Anmerkungen zu Balzac


Belletristisch literarische Beilage der Hamburger Nachrichten 1906, S. 3-4


Eine sehr löbliche Tat ist zu vermelden. Ein junger Verlag Franz Ledermann hat sich an ein schweres Werk gewagt, an eine Übertragung Honoré de Balzacs, des Napoleons der französischen Literatur. Vorläufig ist die Ausgabe auf zehn Bände geplant, damit aber schon die gute Idee vom künstlerischen Standpunkte aus verfahren (hoffentlich nicht auch vom buchhändlerischen). Denn das Werk Balzacs ist kein Konglomerat, sondern ein Komplex. Balzac durch zehn Bände vertreten zu lassen, das ist ein so fadenscheiniges und doch prätentiöses Beginnen, als wollte man über Balzac definitiv in einem Essay sprechen, über ihn, der Anfang und Ende, Ausgang und Rückkehr nicht nur der französischen Romanliteratur ist. Über ihn, für den ein Buch kaum genügte. Was man bei solchem Anlaß über ihn sagen darf, können nur Anmerkungen sein, gewissermaßen an den Rand seiner Werke hingeschrieben, Ausrufungszeichen und Interjektionen und ab und zu ein bescheidenes Fragezeichen. Aber immer nur etwas Fragmentarisches, Losgelöstes – Anmerkungen, Impressionen. Wie könnte man gründlich sein wollen gegenüber einem Unergründlichen!


Vor allem, womit sollte man Balzac in zehn Bänden dem deutschen Publikum vorstellen? Mit den Meisterwerken natürlich! Nun ist aber dies peinlich, daß Balzac – außer dem Meisterwerke seines Lebens, den siebenundachtzig Bänden seines Gesamtwerkes – kein Meisterwerk geschaffen hat. Ein, zweimal vielleicht, in ganz kurzen Novellen – ›Une passion dans le desert‹ und einigen der ›Contes drolatiques‹ – ist er der Vollendung nahegekommen, in jenen engen Grenzen, wo sich seine verstiegene Architektonik nicht ausleben konnte und er wie spielend kleine Bijous formte. Alle anderen Werke hat sein glühendes Temperament vernichtet, jene fieberhafte Schaffensglut, die ihn oft achtzehn Stunden ununterbrochen mit halluzinativ überhitztem Gehirn am Schreibtisch arbeiten ließ. Nahrung nahm er in solchen Tagen kaum zu sich und nur das Stigma eines dampfenden schwarzen Kaffees feuerte den Kessel seiner Schaffenswut. Alle seine Romane haben ein wunderbares Fundament, breite sorgfältig behauene Quadern wie die Florentiner Paläste. Ein Riesenbau will aufwärts streben. Die Gestalten sind minutiös beschrieben, die Situationen werden mit überlegener Ruhe gestellt und die Schicksale bewegen sich in sicherem Gang gegeneinander. Aber wilder wird ihr Drängen, je näher sie sich treten. Zu einem dichten Knäuel wühlen sie sich zusammen, fiebrige Verwirrung stößt diesen Ballen hin und her, bis die ermüdete Faust des Dichters sie mit einem letzten verzweifelten Schlag auseinanderschlägt. Der Beginn ist Kunst, das Ende Kolportage. Der Dichter Balzac setzt ein, der von Schuldnern gehetzte, unruhige Schriftsteller Balzac macht um jeden Preis ein Ende, um den Roman dem Verleger abgeben zu können. Wie ein Weber knüpft er sorgfältig die Fäden zusammen, wie ein hitziger Schuljunge zerreißt er den Knäuel. Ich habe nur einmal in der Nationalbibliothek in Paris ein Manuskript von Balzac zur Hand genommen und selbst in den Schriftzügen die Bestätigung gefunden. Der Anfang des Romanes hat feine, ruhige, beinahe klare Lettern – soweit dies bei Balzacs zierlicher Frauenschrift möglich war –, der Schluß aber hastet schief und krumm durch den Spreu von Klecksen unwillig zu Ende. Wie immer im Talente tränkt die Quelle der größten Vorzüge auch die geheime Kraft der Fehler. Bei Balzac war es das Temperament, dieser Vulkan von Glut, der Licht und Feuer über den erschreckten Himmel gießend mit wunderbarer Schönheit die Gegend erhellt, um sie im nächsten Augenblicke unter starrer Lavaflut zu begraben.


Und noch ein Grund, weshalb eine Auswahl von Balzacs Romanen immer fragmentarisch wirken muß. Alle seine Werke fast – die ›Comédie humaine‹ – sind so ineinander verkettet, daß sie sich nur durch einander ganz erklären. Balzac war wie alle, die sich mühten, das Leben in seiner höchsten Fülle darzustellen, kein Schilderer, sondern ein Vereinfacher des Lebens. Er komprimiert vorerst die ganze Welt in Paris. Dann die Gesellschaft in drei Salons. Und die ganze Menschheit in ein paar Typen, in gleichsam versteinerte Formen abstrakter Eigenschaften. Er, der reichste Schöpfer des modernen Romanes, verschwendete sich nicht an die unwichtige Einzelerscheinung, sondern löste hundert Menschen, die er kannte und die sich in einem gewissen Sinn ähnlich waren, in das Prototyp auf. Er braucht nicht viele Ärzte: überall, wo ein Gelehrter nötig ist, erscheint Bianchon, bald als Student, bald als Professor, als Causeur. So ist Rastignac in jedem seiner Romane der Aristokrat des Salons, Canalis der Dichter, Lucien de Rubempré der Journalist – dieselben Menschen begegnen sich auf den Schwellen aller seiner Romane. Nur daß jeder Typ in jedem Romane wieder nur Bruchstück ist. Wer versteht Rastignac in den ›Illusions perdues‹, den utilitaristischen rücksichtslosen Gecken ohne Gemüt, den Arrivé, wenn er nicht sah, wie Rastignac, der junge Student, gläubig, gutmütig, ehrlich nach Paris (id est – in die Welt) trat und erst in der Tragödie des ›Père Goriot‹ lernte, daß man »Männer und Frauen nicht anders bewerten dürfe als ein paar Postpferde, die man eventuell an der nächsten Relaisstelle krepieren läßt, nur um rascher zum Ziel zu kommen«. Balzacs Gestalten erschöpfen sich nicht in einem Roman, wie etwa in unseren neueren deutschen Romanen, die den Helden aus den Händen der Hebamme bis ins Grab tragen. Sein Entwicklungsroman ist die ›Comédie humaine‹, das Werk mit zwanzig Bänden und sein Held nicht einer der Menschen, sondern das Leben, das sie gegeneinander wirft. Und da keiner das Leben zu Ende dichtet, muß jedes Epos, das sich an ihm versucht, Torso bleiben, Fragment aus tausend Fragmenten.


Was sind nun diese Menschen des Balzac? Sind sie Schemen oder Gestalten, Charaktere oder nur Typen? Gleich sind sie sich nur in einer Fraktur: in der Leidenschaft. Balzac interessierten nur bewegte Schicksale, intensive Merkmale. Details, so peinlich er sie auch empfand, waren ihm nur Farben auf der Palette, Instrument, nicht Melodie. Flaue Menschen hat er nie geliebt. Er, der – in der ›Histoire de treize‹ glaube ich – jeder Gasse eine menschliche Physiognomie unterschiebt, der in einem Hause einen Charakter, in einem Tiere eine Spezies entdeckte, liebte es, jeden Menschen markant, und zwar einseitig markant, zu sehen, in seiner Leidenschaft. Ehe die Menschen in seine Bücher treten, sind sie fast alle gleich, schwärmerische, zarte, idealische Dinge aus weichem Stoff. Nun nimmt er sie in die Faust. Um jeden legt er ein Schicksal, das ihm seine Leidenschaft formt. Und wie sie sich nun in den Salons, in den Straßen, in der Arena des Lebens begegnen, sind sie sich fremd, sie wühlen gegeneinander und werden sich selbst Schicksal. Von diesen Leidenschaften ist aber die Liebe nur eine und nicht die stärkste. Ist die Gier, mit der im ›Cousin Pons‹ die beiden Gestalten ihre Gemälde sammeln, nicht so heftig, wie jene wahnwitzige Liebe des alten Baron Uncingen, der sein Vermögen an eine Dirne verschwendet? Ist der Wahn des Erfinders, der Baltasar Claes vernichtet, nicht so urgewaltig wie die Kindesliebe des Père Goriot, der sein Leben seinen Töchtern verschreibt? Und der Haß gegen die Gesellschaft Vautrins, des Galeerensträflings, der in zwanzig Masken durch die Bücher Balzacs geht, die Eitelkeit Rastignacs, die Niedertracht Delphines, der Geiz Madame Vaugners, die Güte Schnuches – sind sie sich nicht ähnlich in der Glut ihrer Leidenschaft, wie geschmolzene Metalle? Von allen Dichtern hat keiner die formende Gewalt des Schicksals mehr betont als Balzac, keiner mehr die Theorie der angeborenen Leidenschaften verworfen. Die Dämonie der Leidenschaft ist es allein, die Tragik erzeugt, Leidenschaft aber, die so stark ist, daß sie alle Geschwister ihres Gefühls so rücksichtslos erdrosselt, wie Bonaparte die tüchtigen Generäle an seiner Seite zerschmetterte, um Napoleon zu werden. Da aber solche übermäßige Leidenschaft kein Gleichgewicht duldet, so entsteht auf der Fläche, die gewissermaßen die Szene des Romans darstellt, ein jähes Gleiten nach abwärts, eine Katastrophe. Fast alle Romane Balzacs enden in Katastrophen, in jähen, mit aller Skrupellosigkeit des äußeren Motivs herbeigeführten Abstürzen.


Eine bunte Armee, die Gestalten Balzacs. Der Galeerensträfling neben dem Roué, der Gelehrte neben dem Concierge, der Offizier neben dem Gesellschaftsstreber – alle gehen sie den gleichen Weg, ohne Parole, ohne Ziel. Die Menschen Balzacs kommen nach Paris – in die Welt. Eines Abends sehen sie ein Palais im Glanz, ein elegantes Phaëton, das, eine träumerische schöne Dame tragend, gegen den Bois lenkt. Und alle haben sie den gleichen Gedanken: für dich dieses Haus, diese Frau, Paris, die Welt! Alle seine Helden wollen die Welt erobern. Und nun gehen sie hartnäckig ihren Weg. Der durch den Seziersaal, jahrelang in Studien sich verwühlend, der andere durch das Schlafzimmer einer schönen Kokotte, der dritte durch die Schlachten, der vierte durch die Salons, der fünfte sucht den Stein der Weisen. Einer, zwei vielleicht – Rastignac der skrupellose Streber – gelangen hin, die anderen stürzen ab, zerbrechen aneinander, am Leben. Das sind die Tragödien des Balzac. Dadurch, daß er alle Möglichkeiten menschlicher Tätigkeiten und Charaktereigenheiten mit einer bisher nicht wieder erreichten Exaktheit gegen ein Ziel gewendet hat, ist es ihm wirklich gelungen, wie Taine in seinem berühmten Essay sagt, »mit Shakespeare und St. Simon das größte Magazin menschlicher Dokumente zu vereinigen«. Es ist eine Arbeit, die kaum ihresgleichen in der Weltliteratur hat. Aber Honoré de Balzac hatte unter das Bild Napoleons die Worte geschrieben: »Ce qu’il n’a pu achever par l’épée, je l’accomplirai par la plume.«


Einen Blick zwischendurch auf das Leben Balzacs. Wie hat dieser Dichter sich eine so ungeheure Kenntnis der Menschen und des Lebens aneignen können? Die Wirklichkeit verwirrt dieses Rätsel noch mehr, statt es zu erklären. Er hat das Leben kaum gekannt, nur zwei, drei Jahre sich in der Welt umgesehen. In einer Dachkammer schreibt er in seinen jungen Jahren Meisterwerke. Dann faßt ihn das Fieber nach dem Geld, denn für ihn war Geld das Leben; er hatte in sich die Fähigkeiten, Millionen zu erwerben und noch mehr, sie zu verschwenden. Seine Druckerei, seine Spekulationen ruinieren ihn. Schulden haften wie Blei an ihm. Da beginnt er wieder zu schreiben, fieberhaft, Tag und Nacht. Aber die Schulden bleiben. Geld, Geld, Geld – immer der gleiche Gedanke. Um Mitternacht steht er auf und schuftet bis wieder in die Nacht hinein, ist berühmt, ohne es recht zu merken. Phantastische Projekte, wie sie nur die Helden seiner Romane haben, verlocken ihn von Zeit zu Zeit. Er will die sardinischen Minen, die seit den Römerzeiten verlassen sind, in Betrieb setzen, er plant einen großen Börsenwurf, versucht zu entdecken – aber von alledem bleiben immer nur Schulden. Das Manuskript ist verkauft, ehe es noch beschrieben ist: er hetzt es herunter, um ein neues zu beginnen. Endlich birst die überhitzte Maschine, viel zu früh bricht der Koloß zusammen, ohne je Zeit gehabt zu haben, ein Werk nach seinem Willen zu schaffen.


Er hat also fast gar nichts erlebt. Selbst die Liebesverhältnisse, die er hatte, waren mehr Literatur als Leben. Sie alle knüpften sich an eine vorausgegangene Korrespondenz; Balzac, der größte Illusionist der modernen Schriftsteller, konnte sich die Frau ebenso erträumen, wie er in den Vermögen seiner Helden wühlte, wie er in seinen Büchern Paris unzähligemal eroberte. Sicherlich hatte er einen geradezu sinnlichen Reiz, wenn er das Wort »Hunderttausend Livres Rente« hinschrieb, etwa wie ihn ein Gymnasiast erlebt, wenn er das Wort Liebe in seinen Gedichten stammelt. Abgeschieden von der Wirklichkeit, fiebernd an seinem Schreibtisch mußten seine Personen, mit denen er schaffend zusammenlebte, für ihn Wirklichkeit werden. Es ist jene künstlerische Halluzination, die der pathologischen so nahe ist – Flaubert hat darüber einen unvergänglichen Brief als Antwort auf Taines Enquête geschrieben – jene Halluzination, die allein den Dichter zur Plastik befähigt, weil sie ihn nicht aus Begriffen, sondern aus für ihn reellen Gestalten formen läßt. Taine schreibt sehr treffend über diesen Zustand ein paar Zeilen, die fast anmuten, als hätte er noch Machs Analyse der Empfindungen lesen können. »Les êtres imaginaires ne naissent, n’existent et n’agissent qu’aux mêmes conditions que les êtres réels. Ils naissent de l’agglomération systématique d’une infinité des causes.« Sie haben also eigentlich, wenn sie suggestiv sind, den gleichen Wirklichkeitswert wie die tatsächliche Erscheinung. Dies allein kann das Leben des Balzac erklären. Nur dadurch, daß sich dieser lebenshungrige, vom Willen nach Macht beinahe verwirrte Mensch jenseits des Lebens eigene Welten schuf und seiner eigenen Schöpfungen Glück und Unglück in den furchtbarsten Erschütterungen mitlebte, war sein Leben erfüllt, seine Leidenschaften gelöst.


Vom äußeren Leben hat er vehement nur die eine Tatsache empfunden: daß er verschuldet war. Daran dachte er in dem Augenblicke, wo er ein Blatt beschrieb, rechnete noch im Entstehen sein Schaffen schon in Francs um; so ist es nicht verwunderlich, wenn diese Idee des Geldes auch seine Helden und Bücher beherrscht. Damit hat Balzac dem modernen Roman eine neue Welt eröffnet. In großen Epopöen und in kleinen, wie ein Blitzlicht hinhuschenden Augenblicken hat er die Gefühle gefaßt, die ans Geld geklammert sind als an das Symbol des Besitzes. Zum erstenmal finden die materialistischen Gefühle ihren Dichter: Balzac weist nach, daß es für einen jungen Mann gleich schmerzlich ist, einer Dame einen Wagen verweigern zu müssen, weil man keine fünf Francs in der Tasche hat, als ihn zu verweigern aus Eifersucht, aus Trotz, aus Eitelkeit oder irgendwelchem abstrakten Motiv. Alle seine Helden rechnen. Sie wissen, was sie das kostet, ihren Engel zu sehen: eine Schneiderrechnung, die ihr Jahreseinkommen übersteigt, einen Wagen, eine Rose, ein elegantes Hemd, ein Trinkgeld an den Diener. Sie wissen, was es für eine Katastrophe ist, in eine vornehme Loge eingeladen zu sein und einen alten Frack zu haben. Dies beschäftigt sie mindestens so wie ihre verliebten Sorgen, und mit der Schilderung dieser peinlichen Tragödien hat Balzac eine unendliche Fülle von Wahrheit und Lebensstoff dem modernen Roman zugeführt. Diese kleinen Episoden – Erinnerungen aus seiner eigenen Jugend vielleicht – reizen ihn jedoch nur. Aber Balzac berauscht sich in der Darstellung der großen Börsenoperationen, die mit einem unsäglichen Raffinement ausgedacht sind (man vergleiche nur als Gegenbeispiel die kindische Art, mit der der Graf von Monte Christo im ungefähr gleichzeitigen Roman des Dumas père 300.000 Francs gewinnt). Wie Armeelieferanten, Bäcker, Bürokraten, Spekulanten in den Umsturzzeiten der Revolution bis zur Restauration sich Vermögen schaffen, wie die Arrivisten es den Besitzern wieder entreißen, dieses gierige blinkende Auf und Ab des Geldes, dieses Einströmen und Zerrinnen hat Balzac geradezu mit wollüstiger Glut geschildert; ganz verwirrt oft von dem Gedanken der Unerschöpflichkeit schleudert er Summen und Unsummen von Hand zu Hand, Millionenvermögen brechen wie ein Ungewitter über Bettler herein, Kapitale zerrinnen wie Quecksilber, wenn einen die Leidenschaft der Vergeudung packt. In Riesendimensionen offenbart sich ihm da Paris, keuchend und dampfend im Kessel der Gelüste, wie Dantes Verfluchte windet sich die ganze Menschheit in einem eigenen, zehrenden Gedanken: Geld, viel Geld, Kapitale, Summen, Millionen… Milliarden…


Aber ist für Balzac dieser Wille nach Macht schon die Philosophie des Lebens? Balzac hat wahrscheinlich gar keine Philosophie gehabt, weil er sie alle in sich lebte. Mit jenem immensen Projektionsvermögen, das ja die innerste Wurzel seines Genies ist, hat er sicherlich in den Augenblicken, da er seine Kreaturen sprechen und denken ließ, selbst ihre Ansicht als die unumstößliche empfunden. Er war Nihilist (in ›Trompe la Mort‹, dem Galeerensträfling) lange vor dem Wort, Arrivist und Opportunist (Rastignac), Altruist (Goriot und zahllose andere Figuren), Materialist (Bianchon), Positivist und was es überhaupt noch gibt an philosophischen Spezies. An Galls Phrenologie, wie überhaupt an den gleichzeitigen biologischen und chemischen Theorien hat er immensen Anteil genommen, alle Möglichkeiten des Denkens mit der geradezu unheimlichen Rapidität seines Intellekts aufgesogen und verarbeitet. Dann strömte alles hervor, wenn er schrieb, ein Sprudel quellender Paradoxe, funkelnder Wahrheiten, geistreicher Aperçus, die sich leichtfertig zu Axiomen erweiterten, ohne daß sich seine hastige Art andererseits Mühe nahm, diese Axiome zu Gesetzen zu verarbeiten oder gar als Grundlinien eines Weltbildes zu fundieren. Er selbst scheint indifferent, ein Fatalist seiner Seele. Nur eine heimliche Meinung, wie eine verschämte Liebschaft, hat ihn der Mystik angenähert; er, der klarer sah als alle anderen, fühlte sich verwirrt von der Unermeßlichkeit und sehnte sich nach einem Sinn. Zwei ganz merkwürdige, von Swedenborg inspirierte Novellen ›Louis Lambert‹ und ›Seraphita‹ stehen abseits von seinem Werk, so abseits fast, als kämen sie aus seinem Leben. Dort – wie in der ›Messe des Atheisten‹ der Freigeist heimlich in die Kirche schleicht – hat er viel von seinem innersten Glauben vergraben, aber zu tief, als daß man es je blank ans Licht bringen könnte. Dort allein glüht jener visionäre, aus tausend Himmeln erschreckt auf der Erde erwachende Blick des Balzac, wie ihn Rodin in seinem Standbilde versuchte, wieder in sich selbst zurück. Und dort hat er, der uns unbarmherzig tausend fremde Leben, von der Schale befreit, im rotglühenden Kerne geheimsten Wesens zeigte, die innerste Glut seines eigenen Seins mit dem gleichen ehernen Griff verschlossen.

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