Bahia: Treue zur Tradition


Mit dieser Stadt hat Brasilien – und man darf es berechtigt sagen – hat Südamerika begonnen. Hier stand der erste Pfeiler des großen kulturellen Brückenschlags über den Ozean, hier ist aus europäischem, afrikanischem und amerikanischem Urstoff die neue, die noch fruchtbar gärende Mischung entstanden. Respekt darum vor Bahia, vor allem Bewunderung: diese Stadt hat das Vorrecht der Anciennität unter allen Städten des südamerikanischen Festlands. Mit seinen mehr als vierhundert Jahren, mit seinen Kirchen und Kathedralen und Kastellen bedeutet Bahia für die neue Welt, was für uns Europäer die jahrtausendalten Metropolen, was für uns Athen und Alexandria und Jerusalem: ein kulturelles Heiligtum. Und wie bei einem Menschenantlitz fühlt man ehrfürchtig vor dieser Stadt, daß sie ein Schicksal hat, eine glorreiche Vergangenheit.


Die Haltung Bahias ist die einer Königinwitwe, einer shakespearisch grandiosen Königinwitwe. Sie ist vermählt den Vergangenheiten. Längst hat sie die Königsmacht an ein jüngeres, ungeduldiges Geschlecht abgegeben. Aber sie hat nicht abgedankt, sie hat ihren Rang bewahrt und mit dem Rang eine unvergleichliche Hoheit. Stolz und aufrecht blickt sie von der Höhe herab auf das Meer, wo seit Hunderten Jahren alle Schiffe zu ihr kamen, noch trägt sie den alten Schmuck ihrer Kirchen und Kathedralen, und diese Hoheit der Haltung lebt weiter in ihrem Volke. Mögen die jüngeren Städte, mögen Rio de Janeiro, Montevideo, Santiago, Buenos Aires heute die reicheren, die mächtigeren, die moderneren sein: Bahia hat seine Geschichte, seine eigene Kultur, seine eigene Lebensform. Von allen Städten Brasiliens hat es am treuesten die Tradition bewahrt. Nur in ihren Steinen und Straßen versteht man Brasiliens Geschichte, nur hier begreift man, wie aus Portugal Brasilien geworden ist.


Bahia ist eine Stadt, die bewahrt, eine Stadt der Treue; sie hat nicht nur ihre alten Denkmäler geschützt gegen den eilfertigen Einbruch des Neuen, sie hat äußerlich ihre Physiognomie und innerlich ihre Tradition unverbrüchlich durch die Jahrhunderte erhalten. Wer ihr vom Meere naht, sieht sie nicht anders wie zur Zeit der Kaiser und der Vizekönige unten der gleichgültige Hafen mit seinen vielfach modernisierten Geschäftsstraßen, aber oben das steinerne Haupt, die zur Bastion zusammengefaßte Stadt, die mit ruhiger und stolzer Ruhe den Besucher erwartet. Hier oben scharten sich hinter Palisaden vor vierhundert Jahren die Ansiedler zusammen, um gegen Überfälle von Piraten oder Eingeborenen geschützt zu sein. Aus dem Lehmwall wurde allmählich eine Mauer, hinter der die Stadt sich gesichert erhob; bald wagte man Kirchen zu bauen und Paläste auf dem schroff abwehrenden Fels, und dieses wundervolle Profil, diese weit geschwungene, diese königliche Linie hat sie sich erhalten. Nichts in Südamerika weiß ich dieser stolzen, dieser majestätischen Haltung zu vergleichen, mit der an der gleichen Stelle wie zu Cabrals und Magellans Tagen Bahia über seinen Hafen und seine alten Kastelle weithin über den Ozean blickt.


Wandert man empor den steilen, von bröckelnden Häusern umrahmten engen Weg, so erkennt man, wie reich diese Stadt einmal gewesen. Sie ist nicht verarmt heute, sie ist nicht zurückgesunken. Sie ist nur stehengeblieben, und das gibt ihr jene Schönheit, wie sie alle Städte haben, die Jahrzehnte und Jahrhunderte verträumt haben, wie Venedig, wie Brügge, wie Aix-les-Bains. Zu stolz, um der neuen Zeit ungestüm nachzujagen und Wolkenkratzer zu türmen, um mit Rio de Janeiro, mit São Paulo zu wetteifern, zu lebendig anderseits, um zu verfallen wie die Goldstädte von Minas Gerais und museal zu werden, ist sie geblieben, was sie war: die Stadt des alten portugiesischen Brasiliens, und einzig hier fühlt man Brasiliens Herkunft und seine jahrhundertealte Tradition.


Diese Tradition spürt man überall. Bahia hat – im Gegensatz zu allen andern brasilianischen Städten – seine eigene Tracht, seine eigene Küche, seine eigene Farbe. Nirgends zeigt sich die Straße so bunt wie hier, wo die afrikanische, die alt-koloniale Bevölkerung sich geschlossen behauptet hat; ununterbrochen meint man die Szenen aus Debrets »Brésil pittoresque« als lebendige Bilder zu sehen, all diese einstigen Dinge, die längst aus den andern Großstädten verschwunden sind. Zwar steuern die Automobile puffend die Straßen entlang, aber in der Altstadt schleppen noch Maultiere auf schaukelnden Sätteln Früchte und Holz, Lastesel kann man hier noch nach der Stunde zur Beförderung mieten wie Autos in einer modernen Stadt, und am Hafen wird die Fracht wie zu römischen und phönizischen Zeiten nicht durch künstliche Krane sondern auf dem Rücken der Lastträger in die Schiffe geholt. Die Verkäufer mit ihren breitkrempigen Strohhüten tragen wie eine ungeheure Waage auf ihren Schultern die Stange, von der rechts und links die Ware niederhängt, auf dem nächtlichen Markt sitzen bei Kerzen oder Acetylenflammen die Händler auf der bloßen Erde inmitten Bergen von Orangen, Kürbissen, Bananen und Kokosnüssen. Während an ihren steinernen Kais die Ozeandampfer groß und mächtig liegen, schaukeln noch am Ufer die Segelschiffe, die von und zu den Inseln fahren, schmal, schlank und leicht, ein schwankender Wald von Masten. Und sogar die Sangadas sieht man noch, die Kanoes der alten Brasilianer, eine Kuriosität ohnegleichen. Eigentlich ist es nur ein Floß, aus drei oder vier Baumstämmen ohne jede Kunst zusammengenagelt und darauf ein enger Sitz, nichts Primitiveres kann man sich erdenken. Aber mit diesen winzigen Flößen steuern die Leute verwegen weit hinaus ins Meer man kann es nicht fassen – und man erzählt die heitere Geschichte, wie ein amerikanischer Dampfer, als er ein solches Floß mit seinem armen Segel weitab vom Lande sah, sofort beigedreht habe in der Meinung, er müsse Schiffbrüchige retten. Alles spielt hier in den buntesten Formen durcheinander, heute und gestern. Da ist die alte Universität mit ihrer hochberühmten Fakultät, die älteste des Reiches, die Bibliothek und der Palast und die Hotels und der moderne Sportklub. Und zwei Straßen weiter, und man lebt in portugiesischer Sphäre; kleine, niedere Häuschen, überfüllt mit Menschen und Leben, die tausend Formen des Handwerks und bald dahinter schon die mocambos, die Negerhütten zwischen ihren Bananensträuchern und Brotbäumen. Da sind asphaltene Straßen und daneben das katzenköpfige Pflaster verschollener Zeiten; in zwei, in drei, in vier verschiedenen Jahrhunderten kann man in Bahia innerhalb von zehn Minuten zugleich sein, und jedes wirkt gleich echt und natürlich. Denn das ist der eigentliche Zauber von Bahia: alles ist hier noch echt und unbeabsichtigt; die sogenannten »Sehenswürdigkeiten« drängen sich dem Fremden nicht auf, sie sind unmerklich eingeschmolzen in das Ensemble. Alt und neu, heute und gestern, vornehm und primitiv, 1600 und 1940, all das fließt ineinander in ein einziges flutendes Bild, das überdies noch umrahmt ist von einer der friedlichsten, der lieblichsten Landschaften der Welt.


Das Pittoreskeste im ständig Pittoresken sind die Bahianerinnen, die mächtigen dunkeläugigen Negerinnen mit ihrer eigenartigen Tracht. Man kann es eigentlich nicht Kostüm nennen, denn Kostüm meint schon ein in bestimmter Absicht oder bei bestimmtem Anlaß getragenes Kleid. Aber die Bahianerinnen, auch die ärmsten, tragen immer ihre Tracht, tragen sie Tag für Tag, und man kann sich keine pompösere erdenken. Sie ist mit nichts vergleichbar, nicht afrikanisch und nicht orientalisch und nicht portugiesisch, sondern alles zugleich. Ein farbiger Turban im Haar, mit raffinierter Kunst geschlungen, rot, grün, gelb, blau oder gefleckt, aber immer grell, eine bunte Bluse wie die der slovakischen und ungarischen Bäuerinnen, darunter glockenförmig ausschwingend ein gesteifter, riesig breiter Rock – man kann den Verdacht nicht loswerden, die Sklavenahnen dieser Negerinnen hätten im Zeitalter des Reifrocks bei ihren portugiesischen Damen diese Krinolinen gesehen und als Sinnbild vornehmer Pracht in ihren billigen Kattunkleidern bewahrt. Ein Tuch noch über die Schulter, dramatisch geworfen, das auch gleichzeitig als Unterlage dient, wenn sie auf dem Haupt die Wasserkrüge oder mächtige Körbe tragen, ein paar klirrende Armbänder aus billigem Metall: so geht jede dieser schwarzen Bahianerinnen, aber jede in anderen Farben, anderen grellen Nuancen durch die Straßen. Doch das Imposante liegt eigentlich gar nicht im Kostüm, es ist die Haltung, in der sie es tragen, ihr Gang, ihr Gehaben. Sie sitzen auf dem Markte oder auf einer schmutzigen Schwelle; aber wie einen Königsmantel schlagen sie den weiten bauschigen Rock unter sich rund, daß sie wie in einer riesigen Blume zu sitzen scheinen. In dieser imposanten Haltung verkaufen diese schwarzen Fürstinnen die allerbilligste Ware auf Erden, kleine, fette oder würzige Bäckereien, die sie an einem Holzkohlenherdchen zubereiten – derart billige kleine Küchelchen und Fischragout, daß ein Blatt Papier, um sie einzuwickeln, schon zu kostspielig wäre. In einem grünen Palmblatt reicht es die schwarze, mit den Armbändern leise klingende Hand einem hin. Und ebenso majestätisch ihr Schreiten wie ihr Sitzen. Auf dem Kopf tragen sie Zentnerlast, Körbe mit Wäsche oder Fischen oder Obst, aber es ist Augenlust zu sehen, wie sie damit durch die Straßen gehen, stolz erhoben der Nacken, die Hände zu beiden Seiten in die Hüften gestützt, den Blick ernst und frei: ein Regisseur, der ein Königsdrama vorbereitet, könnte von diesen schwarzen Fürstinnen des Markts und der Küche viel lernen. Abends wenn man sie sieht in ihren dunklen Küchen, nur farbig erleuchtet von den Flammen, geheimnisvoll eifrig die sonderbaren Gerichte brauend, muß man an vorweltliche Zaubereien denken: nein, es gibt nichts Pittoreskeres als die Negerinnen von Bahia, nichts Bunteres, Echteres, natürlich Belebteres als die Straßen dieser Stadt. Hier und nur hier kennt und versteht man Brasilien.

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Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.