und mühte mich rasch, mir selbst eines zu finden. Aber schon von ihrem Worte wie mit einer Peitsche aufgeknallt, kam er mit seinen schiefen Schritten torkelnd herüber und legte rasch, als könnte er sich mit einer Berührung des Tisches verbrennen, sein Feuerzeug auf den Tisch. Eine Sekunde kreuzte ich seinen Blick: unendliche Scham lag darin und eine knirschende Erbitterung. Und dieser geknechtete Blick traf den Mann, den Bruder, in mir. Ich fühlte die Erniedrigung durch das Weib und schämte mich mit ihm.
»Ich danke Ihnen sehr«, sagte ich auf deutsch – sie zuckte auf – »Sie hätten sich nicht bemühen müssen.« Dann bot ich ihm die Hand. Ein Zögern, ein langes, dann spürte ich feuchte, knochige Finger und plötzlich krampfartig einen jähen Druck des Dankes. Eine Sekunde leuchteten seine Augen in die meinen, dann duckten sie sich wieder unter die schlaffen Lider. Aus Trotz wollte ich ihn bitten, bei uns Platz zu nehmen, und die einladende Geste mußte wohl schon in meine Hand geglitten sein, denn sie herrschte ihn eilig an: »Setz dich wieder hin und störe hier nicht.«
Da packte mich plötzlich der Ekel vor ihrer ätzenden Stimme und vor dieser Quälerei. Was sollte mir diese verräucherte Spelunke, diese widrige Dirne, dieser Schwachsinnige, dieser Qualm von Bier und Rauch und schlechtem Parfüm? Mich dürstete nach Luft. Ich schob ihr das Geld hin, stand auf und rückte energisch ab, als sie mir schmeichelnd näher kam. Es ekelte mich, mitzuspielen bei dieser Erniedrigung eines Menschen, und deutlich ließ ich durch die Entschlossenheit meiner Abwehr spüren, wie wenig sie mich sinnlich verlocken konnte. Jetzt zuckte ihr Blut bös, eine Falte kroch ihr gemein um den Mund, aber sie hütete sich doch, das Wort auszusprechen, und wandte sich mit einem Ruck unverstellten Hasses gegen ihn, der aber, des Ärgsten gewärtig, eilig und wie gejagt von ihrer Drohung in die Tasche griff und mit zitternden Fingern eine Geldbörse herauszog. Er hatte Angst, jetzt allein mit ihr zu bleiben, das war sichtlich, und in der Hast konnte er die Knoten der Börse nicht gut lösen – eine Börse war es, gestrickt und mit Glasperlen besetzt, wie die Bauern sie tragen und die kleinen Leute. Mühelos war es zu merken, daß er ungewohnt war, Geld rasch auszugeben, sehr im Gegensatz zu den Matrosen, die es mit einem Handschwung aus den klimpernden Taschen hervorholen und auf den Tisch werfen; er mußte offenbar gewohnt sein, sorglich zu zählen und die Münzen zwischen den Fingern zu wägen. »Wie er zittert um seine lieben süßen Pfennige! Gehts zu langsam? Wart!« höhnte sie und trat einen Schritt näher. Er schrak zurück, und sie, als sie sein Erschrecken sah, sagte, die Schultern hochziehend und mit einem unbeschreiblichen Ekel im Blick: »Ich nehm dir nichts, ich spei auf dein Geld. Weiß ja, sie sind gezählt, deine guten Pfennigchen, darf keines zuviel in die Welt. Aber erst« – und sie tippte ihm plötzlich gegen die Brust – »die Papierchen, die du da eingenäht hast, daß sie dir keiner stiehlt!« Und wirklich, wie ein Herzkranker im Krampf sich plötzlich an die Brust greift, so faßte fahl und zitternd seine Hand an eine bestimmte Stelle des Rockes, unwillkürlich tasteten seine Finger dort an das heimliche Nest und fielen dann beruhigt zurück. »Geizhals!« spie sie aus. Aber da flog plötzlich eine Glut in das Gesicht des Gemarterten, er warf die Geldbörse mit einem Ruck dem andern Mädel zu, die erst ausschrie im Schreck, dann hell lachte, und stürmte vorbei an ihr, zur Tür hinaus wie aus einem Brand.
Einen Augenblick stand sie noch aufgerichtet, hell funkelnd in ihrer bösen Wut. Dann fielen die Lider wieder schlaff herab, Mattigkeit bog den Körper aus der Spannung. Alt und müde schien sie in einer Minute zu werden. Etwas Unsicheres und Verlorenes dämpfte den Blick, der mich jetzt traf. Wie eine Trunkene, die aufwacht, dumpf mit dem Gefühl einer Schande stand sie da. »Draußen wird er jammern um sein Geld, vielleicht zur Polizei laufen, wir hätten ihn bestohlen. Und morgen ist er wieder da. Aber mich soll er doch nicht haben. Alle, nur gerade er nicht!«
Sie trat zum Schank, warf Geldstücke hin und stürzte mit einem Schwung ein Glas Branntwein hinunter. Das böse Licht glimmerte wieder in ihren Augen, aber trüb wie unter Tränen von Wut und Scham. Ekel faßte mich vor ihr und zerriß mein Mitleid! »Guten Abend«, sagte ich und ging. »Bon soir«, antwortete die Wirtin. Sie sah sich nicht um und lachte bloß, grell und höhnisch.
Die Gasse, sie war nur Nacht und Himmel, als ich hinaustrat, eine einzige schwüle Dunkelheit mit verwelktem, unendlich fernem Glanz von Mond. Gierig trank ich die laue und doch starke Luft, und das Gefühl des Grauens löste sich in das große Erstaunen vor der Mannigfaltigkeit der Geschicke, und ich spürte wieder – ein Gefühl, das mich selig machen kann bis zu Tränen –, daß immer hinter jeder Fensterscheibe Schicksal wartet, jede Tür sich in Erlebnis auftut, allgegenwärtig das Mannigfaltige dieser Welt ist und selbst der schmutzigste Winkel noch so wimmelnd von schon gestaltetem Erleben wie die Verwesung vom eifrigen Glanz der Käfer. Fern war das Widerliche der Begegnung und das gespannte Gefühl wohltuend gelöst in eine süße Müdigkeit, die sich sehnte, all die Gelebte in schöneren Traum zu verwandeln. Unwillkürlich blickte ich suchend um mich, den Weg nach Hause durch diese Wirrnis verwinkelter Gäßchen zu finden. Da schob sich – unhörbar mußte er nahegetreten sein – ein Schatten an mich heran.
»Verzeihen Sie«, – ich erkannte sogleich die demütige Stimme – »aber ich glaube, Sie finden sich hier nicht zurecht. Darf ich… darf ich Ihnen den Weg weisen? Der Herr wohnt…?«
Ich nannte mein Hotel.
»Ich begleite Sie… Wenn Sie erlauben«, fügte er sogleich demütig hinzu.
Das Grauen faßte mich wieder. Dieser schleichende, gespenstische Schritt an meiner Seite, unhörbar fast und doch hart an mir, das Dunkel der Matrosengasse und die Erinnerung des Erlebten wich allmählich einem traumhaft wirren Gefühl ohne Wertung und Widerstand. Ich spürte die Demut seiner Augen, ohne sie zu sehen, und merkte das Zucken seiner Lippen, ich wußte, daß er mit mir reden wollte, tat aber nichts dafür und nichts dagegen aus der Taumligkeit meines Empfindens, in dem die Neugier des Herzens mit einer körperlichen Benommenheit sich wogend mengte. Er räusperte sich mehrmals, ich merkte den erstickten Ansatz zum Wort, aber irgendeine Grausamkeit, die von diesem Weib geheimnisvoll auf mich übergegangen war, freute sich dieses Ringens der Scham und seelischen Not: ich half ihm nicht, sondern ließ dieses Schweigen schwarz und schwer zwischen uns. Und unsere Schritte klangen, der seine leise schlurfend und alt, der meine mit Absicht stark und rauh, dieser schmutzigen Welt zu entrinnen, wirr zusammen. Immer stärker spürte ich die Spannung zwischen uns: schrill, voll inneren Schreis war dieses Schweigen und schon wie eine übermäßig gespannte Saite, bis er es endlich – und wie entsetzlich zagend zuerst – durchriß mit einem Wort.
»Sie haben… Sie haben… mein Herr… da drinnen eine merkwürdige Szene gesehen… verzeihen Sie… verzeihen Sie, wenn ich noch einmal davon rede… aber sie mußte Ihnen merkwürdig sein… und ich sehr lächerlich… diese Frau… es ist nämlich…«
Er stockte wieder. Etwas würgte ihm dick die Kehle. Dann wurde seine Stimme ganz klein, und er flüsterte hastig: »Diese Frau… es ist nämlich meine Frau.« Ich mußte aufgefahren sein im Erstaunen, denn er sprach hastig weiter, als wollte er sich entschuldigen: »Das heißt… es war meine Frau… vor fünf, vor vier Jahren… in Geratzheim drüben in Hessen, wo ich zu Hause bin… Ich will nicht, Herr, daß Sie schlecht von ihr denken… es ist vielleicht meine Schuld, daß sie so ist. Sie war nicht immer so… Ich… ich habe sie gequält… Ich habe sie genommen, obwohl sie sehr arm war, nicht einmal die Leinwand hatte sie, nichts, gar nichts… und ich bin reich… das heißt, vermögend… nicht reich… oder ich war es wenigstens damals… und, wissen Sie, mein Herr… ich war vielleicht – sie hat recht – sparsam… aber früher war ich es, mein Herr, vor dem Unglück, und ich verfluche es… aber mein Vater war so und die Mutter, alle waren so… und ich habe hart gearbeitet um jeden Pfennig… und sie war leicht, sie hatte gern schöne Sachen… und war doch arm, und ich habe es ihr immer wieder vorgehalten… Ich hätte es nicht tun sollen, ich weiß es jetzt, mein Herr, denn sie ist stolz, sehr stolz… Sie dürfen nicht glauben, daß sie so ist, wie sie sich gibt… das ist Lüge, und sie tut sich selber weh… nur… nur um mir wehe zu tun, um mich zu quälen… und… weil… weil sie sich schämt… Vielleicht ist sie auch schlecht geworden, aber ich… ich glaube es nicht… denn, mein Herr, sie war sehr gut, sehr gut…«
Er wischte sich die Augen und blieb stehen in seiner übermächtigen Erregung. Unwillkürlich blickte ich ihn an, und er schien mir mit einem Male nicht mehr lächerlich, und selbst diese merkwürdige servile Anrede, »mein Herr«, die in Deutschland nur niedern Ständen zu eigen ist, spürte ich nicht mehr. Sein Antlitz war ganz von der inneren Bemühung zum Wort durchbildet, und der Blick starrte, wie er schwer jetzt wieder vorwärts taumelte, starr auf das Pflaster, als läse er dort im schwankenden Lichte mühsam ab, was sich dem Krampf seiner Kehle so quälend entriß.
»Ja, mein Herr«, stieß er jetzt tiefatmend heraus, und mit einer ganz anderen, dunklen Stimme, die irgendwie aus einer weicheren Welt seines Innern kam: »Sie war sehr gut… auch zu mir, sie war sehr dankbar, daß ich sie aus ihrem Elend erlöst hatte… und ich wußte es auch, daß sie dankbar war… aber… ich… wollte es hören… immer wieder… immer wieder… es tat mir gut, diesen Dank zu hören… mein Herr, es war so, so unendlich gut, zu spüren, zu spüren, daß man besser ist… wenn… wenn man doch weiß, daß man der Schlechtere ist… ich hätte all mein Geld dafür gegeben, es immer wieder zu hören… und sie war sehr stolz und wollte es immer weniger, als sie merkte, daß ich ihn forderte, diesen Dank… Darum… nur darum, mein Herr, ließ ich sie immer bitten… nie gab ich freiwillig… es tat mir wohl, daß sie um jedes Kleid, um jedes Band kommen mußte und betteln… drei Jahre habe ich sie so gequält, immer mehr… aber, mein Herr, es war nur, weil ich sie liebte… Ich hatte ihren Stolz gern, und doch wollte ich ihn immer knechten, ich Wahnsinniger, und wenn sie etwas begehrte, so war ich böse… aber, mein Herr, ich war es gar nicht… ich war selig jeder Gelegenheit, sie demütigen zu können, denn… denn ich wußte gar nicht, wie ich sie liebte…«
Wieder stockte er. Ganz torkelnd ging er. Offenbar hatte er mich vergessen. Mechanisch sprach er, wie aus dem Schlaf, mit immer lauterer Stimme.
»Das… das habe ich erst gewußt, wie ich damals… an jenem verfluchten Tag… ich hatte ihr Geld verweigert für ihre Mutter, ganz, ganz wenig… das heißt, ich hatte es schon bereitgelegt, aber ich wollte, daß sie noch einmal käme… noch einmal mich bitten… ja, was sage ich?… ja, damals habe ich es gewußt, als ich abends nach Hause kam und sie fort war und nur ein Zettel auf dem Tisch… ›Behalte dein verfluchtes Geld, ich will nichts mehr von dir‹… das stand darauf, sonst nichts… Herr, ich bin drei Tage, drei Nächte gewesen wie ein Rasender. Den Fluß habe ich absuchen lassen und den Wald, Hunderte habe ich der Polizei gegeben… zu allen Nachbarn bin ich gelaufen, aber sie haben nur gelacht und gehöhnt… Nichts, nichts war zu finden… Endlich hat mir einer Nachricht gesagt vom andern Dor f… er habe sie gesehen… in der Bahn mit einem Soldaten… sie sei nach Berlin gefahren… am selben Tage bin ich ihr nachgereist… ich habe meinen Verdienst gelassen… Tausende habe ich verloren… man hat mich bestohlen, meine Knechte, mein Verwalter, alle, alle… aber, ich schwöre es Ihnen, mein Herr, es war mir gleichgültig… Ich bin in Berlin geblieben, eine Woche hat es gedauert, bis ich sie auffand in diesem Wirbel von Menschen… und bin zu ihr gegangen…« Er atmete schwer.
»Mein Herr, ich schwöre es Ihnen… kein hartes Wort habe ich ihr gesagt… ich habe geweint… auf den Knien bin ich gelegen… ich habe ihr Geld geboten… mein ganzes Vermögen, sie sollte es verwalten, denn damals wußte ich es schon… ich kann nicht leben ohne sie. Ich liebe jedes Haar an ihr… ihren Mund… ihren Leib, alles, alles… und ich bin es ja, ich, der sie hinabgestoßen hat, ich allein… Sie war blaß wie der Tod, als ich hereinkam, plötzlich… ich hatte ihre Wirtin bestochen, eine Kupplerin, ein schlechtes, gemeines Weib… wie der Kalk war sie an der Wand… Sie hörte mich an. Herr, ich glaube, sie war… ja, sie war beinahe froh, mich zu sehen… aber als ich vom Gelde sprach… und ich habe es doch nur getan, ich schwöre es Ihnen, um ihr zu zeigen, daß ich nicht mehr daran denke… da hat sie ausgespien… und dann… weil ich noch immer nicht gehen wollte… da hat sie ihren Liebhaber gerufen, und sie haben mich verlacht… Aber, mein Herr, ich bin immer wiedergekommen, Tag für Tag. Die Hausleute haben mir alles erzählt, ich wußte, daß der Lump sie verlassen hatte und sie in Not war, und da ging ich noch einmal hin… noch einmal, Herr, aber sie fuhr mich an und zerriß einen Schein, den ich heimlich auf den Tisch gelegt hatte, und als ich doch wiederkam, war sie fort… Was habe ich nicht getan, mein Herr, sie wieder auszuforschen! Ein Jahr, ich schwöre es Ihnen, habe ich nicht gelebt, nur immer gespürt, habe Agenturen besoldet, bis ichs endlich erfuhr, daß sie drüben sei in Argentinien… in… in einem schlechten Hause Er zögerte einen Augenblick. Wie ein Röcheln war das letzte Wort. Und dunkler wurde seine Stimme.
Ich erschrak sehr… zuerst… aber dann besann ich mich, daß ich, nur ich es sei, der sie da hinabgestoßen hatte… und ich dachte, wie sehr sie leiden müsse, die Arme… denn stolz ist sie vor allem… Ich ging zu meinem Anwalt, der schrieb an den Konsul und sandte Geld… ohne daß sie erfuhr, wer es gab… nur daß sie zurückkäme. Man telegraphierte mir, daß alles gelungen sei… ich wußte das Schiff… und in Amsterdam wartete ich… drei Tage zu früh war ich gekommen, so brannte ich vor Ungeduld… Endlich kam es, ich war selig, wie nur der Rauch vom Dampfer am Horizont war, und ich glaubte es nicht erwarten zu können, bis er heranfuhr und anlegte, so langsam, langsam, und dann die Passagiere über den Steg kamen und endlich, endlich sie… Ich erkannte sie nicht gleich… sie war anders… geschminkt… und schon so… so, wie Sie es gesehen haben… und wie sie mich warten sah… wurde sie fahl… Zwei Matrosen mußten sie halten, sonst wäre sie vom Steg gefallen… Sobald sie am Land war, trat ich an ihre Seite… ich sagte nichts… meine Kehle war zu… Auch sie sprach nichts… und sah mich nicht an… Der Träger trug das Gepäck voran, wir gingen und gingen… Da plötzlich blieb sie stehen und sagte… Herr, wie sie es sagte… so schmerzend weh tat es mir, so traurig klang es… ›Willst du mich noch immer zu deiner Frau, jetzt auch noch?‹… Ich faßte sie bei der Hand… Sie zitterte, aber sie sagte nichts. Doch ich fühlte, daß nun alles wieder gut war… Herr, wie selig ich war! Ich tanzte wie ein Kind um sie, als ich sie im Zimmer hatte, ich fiel ihr zu Füßen… törichte Dinge muß ich gesagt haben… denn sie lächelte unter Tränen und liebkoste mich… ganz zaghaft natürlich nur… aber, Herr… wie es mir wohltat… mein Herz zerfloß. Ich lief treppauf, treppab, bestellte ein Diner im Hotel… unser Vermählungsmahl… ich half ihr, sich anzuziehen… und wir gingen hinab, wir aßen und tranken und waren fröhlich… Oh, so heiter war sie, ein Kind, so warm und gut, und sie sprach von Hause… und wie wir alles nun wieder besorgen wollten… Da…« Seine Stimme wurde plötzlich rauh, und er machte mit der Hand eine Geste, als ob er jemanden zerbrechen wollte. »Da… da war ein Kellner… ein schlechter, gemeiner Mensch… der glaubte, ich sei trunken, weil ich toll war und tanzte und mich überkollerte beim Lachen… während ich doch nur so glücklich war… oh, so glücklich, und da… als ich bezahlte, gab er mir zwanzig Francs zu wenig zurück… Ich fuhr ihn an und verlangte den Rest… er war verlegen und legte das Goldstück hin… Da… da begann sie auf einmal grell zu lachen… Ich starrte sie an, aber es war ein anderes Gesicht… höhnisch, hart und böse mit einem Male… ›Wie genau du noch immer bist… selbst an unserem Vermählungstag!‹ sagte sie ganz kalt, so scharf, so… mitleidig. Ich erschrak und verfluchte meine Peinlichkeit… ich gab mir Mühe, wieder zu lachen… aber ihre Heiterkeit war fort… war tot… Sie verlangte ein eigenes Zimmer… was hätte ich ihr nicht gewährt… und ich lag allein die Nacht und sann nur nach, was ihr kaufen am nächsten Morgen… sie beschenken… ihr zeigen, daß ich nicht geizig sei… nie mehr gegen sie. Und am Morgen ging ich aus, ein Armband kaufte ich, ganz früh, und wie ich in ihr Zimmer trat… da war… da war es leer… ganz wie damals. Und ich wußte, auf dem Tisch würde ein Zettel liegen… ich lief fort und betete zu Gott, es möge nicht wahr sein… aber… aber… er lag doch dort… Und darauf stand…«
Er zögerte. Unwillkürlich war ich stehen geblieben und sah ihn an. Er duckte den Kopf. Dann flüsterte er heiser:
»Es stand darauf… ›Laß mich in Frieden. Du bist mir widerlich –‹«
Wir waren beim Hafen angelangt, und plötzlich rauschte in das Schweigen der grollende Atem der nahen Brandung. Mit blinkenden Augen, wie große schwarze Tiere lagen die Schiffe da, nah und ferne, und von irgendwo kam Gesang. Nichts war deutlich und doch vieles zu fühlen, ein ungeheurer Schlaf und der schwere Traum einer starken Stadt. Neben mir spürte ich den Schatten dieses Menschen, er zuckte gespenstisch vor meinen Füßen, floß bald auseinander, bald kroch er zusammen im wandelnden Licht der trüben Laternen. Ich vermochte nichts zu sagen, nicht Trost und hatte keine Frage, spürte aber sein Schweigen an mir kleben, lastend und dumpf. Da faßte er mich plötzlich zitternd am Arm.
»Aber ich gehe nicht fort von hier ohne sie… Nach Monaten habe ich sie wiedergefunden… Sie martert mich, aber ich will nicht müde werden… Ich beschwöre Sie, mein Herr, reden Sie mit ihr… Ich muß sie haben, sagen Sie es ihr… mich hört sie nicht… Ich kann nicht mehr so leben… Ich kann es nicht mehr sehen, wie Männer zu ihr gehen… und draußen warten vor dem Haus, bis sie wieder herunterkommen… lachend und trunken… Die ganze Gasse kennt mich schon… sie lachen, wenn sie mich warten sehen… wahnsinnig werde ich davon… und doch jeden Abend stehe ich wieder dort… Mein Herr, ich beschwöre Sie… sprechen Sie mit ihr… ich kenne Sie ja nicht, aber tun Sie es um Gottes Barmherzigkeit… sprechen Sie mit ihr…«
Unwillkürlich wollte ich meinen Arm befreien. Mir graute. Aber er, wie ers spürte, daß ich mich gegen sein Unglück wehrte, fiel plötzlich mitten auf der Straße in die Knie und faßte meine Füße.
»Ich beschwöre Sie, mein Herr… Sie müssen mit ihr sprechen… Sie müssen… sonst… sonst geschieht etwas Furchtbares… Ich habe mein ganzes Geld verbraucht, sie zu suchen, und ich lasse sie nicht hier… nicht lebendig… Ich habe mir ein Messer gekauft… Ich habe ein Messer, mein Herr… Ich lasse sie hier nicht mehr… nicht lebendig… ich ertrage es nicht… Sprechen Sie mit ihr, mein Herr…«
Er wälzte sich wie rasend vor mir. In diesem Augenblick kamen zwei Polizisten die Straße her. Ich riß ihn mit Gewalt auf. Einen Augenblick starrte er mich entgeistert an. Dann sagte er mit ganz fremder, trockener Stimme: »Die Gasse dort biegen Sie ein. Dann sind Sie bei Ihrem Hotel.« Einmal noch starrte er mich an mit Augen, in denen die Pupillen zerschmolzen schienen in ein grauenhaft Weißes und Leeres. Dann verschwand er.
Ich wickelte mich in meinen Mantel. Mich fröstelte. Nur Müdigkeit spürte ich, eine wirre Trunkenheit, gefühllos und schwarz, einen wandelnden, purpurnen Schlaf. Ich wollte etwas denken und all das besinnen, aber immer hob sich diese schwarze Welle von Müdigkeit aus mir und riß mich mit. Ich tastete ins Hotel, fiel hin ins Bett und schlief dumpf wie ein Tier.
Am nächsten Morgen wußte ich nicht mehr, was davon Traum oder Erlebnis war, und irgend etwas in mir wehrte sich dagegen, es zu wissen. Spät war ich erwacht, fremd in fremder Stadt, und ging eine Kirche zu besehen, in der antike Mosaiken von großem Ruhme sein sollten. Aber meine Augen starrten sie leer an, immer deutlicher stieg die Begegnung der vergangenen Nacht auf, und ohne Widerstand triebs mich weg, ich suchte die Gasse und das Haus. Aber diese seltsamen Gassen leben nur des Nachts, am Tage tragen sie graue, kalte Masken, unter denen nur der Vertraute sie erkennt. Ich fand sie nicht, so sehr ich suchte. Müde und enttäuscht kam ich heim, verfolgt von den Bildern des Wahns oder der Erinnerung.
Um neun Uhr abends ging mein Zug. Mit Bedauern ließ ich die Stadt. Ein Träger hob mein Gepäck und trug es vor mir her dem Bahnhof zu. Da plötzlich, an einer Kreuzung, riß michs herum; ich erkannte die Quergasse, die zu jenem Hause führte, hieß den Träger warten und ging – während er zuerst erstaunt und dann frech-vertraulich lachte – noch einen Blick zu tun in diese Gasse des Abenteuers.
Dunkel lag sie da, dunkel wie damals, und im matten Mond sah ich die Türscheibe jenes Hauses glänzen. Noch einmal wollte ich näher treten, da raschelte eine Gestalt aus dem Dunkel. Schauernd erkannte ich ihn, der dort auf der Schwelle hockte und mir winkte, ich möge näher kommen. Doch ein Grauen faßte mich, ich flüchtete rasch fort, aus der feigen Angst, hier verstrickt zu werden und meinen Zug zu versäumen.
Aber dann, an der Ecke, ehe ich mich wandte, sah ich noch einmal zurück. Als mein Blick ihn traf, gab er sich einen Ruck, raffte sich auf und sprang gegen die Tür. Metall blitzte in seiner Hand, da er sie jetzt eilig aufriß: ich konnte aus der Ferne nicht unterscheiden, ob es Geld war oder das Messer, das im Mondlicht zwischen seinen Fingern verräterisch glitzerte…
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Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.