Zu Goethes Gedichten


Essay zu Goethes Gedichten, Reclam-Verlag Leipzig (1926, 1927)


Das erste Gedicht Goethes malt die ungelenke Kinderhand des Achtjährigen auf ein Geburtstagsblatt für die Großeltern. Das letzte Gedicht Goethes schreibt die zweiundachtzigjährige Greisenhand, einige hundert Stunden vor seinem Tode. Innerhalb so patriarchalischer Weite des Lebens schwebt unwandelbar die Aura der Dichtung über diesem unermüdlichen Haupt. Es gibt kein Jahr, in manchem Jahr keinen Monat, in manchem Monat keinen Tag, wo dieser einzige Mensch sich das Wunder seines Wesens nicht selbst in gebundener Rede erläutert und bekräftigt hätte.


Mit dem ersten Federzug beginnt also bei Goethe die lyrische Produktion, um erst mit dem letzten Atemzug zu enden: Dichtung ist ihm ebenso unentbehrlich und selbstverständlich für die ständige Interpretation seines Lebens wie Strahlung dem Licht und Wachstum dem Baum. Sie wird durchaus organischer Vorgang, eine Funktion des Elements Goethes, eine nicht wegdenkbare, und fast wagt man nicht, sie Tätigkeit zu benennen, weil Tun schon etwas an den Willen Gebundenes ausdrückt, indes sich bei dieser notwendig schaffenden Natur die dichterische Reaktion gegen den Andrang des Gefühles gleichsam chemisch und bluthaft vollzieht. Der Übergang von der prosaischen Sprache ins gereimte und dichterische Wort geschieht bei ihm völlig zwanglos: mitten im Brief, im Drama, in der Novelle rauscht die Prosa plötzlich beflügelt in die ungebundene Form dieser höheren Gebundenheit. Jede Leidenschaft schwebt in ihr hoch, jedes Gefühl löst sich auf in ihren Sphären. Kaum wird man darum in der ganzen fülligen Breite seiner Existenz irgendeinem wesentlichen Geschehnis des Menschen ohne poetische Verdichtung begegnen. Denn wie selten das Gedicht bei Goethe ohne Erlebnis, so auch selten ein Erlebnis ohne den goldenen Schatten des Gedichtes.


Manchmal hat dies lyrische Strömen Stockungen und Störungen wie ein Körper seine Müdigkeiten. Doch nie lischt das Lyrische bei Goethe vollkommen aus. In den späteren Augenblicken seines Daseins glaubt man oft schon die von innen aufspringende Quelle unter der Dumpfheit des Lebens erstickt, vom Schutt der Gewöhnung versandet. Aber plötzlich sprengt ein Erlebnis, eine Explosion des Gefühles neue Quellen auf – aus anderer Tiefe, gleichsam aus anderen, verjüngten Adern beginnen die Verse neu zu strömen, das lyrische Wort kehrt nicht nur wieder, sondern – wunderbar! – mit einer anderen, noch unbekannten Melodie. Denn jede seiner Neugeburten, seiner Verwandlungen verwandelt auch seine innere Musik, an jeder Gärung des Blutes kühlt und keltert sich das Goethesche Gedicht zu neuem Arom – immer anders, immer dasselbe nach seinem eigenen Spruche: »Und so spalt’ ich mich, ihr Lieben, und bin immerfort der Eine.«


Diese Ausdauer des lyrischen Geistes auf höchster Stufe der Steigerung und Spannkraft ist einzig bei diesem Dichter: die Weltliteratur hat nichts an Kontinuität wie an Intensität dieser Fülle zur Seite zu stellen. Nur ein anderer Trieb in ihm selbst ist gleich dauerhaft und jede wache Stunde bemeisternd: die Leidenschaft, das Geistige durch Gedanken zu binden, wie im Gedichte das Erlebte durch Formen. Beides sind Resultanten desselben Willens, das zugeteilte Leben in Gestalt und Gedanken zu verwandeln und die Summe des Lebens durch schaffende Ordnung zu erhöhen. Wie die Ströme des Paradieses aus dem gleichen Urgründe des Seins bis an die Enden der Welt, so rauschen diese beiden Ströme aus der Tiefe seiner Innerlichkeit seine ganze Existenz entlang: ihre Bindung und beharrliche Gleichzeitigkeit bildet das Geheimnis seiner Einzigkeit.


Großartig darum alle Augenblicke, wo diese beiden Hauptmanifestationen seines Lebens, wo Goethe, der Dichter, und Goethe, der Denker, sich durchdringen, wo Geist und Gefühl sich vollkommen ineinander lösen. Berühren sich diese Welten hoch oben in ihren Wipfeln, so entstehen jene gewichtigen Gedichte orphischer Tönung, die sowohl zum höchsten Gedankenwerk der Menschheit als zu dem lyrischen Reiche gehören; berühren sie sich aber tief in den Wurzeln ihres Ursprunges, so formen sie die vollkommensten Bindungen von Sprache und Geist, ›Faust‹ oder ›Pandora‹, Gedichte über allen Gedichten: das Weltgedicht.


Eine solche allseitige Ausbreitung der lyrischen Sphäre erfordert naturgemäß auch eine wahrhaft welthafte Fülle des lyrischen Ausdruckes. Goethe hat sie sich und uns innerhalb der deutschen Sprache erschaffen – fast möchte man sagen, aus dem Nichts. Der lyrische Fundus, den er von seinen Vorgängern übernimmt, ist abgenutzt, verstaubt, verblichen und nur eng auf bestimmte Trachten und Figuren der Dichtkunst zugeschnitten. Professoraldidaktisch sind die Stile des Gedichtes abgeteilt nach Anlaß und Herkunft – aus romanischer Sprachwelt hat die deutsche das Sonett sich geborgt, von der Antike den Hexameter und die Ode, von den Engländern die Ballade, und aus eigenem kaum mehr als die lockere Strophik des Volksliedes dazu gegeben. Goethe, der Strömende, dem Stoff und Form, Gehalt und Gefäß »Kern und Schale«, lebendige Einheit bedeuten, bemächtigt sich raschen Zugriffes all dieser Formen, füllt sie aus, ohne aber das Übermaß seines Ausbruches in ihnen ganz erfüllen zu können. Denn alles Eingeschränkte wird seiner schöpferischen Wandelbarkeit zu eng, alles Umschlossene zu kerkerhaft für den Überdrang seiner sprachlichen Gewalt. So entflieht er den gebundenen Formen ungeduldig in eine höhere Freiheit:


»Zugemessene Rhythmen reizen freilich,
Das Talent erfreut sich wohl darin,
Doch wie schnelle widern sie, abscheulich
Hohle Masken, ohne Blut und Sinn.
Selbst der Geist erscheint sich nicht erfreulich,
Wenn er nicht, auf neue Form bedacht,
Jener toten Form ein Ende macht.«


Diese »neue Form« des Goetheschen Gedichtes aber ist selbst wiederum keine einmalige, keine starr bestimmbare. Alle Formen aller Zeiten und Zonen zieht sein impulsiver Sprachdrang neugierig an sich, in jeder sich versuchend, an keiner sich genügend – vom hexametrischen Langzeiler bis zur kurzen, fast hüpfenden Form des Stabreimes, vom knorrigen Knüppelreim des Hans Sachsischen Gedichtes bis zum frei fließenden Pindarschen Hymnus, von der persischen Makame bis zum chinesischen Sinnspruch durchspielt und überspielt er alle bestehenden Metren mit seiner allumfassenden panischen Sprachgewalt. Und nicht genug daran, er schafft Hunderte neue Formen inmitten des deutschen Gedichtes, namenlose und unbenennbare, gesetzmäßige und nicht zu wiederholende, einzig nur ihm sich verdankende, deren souveräne Kühnheit auch unsere jüngste Generation nicht wesentlich übermessen hat. Manchmal fürchtet man fast, als hätten die siebzig Jahre seiner Dichtung schon die lyrische Formfähigkeit und Variation der deutschen Sprache zum Großteil erschöpft, denn so wie er wenig übernommen von dem früheren Geschlecht, so haben auch die Nachfahren dem lyrischen Ausdruck wenig Wesentliches dazugetan. Überragend einsam steht zwischen dem Vordem und Nachher seine unendliche Tat.


Doch Mannigfalt der Formen, sie würde allein nicht genügen als Bürgschaft lyrischer Überlegenheit; weltbedeutend macht ja den Dichter immer erst nur seine Allgegenwart in jedem Werke, das wirkliche Wunder, daß innerhalb seiner Mannigfaltigkeit jede einzelne Form und jede Äußerung das unsichtbare Merkmal der Einheit und Neuheit eingezeichnet trägt, also in mystischer Weiterleitung und Vererbung gleiches Blut bis in die letzte Ader seines Verses eindringt. Dieses Zeichen königlichen Ursprunges, dieses Zeichen geistigen und sprachlichen Herrentums ist jedem Goetheschen Gedicht so deutlich aufgeprägt, daß wir durch allen Formenwandel hindurch unverweigerlich in jedem einzelnen ihn als einzig möglichen Schöpfer erkennen, ja mehr noch – daß die wahrhaft Wissenden an jedem Korn seiner lyrischen Ernte noch Jahrgang und Stunde prüferisch unterscheiden, daß man aus irgendeiner Intonation, aus einer sprachlichen Handlung, aus irgendeinem Inkommensurablen fast immer bestimmen kann, welchem Jahresring dieses einzelne Gedicht angehört, ob seiner Jugend, seinen klassischen Jahren oder der Spätzeit. So wie der Duktus in seiner Handschrift trotz aller Wandlungen vom zehnten Jahre bis zum achtzigsten durch alle Wandlungen unverkennbar bleibt und man unter Tausenden Schriftzügen aus einem einzelnen Worte Goethe als den Schreibenden erkennt, so vermag man aus jeder Prosaseite, aus jedem Vierzeiler fehllos Goethe als den Dichter anzusprechen. Der Makrokosmos, die Welt Goethes, ist sichtbar auch im Mikrokosmos, im kürzesten Gedicht.


Doch freilich, so leicht es fällt, das spezifisch Goethesche in Goethes Lyrik zu erkennen, so schwer fiele es (auch einem dickleibigen Buch), dies ganz Persönliche seiner Gegenwart sachlich zu fixieren und begrifflich starr zu umschränken. Bei Hölderlin, Novalis, bei Schillers Lyrik bietet es wenig Schwierigkeiten, die besondere Physiognomie des Sprachstils nachzuzeichnen, ja sogar auf metrische und ästhetische Formeln zu bringen, weil bei diesen eine deutlich besondere Sprachfarbe vorwaltet, die Ideenwelt bestimmt-umgrenzte Kreise zieht und die Rhythmik an eine besondere Form des Temperaments dauernd gebunden erscheint. Bei Goethes Lyrik aber führt jeder Versuch einer Formulierung unverweigerlich ins Geschwätzige oder Metaphorische. Denn seine Sprachfarbe ist die des Spektrums, das immer voll strömende, sich in ewiger Mannigfalt verwandelnde Licht, eine Sprachsonne, wenn man das Bild wagen darf, nicht bloß ein abgeteilter Strahl. Seine Rhythmik wiederum gehorcht nicht Trochäen und Daktylen, also einer einmaligen Einstellung, sondern taktiert in nachfühlendem Leben jeden Schlag dem eigenen stürmischen oder ruhenden Atem nach. So erscheint sein lyrischer Ausdruck dermaßen natürlich, daß nur seine Natur selbst, die allumfassende, und nicht die Literatur ihn zu erklären vermag. Immer führt jede Untersuchung von Goethes Eigenart im Gedicht über das Sprachtümliche hinaus in das Elementare seiner Natur, in die Sinnlichkeit seines Welterlebens. Immer ist die letzte Erklärung seiner Einheitlichkeit nicht das Kunstwerk, das Es; immer nur das Schöpferische, das Beharrende in der Verwandlung, das Unteilbare: Er.


Dieser »geheimnisvoll offenbaren« Einheit des Goetheschen Wesens steht paradoxerweise nichts mehr hemmend entgegen als seine eigene Fülle. Es ist schwer, Unendliches zu gliedern, ein Unüberschaubares zu umfassen, und wenn so viele Deutsche noch immer so wenig Eingang und Vertrautheit in Goethes Welt führt, so verschuldet dies einzig die Fülle der Gesichte. Denn wahrhaft erweist sich beinahe ein ganzes Leben notwendig, um das seine zu überschauen, ein ganzes Studium, um ihn zu verstehen: seine Schriften über die Naturwissenschaften allein bilden einen Kosmos, seine sechzig Briefbände eine Enzyklopädie. Und selbst seine Lyrik mit ihren mehr als tausend Gedichten wehrt durch ihre Mannigfalt jedem nicht fachlich geschulten Blick, als Einheit sich erkennen zu lassen. So ist der Wunsch nur allzu verständlich, durch eine Auswahl diese Vielzahl zu deutlicherer Übersicht zu verkürzen.


Freilich, mit wie hohem Anspruch tritt ein solches Unterfangen, aus Goethes lyrischer Welt die wesentlichsten Verse zu wählen, an einen einzelnen heran, der sich dieser Auswahl vermißt! Und nur die bescheidene Erkenntnis kann ihm seine Verantwortung mindern, daß bei einer solchen Lese nicht sein eigenes Wertgefühl hochmütig entscheidet, sondern unbewußt der Geist seiner ganzen Generation in dieser Aufgabe mitwaltet. Denn Goethes Bildnis und Leistung – verleugnen wir uns diese Tatsache nicht – tritt in immer anderer Gestalt und Verwandlung an jedes Geschlecht und innerhalb dieses an jedes Lebensalter andersdeutig heran. Nur scheinbar hat am 22. März 1832 die Kette jener geistigen Metamorphosen geendet, die wir Goethe nennen: in Wahrheit verwandelt sich sein Bildnis und seine Wirkung noch immer fort innerhalb der Zeit und der Zeiten. Noch immer ist Goethe kein starrer Begriff, keine literaturgeschichtlich mumifizierte Gestalt geworden: jedem Geschlecht gibt er sich in neuem Sinn, jeder Neuwahl mit neuer Form. Um nur innerhalb des Lyrischen zu bleiben: welche Wertwandlung hat allein sein ›Westöstlicher Diwan‹ erfahren, mit welcher Überwucht tritt diese magische Selbstenthüllung des Alternden an unser Gefühl heran, das gleiche Werk, das seine Zeitgenossen und noch das neunzehnte Jahrhundert ihm als skurriles und tändlerisches Maskenspiel bloß gerade noch verziehen! Und wie hat sich anderseits der Balladen-Goethe der Schiller-Zeit und manches volkstümliche Gedicht, vielleicht auch weil allzuoft abgeleiert, unserer Wertung entfremdet! Der olympische Schul-Goethe, der allen verständliche, der klassische Künstler einer uns seit Hölderlin und Nietzsche nicht mehr zugänglichen Antike, immer mehr tritt diese allzu faßbare Gestalt gegen den großartig orphischen Bildner seiner geheimnisvollen Gedichte, seiner wahrhaft kosmischen Weltumfassung zurück. Durchaus wird also eine Lese des zwanzigsten Jahrhunderts sich anders gestalten müssen, ganz abgesehen von der individuellen Wertung, als die Anthologien und Auswahlen des neunzehnten Jahrhunderts.


Nur der ursprüngliche Maßstab schien noch der gleiche und gewissermaßen von selbst dem Abteilenden in die Hand gewachsen: heute wie damals muß vor allem versucht sein, das absolut lyrisch Gültige, das durchaus Beständige von dem Zufälligen und Unzulänglichen in der Fülle zu sondern. Leichte Arbeit dies für den ersten Blick, der meinte, es genüge vollauf, jene Verse wegzuräumen, die höfischer Forderung oder höflichem Gelegenheitsanlaß ihr Leben dankten, ferner alle die bloß spielhaften und zufallsgemäßen Schöpfungen, wo das Material des Verses und des Reimes als Zauberlehrling bei Abwesenheit des Meisters, des produktiven Elementes, gleichsam aus sich allein heraus weitergedichtet hat. Aber bald stellte unerwartete Schwierigkeit sich für den Wählenden ein, neue Frage, neue Entscheidung, ja Umstellung des ursprünglichen Prinzips. Denn bei diesem Scheidungs- und Reinigungsprozeß begegnet das wählende Gefühl oft gewissen einzelnen Gedichten, die sich gegen die Unterdrückung aus rein ästhetischen Gründen dank einer ihnen innewohnenden andersgründigen Kraft merkwürdig wehrten, die Anspruch des Daseins und Gewähltseins forderten, aus einem anderen Recht als dem ihres bloß künstlerischen Gewichtes. Und bald ward ich gewahr, daß, wie im Leben selbst, auch in der Kunst eine gewisse Legitimität durch Dauer des Daseins und gefühlsmäßige Wirkung vorhanden sein kann: Gedichte, die nicht um ihrer Kostbarkeit willen einen Lebenswert für uns haben, sondern als ein Pretium affectionis der Nation teuer geworden sind, als Liebeswert, von dem sich das Gefühl ebensowenig gern trennen würde wie von einem altvertrauten, zwar nicht kostbaren, aber durch Pietät längst geheiligten Gegenstand. Wie zum Beispiel entscheiden bei einem Gedicht wie dem ›Heideröslein‹? In sich betrachtet, scheint es vielleicht zu naiv belanglos für unser heutiges Gefühl, dazu noch belehren uns die Philologen, daß es Goethe gar nicht zuzuschreiben sei und bestenfalls als Bearbeitung eines längst bekannten Volksliedes zu werten. Der streng angewandte Maßstab forderte also hier Verwerfung – aber doch, wie ein Gedicht ausscheiden, das mit dem Schulbuch uns dem Namen Goethes zum erstenmal verband, dessen Melodie auf unserer Kinderlippe schwebt und kaum gerufen, Wort für Wort uns innerlich wach wird? Oder ein anderes Beispiel: Sicherlich sind die mehr witzigen als lyrischen Verszeilen »Vom Vater hab’ ich die Statur« (unwillkürlich ergänzt sie jeder weiter – denn wer kennt sie nicht?) wenig bedeutsam, und der bloß ästhetische Richter müßte sie einer reinen Auswahl entziehen. Aber doch, wie dieses Blatt der »großen Konfession« ausscheiden, wo mit einem Riß Wesen und Ursprung seiner körperlich-geistigen Struktur scharf und unvergeßlich gezeichnet sind? Und so fanden sich wiederum andere Verse, in sich selbst nicht farbenkräftig genug, die besondere Leuchtkraft hatten durch den Widerschein von Gestalten und Situationen, manche Gedichte an Charlotte v. Stein, Lili und Friederike, mehr Briefblatt als Gedicht, mehr Seufzer und Gruß denn Kunstwerk, aber doch unentbehrlich dem biographischen Gesamtbild. Und bald erwies sich mir, daß die äußerste Strenge des ästhetischen Urteils da ein wunderbar Durchnervtes zerreißen würde, daß eine sich starr und unnachsichtig bloß auf den Kunstwert hin richtende Auswahl Lyrik und Leben, Anlaß und Aussage, Kunstwerk und Biographie gerade bei jenem Menschen zertrennen müßte, dessen wunderbar aufgestufte und organische Menscheneinheit wir ebensosehr als Kunstwerk empfinden wie die Kunst selbst. So wurde hier in weitherzigerer Auslese vielfach über die Ordnung des Stils als höheres Maß jene Norm gesetzt, die wir noch immer als höchste Ordnung eines irdischen Wesens innerhalb aller Zeiten empfinden: das Leben Goethes als schaffendes Geheimnis.


Nicht nur aber die Auswahl selbst, auch die Anordnung der Gedichte wurde dann von dieser endgültigen Überzeugung bestimmt, daß Werk und Leben bei Goethe eine untrennbare Ganzheit seien; sie ist eine chronologische und reiht die Gedichte (die meisterliche Arbeit Hans Gerhard Grafs nutzend) in der zeitlichen und darum natürlichen Folge ihrer Entstehung. Eine solche Einteilung hat scheinbar allerhöchste Autorität gegen sich, nämlich jene des Dichters selbst, der in seiner »Ausgabe letzter Hand« das lyrische Gesamtmaterial in metrische Kategorien ordnete, deren Überschriften »Natur«, »Kunst«, »Sonette«, »Antiker Form sich nähernd«, »Gott und Welt« er allemal mit prägnanten Denksprüchen begleitete. Wie Blumensträuße sind dort die Verse nach ihrer geistigen Farbe, nach ihrer metrischen Klassifizierung, nach ihrer Spezies sorgfältig zusammengebunden und das ungeheure lyrische Reich aufgeteilt in einzelne Provinzen der Seele und der Sinne. In unserer Einteilung wiederum ist versucht, die kunstvollen Blumensträuße neuerdings auseinanderzubinden und jedes einzelne Gedicht neu einzusenken an die Stelle seines zeitlichen und ursprünglichen Gewachsenseins, getreu Goethes Wort zu Eckermann: »Alle meine Gedichte sind Gelegenheitsgedichte, sie sind durch die Wirklichkeit angeregt und haben darin Grund und Boden.« In diesen Grund – das Wort im Sinn des Anlasses und der erdhaft zeitlichen Gebundenheit wird durch diese chronologische Anordnung jedes Gedicht wieder zurückgepflanzt. Nicht nach ihrem Sein und Dasein, sondern in der Folge ihres Gewachsenseins schließen sich hier den Gedichten des Jünglings die der Mannesjahre und jenen wieder die großartig begrifflichen Allegorien der Altersjahre an. Damit wird, glaube ich, eine einzige Überschau über dies gewaltige lyrische Strömen gewonnen, vom ersten Ausbruch der Quelle bis zum getragen machtvollen Übermünden ins Unendliche, und jeder einzelne Anlaß, Bilder und Jahreszeiten, Menschen und Geschehnisse, erscheint in dieser fortfließenden Welle naturhaft gespiegelt. Nicht zufällig beginnt die Auswahl mit jenen stürmenden Jugendstrophen, wo der Hammer des Herzens die starren Formen der deutschen Lyrik zerschlägt, und endet nicht zufällig in jenem geheimnisvollen Verschweben des »Chorus mysticus«, mit dem der Uralte den ›Faust‹, das »Hauptgeschäft seines Lebens«, und damit sein Leben selbst in das Unendliche verrauschen läßt. Dazwischen entbreitet sich der ganze Wandel irdischer Fahrt, Sturm und Kühlung des Blutes, rhythmisches Lebendigwerden und marmornes Erstarren des Gedichtes in kristallenen Formen, hinjagende Begeisterung, die allmählich aufschwebt zu schauendem Bedacht – jene ganz hohe Verwandlung, mit der hier ein Mensch das Allmenschliche allen Zeiten vorbildlich gelebt. In solch schicksalhafter Form erscheint die Lyrik Goethes dann nicht bloß als untermalende Begleitmusik seines Lebens mehr, sondern als symphonische Umfassung des ganzen Daseins, tönend geworden in einer einzigen irdischen Brust und uns unvergänglich gegenwärtig durch die verewigende Magie der Kunst.

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