Geschichte


Tausende und tausende Jahre liegt das riesige brasilianische Land mit seinen dunkelgrünen, rauschenden Wäldern, seinen Bergen und Flüssen und dem rhythmisch anklingenden Meer unbekannt und namenlos. Am Abend des 22. April 1500 leuchten mit einemmal einige weiße Segel am Horizont; breitbäuchige, schwere Caravellen, das portugiesische Rotkreuz auf den Segeln, nahen heran, und am nächsten Tage legen die ersten Boote an dem fremden Strande an.


Es ist die portugiesische Flotte unter dem Kommando des Pedro Álvares Cabral, die im März 1500 von der Mündung des Tajo ausgefahren ist, um die unvergeßliche, von Camões in den »Lusiaden« besungene Fahrt Vasco da Gamas, dieses feito nunca feito rings um das Kap der Guten Hoffnung nach Indien zu wiederholen. Angeblich haben widrige Winde die Schiffe von Vasco da Gamas Wege längs der afrikanischen Küste so weit fortgetrieben zu dieser unbekannten Insel – denn Ilha de Santa Cruz nennt man diese Küste zuerst, deren Ausdehnung man noch nicht ahnt. Die Entdeckung Brasiliens scheint also – sofern man die Reisen Alfonso Pinzons, der in die Nähe des Amazonenstromes kam, und die zweifelhafte Vespuccis nicht als Vorentdeckung rechnet – bloß durch eine absonderliche Fügung von Wind und Wellen Portugal und Pedro Álvares Cabral zugefallen zu sein. Die Historiker sind freilich längst nicht mehr geneigt, diesem »Zufall« Glauben zu schenken, denn Cabral führte den Piloten Vasco da Gamas mit sich, der genau den nächsten Weg kannte, und die Fabel von den widrigen Winden wird hinfällig durch das Zeugnis des an Bord anwesenden Pêro Vaz de Caminha, der ausdrücklich bestätigt, sie seien vom Kap Verde weitergesegelt, sem haver tempo forte ou contrario. Es muß also, da kein Sturm sie so weit nach Westen hinübertrieb, daß sie plötzlich statt am Kap der Guten Hoffnung in Brasilien landeten, eine bestimmte Absicht oder – was noch wahrscheinlicher ist – ein geheimer Befehl seines Königs Cabral veranlaßt haben, den Kurs so weit nach Westen zu nehmen; dies legt die Wahrscheinlichkeit nahe, daß die portugiesische Krone schon lange vor der offiziellen Entdeckung von der Existenz und der geographischen Lage Brasiliens geheime Kenntnis gehabt hat. Hier liegt noch ein großes Geheimnis verborgen, dessen Dokumente durch die Vernichtung der Archive bei dem Erdbeben von Lissabon für alle Zeiten verschwunden sind, und die Welt wird wahrscheinlich nie den Namen des ersten und wirklichen Entdeckers wissen. Anscheinend war sofort nach der Entdeckung Amerikas durch Columbus ein portugiesisches Schiff auf Erkundung dieses neuen Erdteils ausgeschickt worden und mit neuer Botschaft zurückgekommen; oder – auch dafür gibt es gewisse Anhaltspunkte – schon ehe Columbus Audienz nahm, wußte die portugiesische Krone mehr oder minder Bestimmtes von diesem Lande im fernen Westen. Aber was immer Portugal wußte, hütete es sich wohl, den eifersüchtigen Nachbarn bekanntzugeben; im Zeitalter der Entdeckungen behandelte die Krone jede neue Nachricht über nautische Erkundungen als militärisches oder kommerzielles Staatsgeheimnis, auf dessen Verlautbarung an fremde Mächte Todesstrafe stand. Karten, Portolane, Schiffsrouten, Pilotenberichte wurden ebenso wie Gold und Edelsteine als Kostbarkeiten in der Tesouraria, der Schatzkammer Lissabons, verschlossen, und besonders in diesem Falle war eine vorzeitige Verlautbarung untunlich, denn nach der päpstlichen Bulle Inter caetera gehörten noch alle Gebiete hundert Meilen westlich von Kap Verde rechtmäßig den Spaniern zu. Eine offizielle Entdeckung jenseits dieser Zone hätte zu dieser frühen Stunde nur den Besitz des Nachbarn, nicht den eigenen gemehrt. Es lag also keineswegs im Interesse Portugals, eine solche Entdeckung (wenn sie tatsächlich stattgefunden hat) vorzeitig zu melden. Erst mußte rechtmäßig gesichert sein, daß dieses neue Land nicht Spanien, sondern der portugiesischen Krone gehöre, und dies hatte sich mit auffälliger Voraussicht Portugal durch den Vertrag von Tordesillas gesichert, der am 7. Juni 1494, also kurz nach der Entdeckung Amerikas, die portugiesische Zone von den ursprünglichen hundert léguas auf 370 westlich von Kap Verde hinausschob – gerade soviel also, um die angeblich noch nicht entdeckte Küste Brasiliens okkupieren zu können. Wenn dies ein Zufall gewesen, so war es jedenfalls einer, der sich merkwürdig mit der sonst unerklärlichen Abweichung Pedro Álvares Cabrals von dem natürlichen Kurse paart.


Diese Hypothese mancher Historiker von einer früheren Kenntnis Brasiliens und einer geheimen Instruktion des Königs an Cabral, derart weit nach Westen abzuschwenken, damit er dort durch einen »wunderbaren Zufall« – milagrosamente, wie er an den König von Spanien schreibt – das neue Land entdecken könne, gewinnt überdies viel an Glaubwürdigkeit durch die Art, mit der der Chronist der Flotte, Pêro Vaz de Caminha, dem König von der Auffindung Brasiliens Bericht erstattet. Er äußert keinerlei Erstaunen oder Begeisterung, unvermutet auf neues Land gestoßen zu sein, sondern verzeichnet bloß trocken die Tatsache als eine Selbstverständlichkeit; ebenso äußert der zweite, unbekannte Chronist nur che ebbe grandissimo piacere. Kein Wort des Triumphes, keine der bei Columbus und seinen Nachfolgern üblichen Vermutungen, daß man damit Asien erreicht hätte – nichts als kalte Notiz, die eher ein bekanntes Faktum zu bestätigen als ein neues anzukündigen scheint. So kann Cabral sein Ruhm, als erster Brasilien entdeckt zu haben, der ihm ohnehin durch Pinzons Landung nördlich des Amazonenstroms schon streitig gemacht wird, vielleicht noch durch späteren dokumentarischen Fund endgültig entzogen werden; solange uns dieses Dokument fehlt, muß jener 22. April 1500 als der Tag des Eintritts dieser neuen Nation in die Weltgeschichte gelten.


Der erste Eindruck des neuen Landes auf die gelandeten Seeleute ist ausgezeichnet: fruchtbare Erde, milde Winde, frisches, trinkbares Wasser, reichliche Früchte, eine freundliche, ungefährliche Bevölkerung. Wer immer in den nächsten Jahren in Brasilien landet, wiederholt die hymnischen Worte Amerigo Vespuccis, der, ein Jahr nach Cabral dort eintreffend, ausruft: »Wenn irgendwo auf Erden das irdische Paradies existiert, so kann es nicht weit von hier gelegen sein!« Die Einwohner, die den Entdeckern im Unschuldskleid der Nacktheit in den nächsten Tagen entgegentreten und ihre unbedeckten Körper »com tanta innocencia como o rostro«, mit ebensoviel Unbefangenheit wie ihr Gesicht darbieten, bereiten ihnen freundlichen Empfang. Neugierig und friedlich drängen die Männer heran, aber insbesondere sind es die Frauen, die durch ihre Wohlgebautheit und (auch von allen späteren Chronisten dankbar gerühmte) rasche und wahllose Gefälligkeit die Seefahrer die Entbehrungen vieler Wochen vergessen lassen. Zu einer wirklichen Erforschung oder Besetzung des inneren Landes kommt es vorläufig noch nicht, denn Cabral muß nach Erfüllung seines geheimen Auftrags möglichst rasch an sein offizielles Ziel, nach Indien weiter. Am 2. Mai, nach einem Aufenthalt von im ganzen zehn Tagen, steuert er nach Afrika hinüber, nachdem er Gaspar de Lemos Befehl gegeben, mit einem Schiff die Küste nordwärts entlangzukreuzen und dann mit der Nachricht über das aufgefundene Land und einigen Proben seiner Früchte, Pflanzen und Tiere nach Lissabon zurückzukehren.


Die Meldung, daß die Flotte Cabrals dieses neue Land, sei es in Erfüllung geheimen Auftrages, sei es durch bloßen Zufall erreicht hat, wird im königlichen Palast wohlgefällig, aber ohne richtige Begeisterung aufgenommen. Man meldet sie in offiziellen Briefen an den König von Spanien weiter, um sich den Rechtstitel des Besitzes zu wahren, jedoch die Mitteilung, daß dies neue Land sem ouro nem prata, nem nenhuma cousa de metal sei, gibt dem Funde zunächst wenig Wert. Portugal hat in den letzten Jahrzehnten so viele Länder entdeckt und einen so gewaltigen Teil des Weltalls in Besitz genommen, daß die Aufnahmsfähigkeit des kleinen Landes eigentlich völlig erschöpft ist. Der neue Seeweg nach Indien sichert ihm das Gewürzmonopol und damit allein schon unermeßlichen Reichtum; man weiß in Lissabon, daß in Calicut, in Malakka die seit Hunderten von Jahren sagenhaft gewordene Pracht an Edelsteinen, kostbaren Stoffen, Porzellan und Spezereien für einen kühnen Zugriff bereitliegt, und die Ungeduld, mit einem Ruck diese ganze Welt überlegener Kultur und orientalischer Pracht an sich zu reißen, treibt Portugal zu einer Anspannung des Wagemuts und des Heroismus, wie sie in der Weltgeschichte kaum ihresgleichen hat. Selbst die »Lusiaden«, dieses Heldengedicht, vermögen kaum dieses Abenteuer, diesen neuen Alexanderzug begreiflich zu machen, den eine Handvoll Menschen unternimmt, um mit einem Dutzend winziger Schiffe gleichzeitig drei Erdteile und noch dazu den ganzen unbekannten Ozean zu erobern. Denn das kleine arme Portugal, kaum zweihundert Jahre erst der arabischen Herrschaft entrungen, besitzt kein bares Geld, immer wenn er eine Flotte ausrüstet, muß der König im voraus den Ertrag Wechslern und Händlern verpfänden. Es hat außerdem nicht genug Soldaten, um gleichzeitig die Araber, die Inder, die Malaien, die Afrikaner, die Wilden, zu bekriegen und an allen Orten der drei Erdteile Niederlassungen und Festungen zu errichten. Und doch, wie durch ein Wunder holt Portugal aus sich alle diese Kräfte heraus. Ritter, Bauern und, wie Columbus einmal ärgerlich klagt, sogar »Schneider« verlassen ihre Häuser, ihre Frauen, ihre Kinder, ihre Berufe und strömen aus dem ganzen Land zu den Häfen, und es schreckt sie nicht, daß nach Barros’ berühmtem Wort »der Ozean das häufigste Grab der Portugiesen« wird. Denn das Wort Indien hat magische Macht. Der König weiß, ein Schiff, das von diesem Golkonda zurückkehrt, zahlt für zehn, die verlorengehen, ein Mann, der die Stürme, die Schiffbrüche, die Kämpfe, die Krankheiten übersteht, ist reich für sich und seine Nachfahren. Nun, da die Tür gesprengt ist zur Schatzkammer der damaligen Welt, will keiner in der pequena casa des Vaterlands zurückbleiben, und die Einhelligkeit dieses Willens gibt Portugal eine Ekstase der Kraft und des Muts, die für ein Jahrhundert das Unmögliche möglich, das Unwahrscheinliche zur Wahrheit macht.


In diesem Tumult der Leidenschaften wird ein so welthistorisches Geschehnis wie die Entdeckung Brasiliens kaum bemerkt, und nichts ist für die Geringschätzung dieser Tatsache charakteristischer, als daß Camões in seinem Heldengedicht unter den Tausenden von Zeilen nicht mit einer einzigen der Auffindung oder Existenz Brasiliens überhaupt Erwähnung tut. Die Seeleute Vasco da Gamas haben kostbare Stoffe mitgebracht, Juwelen, Edelsteine und Gewürze und vor allem die Nachricht, daß tausendmal und tausendmal mehr an solcher Beute in den Palästen der Zamorins und der Radjahs bereitliegt. Wie arm dagegen ist die Beute des Gaspar de Lemos – ein paar bunte Papageien, einige Proben Holz, ein paar Früchte und die ernüchternde Kunde, daß man den nackten Menschen dort nichts nehmen könnte. Er hat kein Staubkörnchen Gold gebracht, keinen einzigen Edelstein, keine Gewürze, nichts von diesen Kostbarkeiten, von denen eine Handvoll wertvoller ist als ganze Wälder Brasilholz, Schätze, die sich mit ein paar Schwerthieben, ein paar Kanonenschüssen leicht erraffen lassen, während die Baumstämme erst gefällt werden müssen, ehe man sie versägen, verschiffen und dann verkaufen kann. Wenn diese Ilha oder Terra de Santa Cruz Reichtümer enthält, so können es nur potentielle sein, Reichtümer, die in jahrelanger mühsamer Arbeit der Erde entrungen werden müssen. Aber Portugals König braucht raschen, greifbaren Gewinn, um die Schulden zu zahlen. Erst also Indien, Afrika, die Molukken, den Orient! So wird Brasilien die Cordelia dieses König Lear, die mißachtete der drei Schwestern Asien, Afrika und Amerika und doch die einzige, die ihm in der Stunde der Not die Treue halten wird.


Es entspricht also nur der harten Logik der Notwendigkeiten, daß sich das von seinen phantastischen Erfolgen berauschte Portugal zunächst kaum um Brasilien kümmert; der Name dringt nicht ins Volk, er beschäftigt nicht die Phantasie. Die deutschen und italienischen Geographen zeichnen die Linie der Küste als Brassil oder Terra dos Papagaios auf gut Glück in ihre Landkarten ein, aber die Terra de Santa Cruz, dieses leere grüne Land hat nichts, um Anziehung auf Seeleute oder Abenteurer zu üben. Doch wenn König Manuel weder Zeit noch Neigung hat, dieses neue Land richtig zu nützen und zu schützen, so ist er doch gleichzeitig nicht gewillt, auch nur einen Fußbreit dieser Erde andern zu gönnen, weil Brasilien ihm den Seeweg nach Indien schützt und weil vor allem Portugal in seinem Rausch von Glück und Eroberungslust mit seiner kleinen Hand am liebsten die ganze Erde decken möchte. Zäh, ausdauernd und geschickt kämpft er mit Spanien um die Anerkennung, daß dies Gebiet nach dem Vertrage von Tordesillas in seine Zone falle; beinahe kommt es zwischen den beiden Ländern zum Konflikt um eines Landes willen, das keines von ihnen wirklich will und braucht, denn beide wollen sie nur Edelsteine und Gold. Aber rechtzeitig sehen beide ein, wie sinnlos es wäre, gegeneinander die Waffen zu wenden, wo sie jeden Mann und jede Bleikugel benötigen, um die plötzlich ihnen vom Himmel zugefallenen neuen Welten auszuplündern. 1506 kommt es zu einer Einigung, die Portugal sein bisher bloß platonisch ausgeübtes Recht auf Brasilien bestätigt.


Von Spanien, dem mächtigen Nachbarn, ist nun keinerlei Gefahr mehr zu befürchten. Aber die Franzosen, die bei der Teilung der Erde zwischen Spanien und Portugal zu kurz gekommen sind, beginnen diesem noch unbesiedelten und unorganisierten Stück breiter, schöner Erde zusehends ihre Aufmerksamkeit zu widmen. Immer häufiger erscheinen Schiffe aus Dieppe und Le Havre, um Brasilholz zu holen, und Portugal hat in den Hafenplätzen noch keine Schiffe, keine Soldaten, um piratischen Eingriffen zu wehren. Sein Rechtstitel ist nur ein papierner, und mit einem einzigen raschen Handstreich, mit fünf, vielleicht sogar bloß mit drei bewaffneten Schiffen könnte sich Frankreich, wenn es wollte, der ganzen Kolonie bemächtigen. Um die weitgestreckte Küste zu verteidigen, tut also eines not: sie zu besiedeln. Wenn die Krone Brasilien zu einem portugiesischen Land machen und es sich als Krongut erhalten will, muß sie sich entschließen, Portugiesen hinüberzuschicken. Das Land mit seinem riesigen Raum, mit seinen unbeschränkten Möglichkeiten will Hände und braucht Hände, und jede neue, die kommt, winkt hinüber, um neue und neue zu fordern. Von Anfang an, durch die ganze Geschichte Brasiliens, wiederholt sich dieser Ruf: Menschen, mehr Menschen! Es ist wie die Stimme der Natur, die wachsen und sich entfalten will und zu ihrem wahren Sinn, zu ihrer Größe, den notwendigen Helfer, den Menschen, braucht.


Aber wie Kolonisten finden in dem kleinen, schon halb ausgebluteten Lande? Portugal hat zu Beginn seiner Eroberungszeit höchstens dreihunderttausend erwachsene Männer, davon sind ein gutes Zehntel, die stärksten, die besten, die mutigsten mit den Armadas und von diesem Zehntel neun Zehntel schon dem Meer, den Kämpfen, den Krankheiten zum Opfer gefallen. Immer schwerer wird es, obwohl die Dörfer schon entvölkert, die Felder verödet sind, Soldaten und Matrosen zu finden, und selbst unter der Gilde der Abenteuerlustigen will keiner nach Brasilien. Die vitalste, die tapferste Schicht des Landes, die Fidalgos, die Adeligen und Soldaten weigert sich; sie wissen, daß in der Terra de Santa Cruz kein Gold zu holen ist, keine Edelsteine, kein Elfenbein und nicht einmal Ruhm. Die Gelehrten wiederum, die Intellektuellen, was sollen sie tun dort im Leeren, abgeschnitten von aller Kultur, die Händler, die Kaufleute, was sollen sie handeln in einem Land mit nackten Kannibalen, was heimbringen in umständlichem Hin und Her, wo doch eine einzige Fracht von den Molukken tausendfach das Risiko lohnt? Selbst die ärmsten portugiesischen Bauern ziehen vor, die eigene Erde zu bestellen, statt sich in diese fremde und unbekannte der Kannibalen zu wagen. Kein Mann von Adel und Rang, von Reichtum und Kultur zeigt also die mindeste Neigung, sich nach diesen leeren Küsten einzuschiffen, und so sind, was in den allerersten Jahren in Brasilien haust, kaum mehr als ein paar gestrandete Seeleute, ein paar Abenteurer und Deserteure von Schiffen, die durch Zufall oder Trägheit dort zurückgeblieben sind und ihr Bestes zu einer raschen Besiedlung ausschließlich dadurch tun, daß sie dort unzählige Mischlinge, die sogenannten Mamelucos zeugen – einem einzigen werden dreihundert zugeschrieben; aber im ganzen bleiben sie doch nur ein paar hundert Europäer in einem Land, dessen bekanntes Ausmaß damals schon fast so groß ist wie Europa.


So ergibt sich zwingend die Notwendigkeit, der Einwanderung mit Gewalt und Organisation nachzuhelfen. Portugal wendet dafür die schon in Spanien erprobte Methode der Deportation an, indem alle Alcalden des Landes aufgerufen werden, Übeltäter nicht mehr zu richten, sofern sie sich bereit erklären, nach dem neuen Weltteil zu fahren. Wozu die Gefängnisse überfüllen und Verbrecher jahrelang auf Staatskosten verpflegen? Besser, man schickt die degregados auf Nimmerwiederkehr über das Meer in das neue Land; dort können sie am Ende noch nützlich sein. Wie immer ist es scharfer, nicht ganz reinlicher Dünger, der eine Erde am besten für künftige Ernte reif macht.


Die einzigen Kolonisten, die freiwillig kommen, nicht aus Ketten, ohne Brandmal und richterliches Verdikt, sind die Cristãos Novos, die frischgetauften Juden. Aber auch sie kommen nicht ganz freiwillig, sondern aus Vorsicht und Angst. Sie haben in Portugal mehr oder minder aufrichtig die Taufe genommen, um dem Scheiterhaufen zu entgehen, fühlen sich jedoch mit Recht im Schatten Torquemadas nicht mehr sicher. Besser also rechtzeitig hinüber in ein neues Land, solange die grimmige Hand der Inquisition noch nicht über den Ozean zu greifen vermag. Geschlossene Gruppen solcher getaufter und auch ungetaufter Juden lassen sich in den Hafenstädten nieder als die eigentlich ersten bürgerlichen Ansiedler; diese cristãos novos werden die ältesten Familien von Bahia und Pernambuco und gleichzeitig die ersten Organisatoren des Handels. Mit ihrer Kenntnis des Weltmarkts sorgen sie für die Fällung und Verschiffung des pau vermelho, des Brasilholzes, das damals den einzigen Ausfuhrartikel Brasiliens bildete, und dessen Handelskonzession einer der Ihren, Fernando de Noronha, vom König laut Vertrag auf längere Frist erworben hat. Nicht nur portugiesische, sondern auch ausländische Schiffe kommen jetzt ziemlich regelmäßig, um diese seltene Fracht zu holen, und allmählich bilden sich von Pernambuco bis Santos kleine Hafensiedlungen als Urzellen der künftigen Städte. Inzwischen sind in verschiedenen Expeditionen kleine und größere Flotten bis zum Rio de la Plata vorgestoßen und haben die Gemarkung der Küste vorgenommen. Aber noch immer liegt unbekannt und ohne Grenzen hinter dem schmalen Streifen, der für die damalige Welt Brasilien bedeutet, das ganze riesige Land.


Langsam geht es vorwärts in den ersten drei Jahrzehnten und gefährlich langsam. Immer mehr fremde Schiffe besuchen – nach der Auffassung Portugals: widerrechtlich – die neuen Häfen, um Holz zu holen. 1530 entschließt sich der König endlich, um Ordnung zu schaffen, eine kleine Flotte hinüberzusenden unter Martim Alfonso de Sousa, der sofort drei französische Schiffe in flagranti ertappt und als ersten Eindruck dem Könige meldet, was bisher jeder gemeldet: Brasilien muß besiedelt werden, sonst geht es der Krone verloren. Wie immer aber seit Beginn der heroischen Zeit sind die Kassen leer; die Besatzungen in Indien, die Festungen in Afrika, die Aufrechterhaltung des militärischen Prestiges, kurzum, der portugiesische Imperialismus zieht alles Kapital und alle Tatkraft an sich. So muß ein neues Experiment versucht werden, de povoar a terra, oder vielmehr eines, das sich auf den Azoren und Kap Verde bereits bewährt hat: die Förderung der Kolonisierung durch Privatinitiative. Das soviel wie unbewohnte Land wird in zwölf capitanias aufgeteilt und jede einem Manne mit vollem Erbrecht zugeteilt, der sich verpflichten muß – was schon in seinem eigenen Interesse liegt – diesen Strich Land oder vielmehr dieses Reich kolonisatorisch zu entwickeln. Denn was diese Capitane zugeteilt bekommen, sind wirkliche Reiche, jedes so groß wie Frankreich oder Spanien. Ein Adeliger, der in Portugal nichts besitzt, ein Offizier, der sich in den Kämpfen in Indien bewährt hat und Belohnung verlangt, ein Geschichtsschreiber wie João de Barros, dem der König Dank schuldig ist, sie alle erhalten jeder mit einem Federstrich ein Zwölftteil Brasilien, also eine phantastische Region, in der Erwartung, daß sie nun ihrerseits Menschen hinüberziehen würden und damit das verliehene Land wirtschaftlich kultivieren und indirekt dem Heimatland erhalten.


Dieser erste Versuch, in die ganz zufällige und zersplitterte Art der Besiedlung eine gewisse Methode zu bringen, ist großzügig gedacht. Die Vorteile für die donatêrios sind unermeßlich; außer dem Münzrecht sind ihnen bei geringen Pflichten alle Rechte eines souveränen Fürsten eingeräumt; wüßten sie wirklich ein Volk nach sich zu ziehen, so müßten ihre Kinder und Enkel gleichwertig sein allen Monarchen Europas. Aber die Beschenkten sind zumeist ältere Leute, die das Beste ihrer Energie längst in königlichem Dienst verbraucht haben; sie nehmen zwar das verliehene Land als Erbschaft für Kinder und Kindeskinder an, ohne es aber mit tatkräftiger Arbeit für sich selbst wertvoll zu gestalten. In den nächsten Jahrzehnten erweist es sich, daß nur zwei der Capitanias, die von São Vincente und Pernambuco – Nova Lusitânia genannt – dank der rationellen Zuckeranpflanzung prosperieren. Die anderen geraten durch Gleichgültigkeit ihrer Besitzer, durch Mangel an Kolonisten, durch die Feindseligkeit der Eingeborenen und verschiedene Katastrophen zu Wasser und zu Land bald in einen anarchischen Zustand. Die ganze Küste droht in Stücke zu zerfallen; abgesondert voneinander, ohne Übereinkommen, ohne gemeinschaftliches Gesetz, ohne Kriegsmacht, ohne Befestigungen und Soldaten liegen die Capitanias jeder feindlichen Macht, ja sogar jedem einzelnen verwegenen Korsaren täglich zur Beute bereit. Und verzweifelt schreibt am 12. Mai 1548 Luís de Góis an den König: »Wenn Eure Majestät nicht in kürzester Zeit den Capitanias an der Küste zur Hilfe kommen, werden nicht nur wir unser Leben und unsere Besitzungen verlieren, sondern auch Eure Majestät das ganze Land.« Wenn Portugal nicht Brasilien einheitlich organisiert, ist Brasilien verloren. Nur ein entschlossener Vertreter des Königs, ein governador geral, der auch militärische Macht mit sich bringt, kann Ordnung schaffen und rechtzeitig die abbröckelnden Stücke in eine Einheit zusammenschweißen.


Es bedeutet eine große Entscheidung in der Geschichte Brasiliens, daß der König João III. den Hilferuf rechtzeitig erhört und als Gouverneur Tomé de Sousa, einen schon in Afrika und Indien bewährten Mann, am 1. Februar 1549 mit dem Auftrag entsendet, an irgendeiner Stelle, am besten in Bahia, eine Hauptstadt zu begründen, von der aus das ganze Land endlich einheitlich verwaltet werden soll.


Tomé de Sousa bringt außer der erforderlichen Beamtenschaft sechshundert Soldaten und vierhundert Degredados mit, die alle späterhin in der Stadt oder auf dem Lande sich ansiedeln werden. Auch das Nötigste an Material für den Aufbau der Stadt wird ausgeschifft, und sofort macht sich alles gemeinsam ans Werk; in vier Monaten wird eine Festungsmauer errichtet, um den Platz zu verteidigen, Häuser und Kirchen werden errichtet, wo vordem nur klägliche Lehmhütten gestanden. Eine koloniale und eine städtische Verwaltung wird in dem vorläufig noch höchst provisorischen Palêcio do Governo eingerichtet und als sichtbarstes Zeichen einer endlich eingeführten und schon höchst notwendigen Justiz ein cêrcere erbaut, erster mahnender Hinweis auf den Willen zu strenger künftiger Ordnung. Alle sollen fühlen, daß sie nicht mehr Ausgesetzte, Vergessene, Exilierte und Heimatlose sind jenseits von Recht und Pflicht, sondern angeschlossen an das heimische Gesetz. Mit der Gründung einer Hauptstadt und der Einsetzung eines Gouverneurs hat der bisher bloß amorphe Organismus Brasilien ein Herz und ein Hirn gewonnen.


Sechshundert Soldaten oder Matrosen und vierhundert Degredados nimmt Tomé de Sousa mit sich, tausend Männer im Harnisch oder rauhen Arbeitshemd; aber wichtiger als diese tausend Männer des Arms und der Kraft werden für das Schicksal Brasiliens die sechs Männer in schlichten dunklen Kutten sein, die der König zu geistiger Führung und geistlicher Beratung Tomé de Sousa mitgegeben. Denn diese sechs Männer bringen das Kostbarste, was ein Volk und ein Land zu seiner Existenz benötigt: eine Idee und zwar die eigentlich schöpferische Idee Brasiliens. Diese sechs Jesuiten haben eine neue und noch ganz unverbrauchte Energie, denn ihr Orden ist jung und voll heiligen Eifers, seinen besonderen Sinn zu bewähren. Noch lebt der Führer Ignacio de Loyola, der ihn begründet, noch gibt sein asketischer Wille, seine eherne Denkkraft, sein zielklarer Fanatismus ihnen sinnliches, sichtliches Beispiel der Selbstdisziplin; wie bei allen religiösen Bewegungen ist bei den Jesuiten die seelische Intensität, die sittliche Reinheit in den Jahren des Anfangs und vor dem eigentlichen Erfolg auf der höchsten Stufe. 1550 sind die Jesuiten noch keine geistliche, weltliche, politische, ökonomische Macht wie in den späteren Jahrhunderten – denn jede Form von Macht vermindert die moralische Reinheit eines Menschen wie einer Partei. Besitzlos in jedem Sinne der einzelne wie der Orden, verkörpern sie nur einen bestimmten Willen, also ein durchaus noch geistiges, noch nicht ins Irdische ganz eingemengtes Element. Und sie kommen zur besten Stunde, denn für ihre großartige Konzeption, durch geistige Kriegerschaft die religiöse Einheit der Welt wiederherzustellen, bedeutet die Entdeckung der neuen Erdteile einen unerhörten Gewinn. Seit 1519 der wilde Deutsche auf dem Reichstag von Worms den religiösen Weltkrieg entfachte, ist Europa schon zu einem Drittel und beinahe zur Hälfte von der Kirche abgefallen und der Katholizismus, einstmals die ecclesia universalis, eher in die Verteidigungsstellung gedrängt. Welcher Vorteil darum, wenn man die neuen Welten, die sich plötzlich aufgetan haben, rechtzeitig für den alten, den wahren Glauben erobern und damit gleichsam eine zweite und breitere Front hinter der ersten schaffen könnte! Da die Jesuiten nichts fordern, keine Besoldung, keine Bevorzugung, billigt der König João ihre Absicht, dies neue Land für den Glauben zu gewinnen und gestattet sechs dieser »Soldaten Christi«, die Expedition zu begleiten. Aber in Wirklichkeit werden diese Sechs nicht die Begleiter, sondern die Führer sein.


Mit diesen sechs Männern beginnt etwas Neues für Brasilien. Alle vor ihnen waren entweder auf Befehl oder aus Zwang oder auf der Flucht gekommen; wen bislang ein Schiff absetzte an diesem Strand, der wollte etwas aus diesem Lande herausholen, Holz oder Früchte oder Vögel oder Erze oder Menschen; keiner hatte daran gedacht, dem Lande etwas als Gegengabe zu bringen. Die Jesuiten, das sind die ersten, die nichts für sich und alles für das Land wollen. Sie führen Pflanzen und Tiere mit sich, um die Erde zu befruchten, sie bringen Medizinen, um die Menschen zu heilen, Bücher und Instrumente, um die Ungebildeten zu belehren, sie bringen ihren Glauben und die von ihrem Lehrer disziplinierte sittliche Zucht, sie bringen vor allem eine neue Idee, die größte kolonisatorische Idee der Geschichte. Vor ihnen bei den barbarischen Völkern und neben ihnen unter dem spanischen Regime bedeutet Kolonisieren entweder die Eingeborenen ausrotten oder zu Tieren machen; Entdeckung ist sonst für die Konquistadorenmoral des sechzehnten Jahrhunderts identisch mit Eroberung, Unterordnung, Unterjochung, Entrechtung, Versklavung. Sie dagegen als os únicos homens disciplinados do seu tempo, wie sie Euclides da Cunha nannte, denken über diesen Raubbauprozeß hinaus an den Aufbauprozeß, an die nächsten Generationen und antizipieren vom ersten Augenblick im neuen Lande die moralische Gleichsetzung aller mit allen. Gerade weil die Urbevölkerung im Tiefstand lebt, soll sie nicht noch tiefer zu Tierheit und Sklaverei herabgedrückt werden, sondern zum Menschen erhoben und auf dem Wege über das Christentum zur abendländischen Zivilisation geführt werden: eine neue Nation soll hier durch Mischung und Erziehung entwickelt werden. Dieser schöpferischen Idee dankt es im letzten Brasilien, daß es aus einem Konglomerat verschiedenster Elemente ein Organismus und aus den offenbarsten Gegensätzen eine Einheit geworden ist.


Selbstverständlich wissen die Jesuiten, daß eine Aufgabe solcher Tragweite nicht sofort zu lösen ist. Die Jesuiten sind keine vagen und verworrenen Träumer und ihr Lehrer Ignacio de Loyola kein Franz von Assisi, der an eine milde Brüderlichkeit der Menschen glaubt. Sie sind Realisten und durch ihre Exerzitien geschult, Tag für Tag neu die Energie zu stählen, um den unermeßlichen Widerstand der menschlichen Schwächen in der Welt zu überwinden. Sie wissen um die Gefährlichkeit und Langwierigkeit ihrer Aufgabe. Aber gerade daß ihr Ziel von Anfang an vollkommen ins Weite, ins Jahrhundertweite, ja ins Ewige gerichtet ist, hebt sie so großartig ab von der Beamtenschaft und Kriegerschaft, die raschen und sichtbaren Gewinn für sich und das Heimatland wollen. Die Jesuiten wissen genau, daß Generationen und Generationen nötig sein werden, um diesen Prozeß des abrasileiramento zu vollenden, und daß jeder von ihnen, der sein Leben, seine Gesundheit, seine Kraft an diesen Anfang wagt, auch nicht die flüchtigsten Resultate seiner Bemühungen jemals selbst erschauen wird. Es ist mühsame Saatarbeit, die sie beginnen, mühsame und scheinbar aussichtslose Investition, aber gerade daß sie in völlig ungepflügtem Land einsetzt und in einem Land ohne Grenzen, steigert ihre Anspannung, statt sie zu vermindern; wie das rechtzeitige Kommen der Jesuiten ein Glücksfall für Brasilien, so ist Brasilien ein Glücksfall für sie, weil die ideale Werkstatt für ihre Idee. Nur dadurch, daß niemand vor ihnen hier wirkte und niemand neben ihnen wirkt, können sie ein welthistorisches Experiment hier im vollen Umfang verwirklichen, Materie und Geist, Stoff und Form, ein leeres, völlig unorganisiertes Land und eine noch unerprobte Methode der Organisation begegnen sich, um etwas Neues und Lebendiges zu schaffen.


Ein besonderes Glück in dieser glücklichen Begegnung einer gewaltigen Aufgabe und einer noch gewaltigeren Energie, die sich anschickt, sie zu bewältigen, ist die Gegenwart eines wirklichen Führers. Manuel da Nóbrega, dem der Auftrag seines Provinzials, nach Brasilien zu reisen, derart rasch zufällt, daß er nicht einmal Zeit mehr hat, von dem Meister des Ordens, Ignacio de Loyola, in Rom persönliche Instruktionen zu empfangen, steht in der Fülle seiner Kraft. Er ist zweiunddreißig Jahre alt und hat auf der Universität Coimbra studiert, ehe er in den Orden eingetreten ist; aber nicht seine besondere theologische Gelehrsamkeit gibt ihm die historische Größe, sondern seine ungeheure Energie und seine sittliche Kraft. Nóbrega – schon durch einen Sprachfehler gehemmt – ist nicht wie Vieira ein großer Prediger, nicht wie Anchieta ein großer Schriftsteller. Er ist im Geiste Loyolas vor allem Kämpfer. Bei den Expeditionen zur Befreiung Rio de Janeiros ist er die antreibende Kraft der Armee und der strategische Berater des Gouverneurs, in der Verwaltung bewährt er die idealen Fähigkeiten eines genialen Organisators, und die Klarsichtigkeit, die man aus seinen Briefen spürt, paart sich mit einer heroischen Energie, die keine Selbstaufopferung scheut. Rechnet man nur die Reisen zusammen, die er in jenen Jahren vom Norden zum Süden und wieder zum Norden und quer durch das Land unternommen, so ergeben schon diese Inspektionsfahrten hunderte und vielleicht tausende Nächte voll Sorge und Gefahr. In all diesen Jahren ist er Gouverneur neben dem Gouverneur, Lehrer über und neben den Lehrern, Städtegründer und Friedensstifter, und so gibt es kein wichtiges Geschehnis in der damaligen Geschichte Brasiliens, das nicht mit seinem Namen verbunden wäre. Die Wiedergewinnung des Hafens von Rio de Janeiro, die Gründung von São Paulo und Santos, die Befriedung der feindlichen Stämme und die Errichtung der collégios, die Organisation des Unterrichts, die Errettung der Einheimischen vor der Sklaverei sind in erster Linie seine Tat. Überall war er im Beginn; mögen die Namen seiner Schüler und Nachfahren Anchieta und Vieira im Lande späterhin populärer geworden sein als der seine, so sind sie doch nur Fortentwickler seiner Idee gewesen. Wo sie bauten, fanden sie schon das Fundament. In der Geschichte Brasiliens, dieser obra sem exemplo na História, war es Nóbregas Hand, die das erste Blatt beschrieb, und jeder Zug dieser energischen und festen Hand ist unauslöschlich geblieben bis in die Gegenwart.


Die ersten Tage nach der Ankunft widmen die Jesuiten der Rekognoszierung der Situation. Ehe sie lehren, wollen sie lernen, und sofort macht einer der Brüder sich ans Werk, um möglichst schnell die Sprache der Eingeborenen zu meistern. Daß die Eingeborenen sich noch auf dem tiefsten Tiefstand der nomadischen Epoche befinden, zeigt schon der erste Blick. Sie gehen völlig nackt, kennen keine Arbeit, haben weder Schmuck noch das primitivste Gerät. Was sie zum Leben brauchen, holen sie von den Bäumen oder aus den Flüssen, sobald eine Gegend abgegrast ist, ziehen sie weiter. An sich eine gutmütige und sanfte Rasse, führen sie Krieg untereinander nur, um Gefangene zu machen, die sie dann unter großen Festlichkeiten verzehren. Aber auch dieser kannibalische Brauch stammt nicht aus einer besonderen Grausamkeit ihrer Natur; im Gegenteil, diese Barbaren geben dem Gefangenen noch ihre Tochter zur Frau und hegen und pflegen ihn, ehe sie ihn schlachten. Wenn die Priester versuchen, sie des Kannibalismus zu entwöhnen, so stoßen sie mehr auf verwundertes Erstaunen als auf wirklichen Widerstand, denn diese Wilden leben noch völlig jenseits jeder kulturellen oder moralischen Erkenntnis, und Gefangene zu verzehren bedeutet für sie nichts als ein ebenso festlich unschuldiges Vergnügen wie Trinken, Tanzen oder mit Frauen Schlafen.


Dieser ungeheure Tiefstand der Lebenshaltung scheint zunächst eine unüberwindliche Hemmung für das Werk der Jesuiten, in Wirklichkeit aber erleichtert er ihnen ihre Aufgabe. Denn da diese nackten Wesen überhaupt keine religiösen oder sittlichen Vorstellungen besitzen, ist es viel leichter, ihnen welche beizubringen als Völkern, bei denen ein eigener Kult schon vorwaltet und wo Zauberer, Priester und Schamanen dem Missionar mit Erbitterung entgegentreten. Die brasilianische Urbevölkerung dagegen ist ein »unbeschriebenes Blatt«, ein papel em branco, wie Nóbrega sagt, das weich und gefügig die neue Vorschrift aufnimmt und jeder Belehrung vollen Raum läßt. Überall empfangen die Eingeborenen die brancos, die Priester ohne jedes Mißtrauen: Onde quer que vamos, somos recebidos com grande boa vontade. Sie lassen sich ohne Zögern taufen und folgen – warum auch nicht? – den Priestern, den »guten Weißen«, die sie vor den andern, den »wilden Weißen« schützen, willig und dankbar in die Kirche. Selbstverständlich wissen die Jesuiten als gelernte und immer wache Realisten, daß diese träge, gedankenlose Zustimmung, das Niederknien und Kreuzeschlagen von Kannibalen noch lange kein wirkliches Christentum ist – selbst bei dem berühmten Verteidiger ihrer Mission in São Paulo bei Tibiriçê erleben sie gelegentliche Rückfälle in den Kannibalismus – und sie vergeuden nicht ihre Zeit mit prahlerischen Statistiken über die schon gewonnenen Seelen. Sie wissen, daß ihre eigentliche Aufgabe in der Zukunft liegt. Zunächst einmal nur die nomadische Masse an stabilen Stätten anwurzeln lassen, damit man ihre Kinder erfassen und belehren kann. Das gegenwärtige kannibalische Geschlecht ist nicht mehr ernstlich zu kultivieren. Aber ihre Kinder und Kindeskinder, also die kommenden Generationen, im Sinne der Kultur auszubilden, kann leicht gelingen. Darum ist es den Jesuiten das Wichtigste, Schulen einzurichten, in denen sie, weit vorausblickend, mit jener Idee systematischer Vermischung beginnen, die Brasilien zur Einheit geformt und allein als Einheit erhalten hat. Bewußt vereinen sie Kinder aus den Strohhütten der Wilden mit den schon zahlreichen Mischlingen und fordern dringend weiße Kinder aus Lissabon, mögen es auch nur die verwahrlosten, die verlassenen Kinder sein, die in den Straßen Lissabons aufgelesen werden. Jedes neue Element, das die Mischung befördert, ist ihnen willkommen, sogar die moços perdidos, ladrões e maus que aqui chamam de patifes. Denn es gilt für sie, da die Eingeborenen gleichfarbigen oder mischfarbigen Brüdern bei dem religiösen Unterricht mehr Vertrauen schenken als den Fremden, den Weißen, sich die Lehrer des Volkes aus dem eigenen Blut des Volkes zu schaffen. Im Gegensatz zu den andern denken sie ausschließlich in und für kommende Generationen; strenge und klare Realisten und Rechner, haben sie als einzige eine wirkliche Vision des kommenden, des werdenden Brasiliens, und noch ehe irgendein Geograph die räumliche Größe dieses Landes ahnt, stellen sie ihre Arbeit auf den richtigen Maßstab ein. Es ist ein Feldzugsplan für die Zukunft, den sie entwerfen, und sein letztes Ziel bleibt unverrückbar durch die Jahrhunderte: Formung dieses neuen Landes im Geist einer einzigen Religion, Sprache und Idee. Daß dieses Ziel erreicht wurde, bleibt Brasiliens dauernde Dankesschuld an diese ersten Schöpfer ihrer Staatsidee.


Der eigentliche Widerstand, auf den die Jesuiten mit ihrem großzügigen Kolonisationsplan stoßen, kommt nicht, wie man zuerst erwarten konnte, von den Eingeborenen, den Wilden, den Kannibalen; er kommt von den Europäern, den Christen, den Kolonisten. Bisher war für diese entlaufenen Soldaten, desertierten Matrosen, für die Desgregados Brasilien ein exotisches Paradies gewesen, ein Land ohne Gesetze und Einschränkungen und Verpflichtungen, in dem jeder tun und lassen konnte, was ihm beliebte. Ohne von Justiz oder Autorität ernstlich behelligt zu werden, konnten sie den wüstesten Trieben freien Lauf gewähren; was in ihrem Heimatland mit Kette und Brandmarkung geahndet wurde, galt hier als erlaubtes Vergnügen gemäß der Conquistadorendoktrin: Ultra equinoxialem non peccatur. Sie beschlagnahmten Land, wo und wieviel sie wollten, sie holten sich Eingeborene, wo sie sie gerade fanden und ließen sie unter der Peitsche roboten. Sie nahmen jede Frau, die ihnen über den Weg lief, und die ungeheure Zahl der Mischkinder illustrierte bald die Verbreitung dieser wilden Vielweiberei. Niemand war zur Stelle, ihnen Autorität aufzuzwingen, und so lebte jeder dieser Gesellen, die meist noch die Brandmale des Zuchthauses auf den Schultern trugen, wie ein Pascha, ohne sich um Recht und Religion zu kümmern und vor allem ohne jemals selbst die Hand zu wirklicher Arbeit zu rühren. Statt das Land zu zivilisieren, waren diese ersten Kolonisten selber verwildert.


Dieser rüden, an Müßiggang und Selbstherrlichkeit gewöhnten Rotte wieder Zucht beizubringen, bedeutete eine harte Aufgabe. Was die frommen Brüder am meisten entsetzt, ist die zügellose Vielweiberei, das braune Haremswesen. Aber anderseits, wie diese Männer anklagen, daß sie hier in wildem Konkubinat leben, da doch gar keine Möglichkeit für sie besteht, legal zu heiraten und eine Familie zu gründen? Denn wie eine Familie gründen, die allein Grundlage bürgerlicher Gesittung werden kann, wenn weiße Frauen völlig fehlen? So drängt Nóbrega den König, er möge Frauen aus Portugal herüberschicken: Mande Vossa Alteza mulheres órfãs, porque tôdas casarão. Und da nicht zu erwarten ist, daß die Fidalgos Portugals ihre Töchter in das weite und entlegene Land senden werden, damit sie sich unter diesen wüsten Gesellen einen Gemahl suchen, geht Nóbrega in seiner Großzügigkeit sogar so weit, den König zu bitten, er möge auch die gefallenen Mädchen, die Dirnen aus den Straßen Lissabons herüberspedieren. Hier fände jede einen Mann. Nach einiger Zeit gelingt es den vereinten geistlichen und amtlichen Autoritäten tatsächlich, in den Sitten wieder eine gewisse Ordnung zu schaffen. Aber in einem Punkte stoßen sie bei der ganzen Kolonie auf erbitterten Widerstand – in der Frage der Sklaverei, die vom Anfang bis zum Ende, von 1500 bis fast 1900, die Crux des brasilianischen Problems bleiben wird. Die Erde braucht Hände, und es sind nicht genug Hände da. Die wenigen Kolonisten reichen nicht aus, um das Zuckerrohr zu pflanzen und in den engenhos, den primitiven Fabriken zu arbeiten; außerdem sind diese Abenteurer und Conquistadoren nicht deshalb über das Meer in dies tropische Land gekommen, um hier mit Hacke und Schaufel zu werken. Sie wollen hier Herren sein; so hatten sie sich einfach geholfen, indem sie die Eingeborenen wie Hasen einfingen und sie dann unter der Peitsche roboten ließen, bis sie zusammenbrachen; die Erde gehört ihnen, argumentieren sie, mit allem, was darüber und darunter ist, also auch alle diese zweibeinigen braunen Tiere, gleichgültig ob sie bei der Arbeit verrecken oder nicht; für jeden Toten holt man sich in der munteren caça al branco ein Schock neuer ein und hat dazu noch einen sportlichen Spaß.


Gegen diese bequeme Auffassung greifen nun die Jesuiten energisch ein, denn die Versklavung und Entvölkerung des Landes geht schroff ihrem weitreichenden und wohldurchdachten Plan zuwider. Sie können es nicht dulden, daß die Kolonisten die Eingeborenen zu Arbeitstieren herabdrücken, weil sie sich es doch gerade als die wesentlichste Aufgabe gesetzt haben, diese Unbelehrten dem Glauben, der Erde und der Zukunft zu gewinnen. Jeder freie Eingeborene bedeutet für sie ein notwendiges Objekt der Besiedlung und Zivilisierung. Während es bislang im Interesse der Kolonisten lag, die einzelnen Stämme zu fortwährenden Kriegen gegeneinander zu hetzen, damit sie einander rascher ausrotten und man außerdem nach jedem Kriegszug die erbeuteten Gefangenen als billige Ware kaufen könnte, suchen die Jesuiten die Stämme untereinander zu versöhnen und in dem gewaltigen Raume durch Ansiedlung zu isolieren. Der Eingeborene stellt für sie als künftiger Brasilianer und gewonnener Christ die vielleicht kostbarste Substanz dieser Erde dar, wichtiger als das Zuckerrohr, das Brasilholz und der Tabak, um derentwillen sie geknechtet und ausgerottet werden sollen. Als die wesentliche, die gottgewollte Nahrung wollen sie diese noch ungeformten Menschen in die Scholle einsetzen, ebenso wie die fremden Früchte und Pflanzen, die sie von Europa mitgebracht haben, statt sie verkümmern und weiter verwildern zu lassen. Ausdrücklich haben sie sich darum vom König die Freiheit der Eingeborenen ausbedungen, in ihrem Plan soll es im künftigen Brasilien nicht eine Herrennation von Weißen und eine Sklavennation von Farbigen geben, sondern nur ein einheitliches freies Volk auf freier Erde.


Freilich, selbst ein königlicher Brief und Auftrag verliert dreitausend Meilen weit viel von seiner gebieterischen Kraft, und ein Dutzend Priester, von denen die Hälfte immer auf ruhelosen Missionsfahrten das Land durchwandert, sind zu schwach gegen den selbstsüchtigen Willen der Kolonie. Um wenigstens einen Teil der Eingeborenen zu retten, müssen die Jesuiten in der Sklavenfrage paktieren. Sie müssen die angeblich im »gerechten« Kriege, das heißt im Verteidigungskriege gegen die Eingeborenen gemachten Gefangenen den Kolonisten als Sklaven konzedieren, und selbstverständlich findet diese Verklausulierung die allerbiegsamste und unkontrollierbarste Auslegung. Außerdem sind sie genötigt, um nicht beschuldigt zu werden, das rasche Fortschreiten der Kolonie zu verunmöglichen, den Import afrikanischer Neger zu befürworten; selbst diese geistig hochstehenden und human gesinnten Männer können sich nicht der Anschauung der Zeit entziehen, für die der Negersklave ein ebenso selbstverständlicher Handelsartikel ist wie Wolle oder Holz. In jenen Jahren beherbergt Lissabon, die europäische Hauptstadt, schon zehntausend schwarze Sklaven; wie sie dann dem Kolonialland verweigern? Sogar die Jesuiten selbst sind genötigt, sich Neger anzuschaffen; mit voller Gleichmütigkeit berichtet in einem Atemzug Nóbrega, er habe drei Sklaven und einige Kühe angeschafft für sein Kollegium. Aber an dem Prinzip, daß die Eingeborenen Brasiliens nicht Freiwild jedes hergelaufenen Abenteurers sind, halten die Jesuiten unbeugsam fest; sie schützen jeden ihrer Täuflinge, und die ethische Unbeugsamkeit, mit der sie für das Recht der braunen Brasilianer kämpfen, wird ihr Verhängnis sein. Nichts hat die Situation der Jesuiten in Brasilien so schwierig gemacht wie dieser Kampf um die brasilianische Idee der Besiedlung und Beseelung des Landes durch freie Menschen, und wehmütig bekennt einer von ihnen: »Viel ruhiger hätten wir gelebt, wenn wir bloß in den Kollegien geblieben wären und uns darauf beschränkt hätten, einzig religiösen Dienst zu tun.« Aber der Gründer ihres Ordens war nicht umsonst vordem Soldat gewesen, er hatte seine Schüler zum Kampf erzogen für eine Idee. Und diese Idee haben sie mit ihrem Leben in das Land getragen: die Idee Brasiliens.


Es zeigt den großen Strategen in Nóbrega, daß er bei seinem Eroberungsplan des künftigen Reiches sofort den richtigen Punkt für den Brückenschlag in die Zukunft erkannte. Bald nach seiner Ankunft in Bahia hatte er seine erste Ausbildungsschule errichtet und mit den nachgekommenen Brüdern in mühevollen, anstrengenden Fahrten die ganze Küste von Pernambuco bis hinab nach Santos visitiert, wo er São Vincente begründet. Aber noch immer hat er nicht die richtige Stelle gefunden für das Hauptkollegium, für das geistige und geistliche Nervenzentrum, das nach und nach das ganze Land durchdringen soll. Auf den ersten Blick ist dieses sorgliche, wohl überlegende Suchen Nóbregas nach einem richtigen Stützpunkt unverständlich. Warum verlegt er sein Hauptquartier nicht nach Bahia, der Hauptstadt, dem Sitz des Gouverneurs und des päpstlichen Bischofs? Aber hier wird man zum erstenmal eines geheimen Gegensatzes gewahr, der mit der Zeit sich zu einem offenen und schließlich sogar gewalttätigen auswirken wird. Der Orden Loyolas will nicht unter staatlicher und nicht einmal unter päpstlicher Kontrolle sein Werk beginnen; den Jesuiten geht es von der ersten Stunde an bei Brasilien um ein höheres Spiel und Ziel, als dort bloß ein lehrendes, helfendes, der Krone und der Curie untergeordnetes Kolonisationselement zu sein. Brasilien bedeutet für sie ein entscheidendes Experiment, die erste Probe für die Realisationsfähigkeit ihrer organisatorischen Kraft, und Nóbrega spricht es unumwunden aus: esta terra é nossa emprêsa, »dieses Land ist unsere Aufgabe« und meint damit: wir sind für ihre Lösung vor Gott und den Menschen verantwortlich. Verantwortung will der Starke aber nur allein tragen. Die Jesuiten – dies der Grund des geheimen Mißtrauens, das sie in Brasilien von Anfang an durch die Geschichte begleitet – hatten zweifelsohne ein besonderes, ein persönlich durchdachtes und den andern nicht ganz erkennbares Ziel. Was sie – bewußt oder unbewußt – anstrebten, war nicht bloß die Heranbildung einer portugiesischen Kolonie unter all den andern portugiesischen Kolonien, sondern eine theokratische Gemeinschaft, ein neuartiges, den Kräften des Geldes und der Gewalt nicht unterworfenes Staatsgebilde, wie sie es ja später in Paraguay zu gründen versuchten. Von der ersten Stunde an wollten sie mit Brasilien etwas Einmaliges, etwas Neues, etwas Vorbildliches schaffen, und eine solche neuartige Konzeption mußte früher oder später mit den bloß merkantilen und feudalistischen Ideen des portugiesischen Hofes in Konflikt geraten; sicher ging es ihnen nicht, wie ihre Gegner sie beschuldigten, um eine Besitznahme Brasiliens im souveränen oder kapitalistischen Sinne für ihren Orden und dessen Zwecke.


Aber daß sie mehr mit Brasilien wollten als dort bloß Prediger des Evangeliums sein, daß sie mehr und etwas anderes als die anderen geistlichen Orden mit ihrer Anwesenheit dort einsetzen und durchsetzen wollten, das spürte von Anfang an die Regierung, die sich ihrer dankbar bediente und sie doch mit einem leisen Mißtrauen überwachte, das spürte die Curie, die ihre geistige Autorität mit niemandem zu teilen geneigt war, das spürten die Kolonisten, die sich in ihrem rücksichtslosen Raubbau von den Ordensbrüdern gehemmt fühlten. Gerade weil sie nichts Sichtbares wollten, sondern die Durchsetzung eines geistigen, eines idealistischen, und darum den Tendenzen der Zeit unfaßbaren Prinzips, hatten sie von Anfang ständig Widerstand gegen sich, dem sie schließlich erliegen mußten, ausgestoßen aus dem Lande, dem sie trotz allem und allem den Keim der Befruchtung eingesenkt haben. Es war also vollkommen wohlüberlegt, daß Nóbrega, um diesen Konflikt der Kompetenzen möglichst lange zu vermeiden, sein Rom, seine geistige Hauptstadt abseits von der Residenz des Gouverneurs und des Bischofs anlegen wollte; nur wo er ungehindert und unbeaufsichtigt wirken konnte, vermochte jener langsame und mühevolle Prozeß der Kristallisierung zu gelingen, der ihm vorschwebte. Diese Rückverlegung des Wirkungszentrums von der Küste ins Binnenland bedeutete im geographischen Sinn wie zum Zweck der Katechisierung einen wohlerwogenen Vorteil. Nur eine Wegkreuzung im Land, geschützt einerseits gegen piratische Angriffe von der See her durch die Bergkette und doch nahe dem Ozean, nahe aber auch anderseits zu den verschiedenen Stämmen, die der Zivilisation zu gewinnen und aus dem Nomadischen zum Seßhaften zu erziehen waren, konnte die ideale Keimzelle bilden.


Nóbregas Wahl fällt auf Piratininga, das heutige São Paulo, und die spätere historische Entwicklung hat die Genialität seiner Entscheidung bestätigt, denn die Industrie, der Handel, der Unternehmungsgeist Brasiliens sind noch nach Hunderten von Jahren seiner inspirativen Wahl nachgefolgt; an derselben Stelle, wo er am 24. Januar 1554 jene paupérrima e estreitíssima casinha im Verein mit seinen Helfern errichtet, steht heute mit Hochhäusern, Fabriken und menschenüberfüllten Straßen eine moderne Weltstadt. Nóbrega hätte nicht besser wählen können. Das Klima auf diesem Hochplateau ist gemäßigt, die Erde satt und fruchtbar, ein Hafen nahe und durch Flußläufe die Verbindung mit dem großen Wasserlauf des Paranê und Paraguay und damit des la Plata gesichert; von hier aus können nach allen Richtungen die Missionare zu den verschiedenen Stämmen vordringen und ihr Belehrungswerk radial ausstrahlen lassen. Außerdem besteht vorläufig keine die Sitten korrumpierende Kolonie von Degredados in der Nähe der kleinen Siedlung, die bald die Freundschaft der Nachbarstämme durch kleine Geschenke und gute Behandlung zu gewinnen weiß. Ohne viel Mühe lassen sich die Eingeborenen von den Priestern zu kleinen aldeias, zu jenen Wirtschaftsgemeinschaften vereinigen, die ziemliche Ähnlichkeit mit den heutigen russischen »Kollektivs« haben, und nach kurzer Zeit kann Nóbrega bereits melden: Vai-se fazendo uma formosa povoação. Noch hat der Orden nicht wie in späteren Zeiten selbst reichlichen Grundbesitz, und die sparsamen Mittel verstatten zunächst nur das Kollegium in kleinen Proportionen zu entwickeln. Aber immerhin werden hier bald eine ganze Reihe von Brüdern herangebildet, weiße und farbige, die, sobald sie der Landessprache mächtig sind, als missões volantes von Stamm zu Stamm ziehen, um immer neue Nomaden zur Seßhaftigkeit zu bewegen und für den Glauben zu gewinnen. Ein Knotenpunkt ist geschaffen, die erste escola para muitas nações de índios, und rasch bildet sich zwischen dem Missionar und den angesiedelten Stämmen ein ehrliches Gefühl der Solidarität; bei dem ersten Überfall schweifender Banden sind es schon die Neugetauften, die mit leidenschaftlicher Aufopferung unter der Führung ihres Häuptlings Tibiriças den Angriff abwehren. Das große Experiment nationaler Besiedlung unter geistlicher Führung, das dann in der Jesuitenrepublik von Paraguay seine einmalige Gestaltung finden wird, hat begonnen.


Die Gründung Nóbregas bedeutet aber auch einen großen Fortschritt im nationalen Sinne. Zum erstenmal ist ein gewisses Gleichgewicht für den künftigen Staat geschaffen. Während vordem Brasilien eigentlich nur ein Streifen Küste war mit seinen drei oder vier Hafenstädten im Norden, die einzig mit tropischen Produkten handelten, beginnt nun auch im Süden und im inneren Land Kolonisation sich zu entwickeln. Bald werden diese langsam gesammelten Energien schöpferisch vorstoßen und aus eigener Neugier und Ungeduld das Land sich selbst in seinen Formen und Flüssen, in seiner Weite und Tiefe entdecken. Mit der ersten disziplinierten Innensiedlung hat sich die vorgefaßte Idee bereits in Saat und Tat verwandelt.


Brasilien ist etwa fünfzig Jahre alt, da es nach embryonischen ungewissen Regungen zum erstenmal Zeichen wirklich bewußten Eigenlebens zu geben beginnt. Langsam treten die ersten Resultate kolonialer Organisation in Erscheinung. Die Zuckerplantagen von Bahia und Pernambuco werfen, obwohl noch primitiv gehandhabt, reichlich Gewinn ab. Öfter und öfter streifen Schiffe heran, um Rohprodukte zu holen und gegen Waren einzutauschen; es sind noch nicht viele, die sich herab nach Brasilien wagen, und kaum gibt ein Buch Bericht von dieser weiträumigen Welt. Aber gerade die zögernde und sporadische Art, mit der sich die Kolonie im Welthandel bemerkbar macht, ist im letzten Sinn Brasiliens Glück, weil es ihm eine organische Entwicklung gewährt. In Zeiten der Eroberung und der Gewalt bedeutet es immer eher einen Vorteil für ein Land, wenn es unbeachtet und unbegehrlich bleibt; die Schätze, die Albuquerque in Indien und den Molukken erspäht hat, die Beute, die Cortez aus Mexiko und Pizarro aus Peru heimbringt, lenken eigentlich in glücklichster Weise die Aufmerksamkeit und Besitzgier der anderen Nationen von Brasilien ab. Noch immer gilt das »Papageienland« als eine quantité négligeable, um die sich weder das eigene Land noch die andern ernstlich bemühen.


Es ist darum eigentlich kein ausgesprochen kriegerischer Akt, wenn am 10. November 1555 eine kleine Flotte unter französischer Flagge in der Bucht von Guanabara erscheint und dort auf einer der Inseln ein paar hundert Leute landet. Denn sie stören de facto damit keinen fremden Besitz. Rio de Janeiro ist damals noch keine Stadt und kaum eine Niederlassung. In den paar verstreuten Hütten findet sich kein Soldat, kein Beamter des portugiesischen Königs, und der sonderbare Abenteurer, der hier die Fahne hißt, begegnet keinerlei Widerstand bei seinem kühnen Abenteurerstreich. Zweideutige und attraktive Figur, dieser Rhodosritter Nicolas Durand de Villegaignon, halb Pirat, halb Gelehrter und ein ganzes blutechtes Stück Renaissance. Er hat Maria Stuart aus Schottland an den französischen Königshof gebracht, im Kriege sich ausgezeichnet, in den Künsten dilettiert. Er ist gerühmt von Ronsard und gefürchtet vom Hofe, weil unberechenbar, ein quecksilberner Geist, dem jede geregelte Tätigkeit widerwärtig ist und der das beste Amt, die höchsten Würden verachtet, um lieber frei und ungehemmt seinen oft phantastischen Launen nachgeben zu können. Den Hugenotten gilt er als Katholik, den Katholiken als Hugenotte. Niemand weiß, welcher Sache er dient, und er weiß vielleicht selbst nichts anderes von sich, als daß er irgend etwas Großes und Besonderes tun möchte, etwas anders als die anderen, etwas Wilderes, Verwegeneres, Romantischeres und Eigenartigeres. In Spanien wäre er ein Pizarro geworden oder ein Cortez, aber sein König, vollauf im Lande beschäftigt, organisiert keine kolonialen Abenteuer; so muß der ungeduldige Villegaignon eines auf eigene Faust erfinden. Er rafft ein paar Schiffe zusammen, lädt sie voll mit ein paar hundert Mann, meistens Hugenotten, die sich im Frankreich der Guisen unbehaglich fühlen, aber auch Katholiken, die in die neue Welt wollen, und, ruhmsüchtig im höchsten Grade, nimmt er sich vorsichtsweise gleich einen Geschichtsschreiber, André Thévet, mit, denn er hat keinen geringeren Traum als eine »France Antarctique« zu gründen, deren Schöpfer, Gouverneur oder vielleicht sogar eigenwilliger Fürst er sein will. Wieweit der französische Hof diese Pläne gekannt, wieweit er sie gebilligt und sogar gefördert hat, ist kaum ersichtlich. Wahrscheinlich hätte im Falle eines Erfolgs König Heinrich sich seine Tat ebenso zu eigen gemacht wie Elisabeth von England die ihrer Piraten Raleigh und Drake; zunächst läßt man Villegaignon bloß als Privatperson sein Glück versuchen, um nicht gegenüber Portugal durch eine offizielle Mission und Annexion ins Unrecht zu kommen.


Villegaignon, als bewährter Soldat zunächst auf Verteidigung bedacht, errichtet sofort nach seiner Ankunft auf der heute nach ihm benannten Insel ein Fort Coligny zu Ehren des hugenottischen Admirals, während er die gegenüberliegende künftige Stadt – vorläufig nichts als Sumpf und leere Hügel – aus Respekt für seinen König großspurig Henriville tauft. Unbedenklich in religiösen Dingen, holt er, da er für diese erträumte Kolonie in Frankreich keine anderen Katholiken mehr findet, sich 1556 eine weitere Ladung Calvinisten aus Genf herüber, was innerhalb der kleinen Niederlassung bald zu religiösen Zänkereien führt. Zweierlei Prediger, die sich gegenseitig Ketzer nennen, sind zuviel auf einer engen Insel. Aber immerhin, die France Antarctique ist begründet, und die Franzosen stehen, da sie keine Sklavenräuberei dulden, bald in bestem Einvernehmen mit den Eingeborenen, mit denen sie regen Handel treiben; von nun ab pendeln, als wäre es ihr rechtmäßiger Hafen, französische Schiffe regelmäßig zwischen dieser von Frankreich noch nicht offiziell anerkannten Siedlung und dem Heimatland hin und her.


Dem portugiesischen Gouverneur in Bahia kann dieser Einbruch keineswegs gleichgültig bleiben. Nach dem damals gültigen Rechtsprinzip sind die brasilianischen Küsten ein mare clausum, an dessen Küsten fremde Schiffe weder landen noch Handel treiben dürfen; gar eine Festung mit fremdem Militär im besten Hafen der Kolonie anzulegen bedeutet die Trennung von Süden und Norden und damit die Vernichtung der Einheit Brasiliens. Die natürlichste Aufgabe des Gouverneurs de Sousa wäre, diese fremden Schiffe zu kapern und die Niederlassung zu schleifen, aber er besitzt keinerlei Macht zu einer kriegerischen Unternehmung solchen Umfangs. Die paar hundert Soldaten, die zugleich mit ihm nach Brasilien gekommen waren, sind unterdes längst Landwirte oder Plantagenbesitzer geworden und wenig geneigt, nach ihren bequemen Jahren den Harnisch wieder anzulegen; noch fehlt dem jungen Gebilde jedes Nationalgefühl, jeder Gemeinschaftsgedanke, in Portugal wiederum die richtige Erkenntnis der Gefahr und wie immer das notwendige Geld für eine rasche Expedition. Noch immer ist der Krone das Aschenbrödel Brasilien nicht wichtig genug, um eine kostspielige Flotte auszurüsten. So bleibt den Franzosen reichlich Zeit, sich ständig zu verstärken und zu verschanzen; erst wie ein neuer Gouverneur, Mem de Sê 1557 nach Bahia gesandt wird, beginnt die Vorbereitung einer Aktion gegen die Eindringlinge. Mem de Sê schenkt Nóbrega rückhaltlos Vertrauen und unterwirft sich völlig seiner geistigen Autorität. Und Nóbrega ist es wiederum, der mit seiner ganzen leidenschaftlichen Energie ein rechtzeitiges Vorgehen gegen die Franzosen fordert. Die Jesuiten kennen das Land besser und sind mehr um seine Zukunft besorgt als die Kaufleute in Lissabon, die Länder einzig nach dem momentanen Ertrag ihrer Spezereien bewerten; sie wissen, daß wenn diese französischen Hugenotten an den brasilianischen Küsten dauernd Fuß fassen können, nicht nur die Einheit des Landes, sondern auch die Einheit der Religion für immer zerstört ist. Brief auf Brief senden abwechselnd der Gouverneur und Nóbrega nach Portugal hinüber, um zu fordern, daß man faça socorrer a êsse pobre Brasil. Aber Portugal hat – ein anderer Atlas – eine ganze Welt auf seinen schwachen Schultern zu tragen, und es dauert noch abermals zwei Jahre, bis 1559 endlich ein paar Schiffe von Lissabon herüberkommen und Mem de Sê an eine kriegerische Aktion gegen die Eindringlinge denken kann.


Der eigentliche Leiter der Expedition ist Nóbrega, der gemeinsam mit Anchieta von seinen Täuflingen möglichst viele herangeholt hat, um die schwache portugiesische Truppe zu verstärken. Zugleich mit dem Gouverneur erscheint er am 18. Februar 1560 vor Rio, und sobald am 15. März von São Vincente die rasch zusammengelesenen Hilfstruppen eintreffen, beginnt der Sturm auf die Festung Villegaignons. Vom heutigen Horizont aus gesehen, ist diese bedeutsame Aktion freilich nur eine Art Frosch- und Mäusekrieg. Hundertzwanzig Portugiesen und hundertvierzig Eingeborene stürmen das Fort Coligny, das von vierundsiebzig Franzosen und einigen Sklaven verteidigt wird. Die Franzosen können nicht standhalten und flüchten rechtzeitig auf das Festland hinüber zu den befreundeten Eingeborenen, um sich auf dem Morro do Castelo neu zu verschanzen. Für die Portugiesen ist es ein Sieg, weil das Fort Coligny, die Zwingburg, eingenommen ist; ohne die Franzosen zu verfolgen oder zu vernichten, kehren sie wieder nach Bahia und São Vincente zurück.


Aber es ist nur ein halber Sieg, denn die Franzosen bleiben im Lande. Im ganzen sind sie etwa einen Kilometer zurückgeworfen, also eine Strecke, die man heute im Automobil in fünf Minuten durchfährt. Sie sitzen ungehindert im Hafen wie zuvor, treiben weiter ihren Handel, laden Schiffe ein und aus, bauen am Morro do Castelo eine neue Festung statt der alten, sie reizen sogar die Tamoios, die ihnen befreundeten Eingeborenen, zu Unternehmungen gegen die Portugiesen, und der erste Angriff auf São Paulo durch Angehörige dieses Stammes war wahrscheinlich von ihnen organisiert. Aber Mem de Sê hat keine Macht, die Eindringlinge zu vertreiben. Wie immer in Brasilien, von Anfang an bis heute, ist das Manko das gleiche: es sind zu wenig Menschen da. Mem de Sê vermag in Bahia keinen einzigen Arm zu entbehren, sonst geriete die Zuckerproduktion, der ökonomische Nährstoff des Landes, ins Stocken, außerdem hat eine verhängnisvolle Pest den Großteil der Bevölkerung hinweggerafft. Ohne Unterstützung von Portugal ist es darum unmöglich, die Franzosen aus ihrer neuen Position zu verdrängen, und diese Unterstützung läßt endlos auf sich warten; unbehelligt verbleiben die Kolonisten Villegaignons weitere fünf Jahre in Rio. Und wieder ist es Nóbrega, der unablässig drängt und abermals und abermals mahnt, daß, wenn statt Portugals die Franzosen weiterhin Sukkurs schicken, die Bucht von Rio und damit Brasilien endgültig der Krone verloren sei. Endlich hört die Königin auf seine dringliche Bitte und entsendet aus Lissabon Estêcio de Sê gemeinsam mit den von den Jesuiten im Lande vorbereiteten Hilfstruppen gegen den Feind. Neuerlich beginnen in liliputanischen Maßen die kriegerischen Aktionen. Am 1. März 1565 segelt Estêcio de Sê mit seiner Kriegsflotte in die Bucht von Rio und schlägt unter dem Pão de Açucar, an der Stelle des heutigen Urca, sein Lager auf. Aber, unfaßbar für unsere Vorstellungen von heute, ehe es zu dem Sturm auf den Morro do Castelo – genau zehn Minuten heutiger Autofahrt – kommt, vergehen ebensoviele Monate. Erst am 18. Januar 1566 führt Estêcio de Sê seine Soldaten zum Sturm, und in einem Kampf von wenigen Stunden und mit einem Verlust von zwanzig oder dreißig Mann fällt die welthistorische Entscheidung, ob diese Stadt in Hinkunft Rio de Janeiro oder Henriville heißen wird, ob Brasilien der portugiesischen oder französischen Sprachwelt verbleibt – in solchen Dimensionen von zwei oder drei Dutzend Soldaten wurden damals ebenso in Indien wie in Amerika Kämpfe ausgefochten, die Form und Schicksal dieses Weltteils für Jahrhunderte bestimmen sollten. Estêcio de Sê selbst bezahlt, von einem Pfeilschuß verletzt, den Sieg mit seinem Leben. Aber diesmal ist es ein entscheidender Sieg: die Franzosen fliehen auf ihren Schiffen aus dem Land und bringen nach Frankreich nichts anderes mit als die Kunde vom Tabak, den sie zu Ehren des Botschafters Jean Nicot benennen. Auf den Trümmern der französischen Festung, dem Morro do Castelo, weiht der Bischof die Kirche der zukünftigen Hauptstadt Brasiliens ein: die Stadt Rio de Janeiro ist mit dieser Stunde erstanden.


Es war ein liliputanischer Kampf, aber er hat die Einheit Brasiliens gerettet: Brasilien gehört den Brasilianern. Nun aber gilt es die Kolonie auszubauen, und dafür bleiben ihr beinahe fünfzig Jahre vollkommenen Friedens. Langsam schieben sich die Grenzen nach Paraíba, nach Rio Grande do Norte und ins Innere vor, die Siedlungen der Jesuiten in São Paulo beginnen sich fruchtbar zu entfalten, die Plantagen an der Küste werden erträgnisreich, und neben dem ständig steigenden Export von Zucker und Tabak blüht ein anderes, dunkleres Geschäft, der Import von »schwarzem Elfenbein«. Von Monat zu Monat werden immer größere Frachten afrikanischer Sklaven von Guinea und aus dem Senegal herübergebracht, und soweit sie auf der Reise in den vollgestopften, stinkenden Schiffen nicht verendet sind, auf dem großen Markte in Bahia verhandelt. Eine Zeitlang droht durch diese Fülle der Neger und die erstaunliche Anzahl der von den Portugiesen produzierten mamelucos, dieser Mischlinge aller Schattierungen, der europäische, der zivilisatorische Einfluß ins Schwinden zu geraten; einer Handvoll Unternehmer, die sich maßlos bereichern, steht in den Küstenstädten eine unermeßliche Anzahl farbiger Sklaven gegenüber; ohne die ausgleichende Arbeit der Jesuiten, die im Innern des Landes überall Fazenden anlegen und die Bevölkerung zur Seßhaftigkeit erziehen, die die Ausrottung der Eingeborenen verhinderten und durch Vorurteilslosigkeit die Mischung beförderten, wäre Brasilien vielleicht ein afrikanisches Land geworden, weil Europa sich völlig gleichgültig zeigt. Jedoch Europa, in hundert Kriege verstrickt, hat keine neuen Kolonisten abzugeben, und nur wenige Einsichtige finden sich, denen allmählich die Erkenntnis von dem Werte dieses Landes klargeworden ist; schon 1587 wird Gabriel Soares de Sousa in seinem »Roteiro« die prophetischen Worte finden: Estarê bem empregado todo cuidado que Sua Majestade mandar ter deste novo reino, pois estê capaz para se edificar nelle hum grande imperio o qual com pouca despeza deste reino se farê tão soberano que seja hum dos estados do mundo.


Die Stunde aber ist längst vorüber, wo das die halbe Welt beherrschende Portugal noch irgend jemandem helfen konnte, denn sein großartiger romantischer Traum, die ganzen drei Erdteile für sich und den christlichen Glauben zu erobern, ist ausgeträumt. Es hatte dem kleinen, tapferen Lande nicht genügt, beide Küsten Afrikas, die östliche und die westliche, zu besitzen und Indien bis hoch hinauf nach China seinem Handelsmonopol unterworfen zu haben. König Sebastian, der letzte und kühnste Träumer dieses heroischen Geschlechts, träumt von einem Kreuzzuge, der ein für allemal die muselmanische Macht vernichten soll. Statt seine besten Kräfte, seine Ritter, seine Soldaten in den Kolonien zu verteilen und das Reich der »Lusiaden« durch realistische Organisation zu erhalten, sammelt er wie ein Gralsritter in silberner Rüstung seine ganze Macht zu einem einzigen Heer und setzt nach Afrika über, um den maurischen Erbfeind mit einem Schlage zu vernichten. Aber nicht die Mauren trifft der vernichtende Schlag, sondern ihn selbst, und in der Schlacht von Alcacer-Quibir, diesem letzten, verspäteten Kreuzzug des Abendlands gegen das Morgenland, wird 1578 das portugiesische Heer völlig vernichtet und König Sebastian erschlagen. Die ungeheure Überspannung des Willens hat sich grausam gerächt: Portugal, das kleine Land, das ein Weltall sich untertan machen wollte, verliert seine eigene Unabhängigkeit, und Spanien rafft den freigewordenen Thron an sich. Das von tausend Kämpfen ausgeblutete Land vermag keinen Widerstand zu leisten; für zweiundsechzig Jahre, von 1578 bis 1640, verschwindet Portugal als selbständiges Reich aus der Geschichte. Alle seine Kolonien und somit auch Brasilien werden spanischer Kronbesitz.


Damit beherrscht für eine Weltstunde Philipp II. ein Weltreich, das jenes Alexanders und das römische des Augustus weit übertrifft. Außer der iberischen Halbinsel gehören dem Habsburger noch Flandern und das ganze erforschte Amerika, drei Viertel von Afrika und das von den Portugiesen eroberte indische Reich. Und dieses Gefühl der Kraft und der Größe spiegelt sich in der Kunst Iberiens. Cervantes, Lope de Vega, Calderon schaffen ihre unvergleichlichen Werke; aller Reichtum der Erde strömt in dies eine triumphierende Land.


An diesem Triumph hat Brasilien geringen Teil und keinerlei Vorteil; statt zu gewinnen an Macht, durch die unerbetene Zugehörigkeit zu dem iberischen Imperium, bekommt die bisher unbehelligte Kolonie alle Feinde Spaniens ins Haus; englische Piraten plündern Santos, verbrennen São Vincente, die Franzosen setzen sich zeitweise am Maranhão fest, die Holländer brechen in Bahia ein und räubern dort die Schiffe. Schmerzhaft muß es Brasilien fühlen, wieviel neue Mächte seit der Vernichtung der Armada Spanien die Herrschaft über das Meer streitig machen. Keine dieser piratischen Einzelaktionen kommt freilich tief unter die Haut, es sind bloß kleine Schädigungen und Beunruhigungen, die der raschen Entwicklung nichts anhaben können. Gefährlich wird die Situation für Brasilien erst, da in Holland ein geregelter und wohldurchdachter Plan einsetzt, nicht bloß Häfen zu plündern, sondern het Zuikerland, wie diese guten Kommerzleute Brasilien nach seinem besten Handelsartikel benennen, als Ganzes zu erobern.


Holland, wirtschaftlich vorbildlich organisiert, weiß genau um den Wert Brasiliens, und kaum dürfte das Wort in den »Diêlogos das grandezas do Brasil« (1618) seinen wachsamen Kaufleuten entgangen sein, daß als Ganzes Brasilien mehr Reichtümer besitze als Indien. So ist es wohl kein Zufall, daß 1621 nach dem Vorbild der indischen Compagnie in Amsterdam eine Compagnie »das Índias Ocidentais« mit großem Kapital begründet wird – angeblich bloß um Handel mit Brasilien und Südamerika zu treiben, in Wirklichkeit mit dem Hintergedanken, dieses gewaltige Reich für Holland und sein Handelsmonopol in Besitz zu nehmen. In dieser Compagnie sitzen gute Rechner, die einsehen, daß man für ein so großes Ziel auch große Investitionen einsetzen muß; um Brasilien zu besetzen und noch wichtiger, um es dann festzuhalten, darf man nicht, wie es die Franzosen getan, zwei oder drei Schiffe mit europamüden Kolonisten und rasch angemieteten Matrosen ausschicken, sondern muß eine wirkliche Flotte ausrüsten und in dieser Flotte eine geschulte Armee. Nichts zeigt die Entwicklung und die Wichtigkeit, die Brasilien in dem letzten halben Jahrhundert für die Welt bekommen hat, sinnfälliger als die veränderten Dimensionen. Während Villegaignon mit drei oder vier Schiffen landet, um die »France Antarctique« zu erobern, und sich dann die entscheidenden Kämpfe zwischen siebzig und hundert Mann improvisierter Kriegerschaft abspielen, rüstet die holländische Compagnie von Anfang an sechsundzwanzig Schiffe aus mit siebzehnhundert geschulten Soldaten und sechzehnhundert Matrosen.


Der erste Schlag gilt der Hauptstadt. Am 9. Mai 1624 wird Bahia fast ohne Widerstand genommen und unermeßliche Beute weggeschleppt. Nun erst wacht Spanien auf; über fünfzig Schiffe mit elftausend Mann werden entsandt, die Bahia vereint mit den einheimischen Hilfstruppen aus Pernambuco zurückerobern, ehe die zweite Flotte der Holländer mit vierunddreißig Schiffen eintrifft: bereits haben sich in Erkenntnis des Werts der bisher mißachteten Kolonie die Anstrengungen verhundertfacht, das »Zuckerland« zu behaupten. Genötigt, in Bahia zurückzuweichen, rüstet die holländische Compagnie zu einem neuen Angriff mit neuen Verstärkungen und hat damit Erfolg. 1635 wird Recife und in den folgenden Jahren außer Bahia die ganze Nordküste besetzt. Von dieser Stunde an besteht durch dreiundzwanzig Jahre im Norden Brasiliens eine selbständige holländische Verwaltung.


Die kolonisatorische Leistung dieser dreiundzwanzig holländischen Jahre ist allerdings eine großartige. Sie übertrifft bei weitem alles, was die Portugiesen vordem in hundert Jahren getan. Die Holländer haben klare und erprobte Organisationsideen. Sie überlassen die Einwanderung und Verwaltung nicht zufälligen anarchischen Elementen, sie senden nicht den Abhub ihres Landes, sondern ihre besten und vorsorglich ausgewählten Männer. Moritz von Nassau, der als Gouverneur der Krone das neue Land verwaltet, stammt nicht nur aus königlichem Blut, sondern ist auch im geistigen Sinn ein Edelmann, weitsichtig, großzügig und tolerant. Er bringt einen ganzen Generalstab von Fachleuten, Ingenieuren, Botanikern, Astronomen, Gelehrten, um das Land zu erforschen, zu kolonisieren, zu europäisieren. Und nichts ist typischer für die Minderwertigkeit des kulturellen Materials, das die Portugiesen im Vergleich zu den Franzosen und Holländern nach Brasilien entsandten, als daß wir über die erste Jugendzeit Brasiliens keine einzige wirklich literarisch gültige Beschreibung von irgendeinem Portugiesen außer den Briefen der Jesuiten besitzen, während die Franzosen nach wenigen Jahren schon das Werk über die »France Antarctique« der Welt geben und Moritz von Nassau durch Barleus jenes vorbildliche Prachtwerk mit Kupfern und Plänen anfertigen läßt, das seinen Ruhm und seine Leistung verewigt.


Moritz von Nassau macht gute Figur in der brasilianischen Geschichte. Er hat als Humanist die Idee der Toleranz mitgebracht, allen Religionen freie Wirkung verstattet, allen Künsten fruchtbare Entwicklung ermöglicht, und selbst die alten Ansiedler können über keine Gewalttätigkeit klagen. In Recife, ihm zu Ehren Mauritsstaad benannt, werden Paläste, steinerne Häuser und saubere Straßen gebaut, das umliegende Land von Geographen durchforscht. Für die Zuckerindustrie werden neue hydraulische Pressen eingeführt, in den Handel die Kaufleute eingeschaltet, die aus Portugal geflüchtet waren, das ganze öffentliche Leben auf Stabilität und Entwicklung eingestellt. Den Portugiesen bleiben ihre Rechte gewahrt, den Eingeborenen ihre Freiheit. In gewissem Sinn verwirklicht Moritz von Nassau das gleiche Ideal der friedlichen Besiedlung, wie es die Jesuiten auf religiöser Grundlage anstrebten, im Geiste der Humanität.


Aber nicht in Brasilien wird das Schicksal Brasiliens entschieden, sondern in Europa. 1640 hat sich Portugal wieder von Spanien losgelöst und unter Dom João IV. seine eigene Krone zurückgewonnen. Dadurch ist eine weitere Okkupation durch Holland ohne jede rechtliche Grundlage. Ein Waffenstillstand gibt beiden Teilen Rast, und da seinerseits Holland, die neue Seemacht, mit der noch jüngeren Seemacht Englands in Konflikt gerät, kann der Kampf um die Befreiung Brasiliens wiederaufgenommen werden; zum erstenmal sind es nationale brasilianische Kräfte, die ihn entfachen. Es ist diesmal nicht so sehr Portugal, sondern schon die Kolonie selbst, die um ihre Einheit und Unabhängigkeit ficht. Wieder sind es kirchliche Elemente, welche die Führung übernehmen, weil sie die vitale Wichtigkeit erkennen, das neue Land unversehrt von jeder Infiltrierung durch protestantische Elemente zu erhalten, deren Anwesenheit den mörderischen Religionskrieg aus Europa nach Brasilien übertragen könnte. 1649 gründet der Pater António Vieira, einer der genialsten Diplomatenfiguren seiner Zeit, in Lissabon eine Gegencompagnie gegen die holländische, die »Companhia Geral de Comércio para o Brasil«, die aus eigener Initiative eine Flotte ausrüstet, und gleichzeitig improvisiert sich im Lande im Verein mit den einheimischen Handelsleuten, die ihre Plantagen und Zuckerwerke zurückgewinnen wollen, eine nationale Armee. Und nun geschieht das Überraschende: während Portugal mit Holland noch verhandelt, ob und wann und wieviel von Brasiliens Küste ihm verbleiben solle, und ehe noch die Flotte, die Portugal zur Stützung senden will, herübergekommen ist, haben die Brasilianer die Initiative auf eigene Faust übernommen; Schritt für Schritt werden die Holländer zurückgedrängt, Moritz von Nassau verläßt das Land, und am 6. Januar 1654 kapituliert Recife, ihre letzte Festung; die Holländer ziehen sich endgültig zurück. Während das Traumreich der Lusiaden ebenso rasch entschwindet, wie es der schöpferische Augenblick Portugals gebaut, bleibt Brasilien unversehrt sich selbst erhalten.


Im ganzen bedeutet die holländische Episode in der Geschichte Brasiliens einen Glücksfall. Sie hat lange genug gedauert, um durch vorbildliche Verwaltung darzutun, was in diesem Lande bei guter, zivilisierter Organisation geleistet werden kann, und dauert doch anderseits nicht lange genug, um die Einheit der portugiesischen Sprache und der portugiesischen Sitte zu brechen; im Gegenteil: gerade die Bedrohung durch eine Fremdherrschaft erschafft und fördert erst das brasilianische Nationalgefühl. Von Norden bis Süden empfindet sich jetzt diese Kolonie als ein zusammengehöriges Land, das einhellig entschlossen ist, jede gewaltsame Einwirkung auf sein nationales Leben ebenso gewaltsam aus seinem Organismus auszuscheiden: alles Fremde muß sich von nun ab dem Brasilianischen amalgamieren, wenn es sich behaupten will. Scheinbar ist mit diesem Kriege Brasilien für Portugal zurückgewonnen, in Wirklichkeit aber schon sich selbst.


Denn zum erstenmal in diesem Kriege zwischen Portugiesen und Holländern ist dieses neue, in seinen Kräften und Eigenheiten noch unbekannte Element in Erscheinung getreten: der Brasilianer.


Langsam hat sich dieser Typus zu formen begonnen und zunächst in ziemlich gegensätzlicher Art. Die Küste und das Innere des Landes zeigen ein durchaus verschiedenes Bild. In den Küstenstädten strömt ständig neues Blut ein, Zuwanderer, Händler, Matrosen und Sklaven, in den aldeias des Binnenlands wiederum erhält sich dasselbe Blut durch ständige Vermischung. Die Menschen der Küste sind Händler oder primitive Industrielle, ihre wahre Heimat ist das Meer, unwillkürlich blicken sie mit ihren Produkten und Plänen ständig nach Europa hinüber. Für die Kolonisten dagegen ist die Heimat die Erde, und nur Erde erzeugt das volle Gefühl der Verbundenheit.


Die stärkere Energie ist bei den Männern des Hinterlandes. Sie wohnen im Ungesicherten und, gewöhnt an die Gefahr, haben sie begonnen, sie zu lieben. Vor allem in São Paulo beginnt ein merkwürdiger Typus sich zu bilden: der Paulista. Als Portugiesen oder Söhne von Portugiesen einerseits die nomadische Lust der alten Indios, anderseits die Abenteurerfreude der europäischen Ahnen im Blut liebt dies neue Geschlecht es nicht, die Erde selbst zu bestellen, die es besitzt. Längst besorgen diese grobe Arbeit für sie ihre Sklaven, und die langsame Art, Reichtum zu erwerben, widerstrebt ihrem unruhigen Blut. Mit Ackerbau und Viehzucht wird man nicht reich, solange man sie nicht mit hundert Sklaven in großem Stile betreibt, und sie wollen reich werden auf Conquistadorenart – reich, mit einem Schlag und wenn auch mit Einsatz ihres Lebens. So schließen sich die Ansiedler von São Paulo mehrmals im Jahr zu größeren Gruppen zusammen, um als Bandeirantes, die Fahne voran, zu Pferd und mit einem Troß von Dienern und Sklaven wie einst die Raubritter ins Land zu ziehen, nicht aber ohne vorher ihre Fahne feierlich in der Kirche segnen zu lassen. Manchmal vereinigen sich bis zweitausend Menschen zu solchen entradas, und für ein paar Monate bleiben dann die Stadt und die Siedlungen leer von Männern. Was sie suchen, wüßten sie selbst nicht zu sagen; halb ist es das Abenteuer, halb die Hoffnung auf irgendeinen unvermuteten Fund in diesem grenzenlos weiten und unerforschten Land. Seit den Tagen, da die Schätze Perus und die Silberminen Potosis entdeckt wurden, wollen die Gerüchte von einem sagenhaften Eldorado nicht verstummen. Warum sollte es nicht in Brasilien verborgen sein? So ziehen die Paulistas die Flußläufe entlang, die Berge auf und nieder, auf immer anderen ungebahnten Wegen, in welcher Richtung gerade der Wind die vorangetragene bandeira treibt, immer erregt von der Hoffnung, irgendwo auf die sagenhaften Minen zu stoßen. Und solange sich das kostbare Erz nicht finden läßt, solange nicht der »Hercules vom Sertão«, Fernão Dias, wenigstens die Smaragde entdeckt, bringen sie wenigstens eine andere Beute mit: lebendige Menschen. In den ersten Jahrzehnten sind diese entradas nichts anderes als eine wüste, grausam rücksichtslose Sklavenjagd. Den Paulisten scheint es einfacher und zugleich spannender, statt am Markt in Bahia sich Neger zu kaufen, die Eingeborenen mit Hunden und Pferden in scharfer, die Sinne erregender Jagd wie Hasen einzufangen; aber am bequemsten finden sie es schließlich, statt mit den Bluthunden den Verängstigten bis tief in den Urwald nachzujagen, sich diese Sklaven einfach von den Kolonien zu holen, wo sie die Jesuiten so schön ordentlich angesiedelt und schon im voraus zur Arbeit erzogen haben.


Selbstverständlich ist dieses Raubrittertum gegen jedes Gesetz, denn ausdrücklich hat der König die Freiheit der Eingeborenen bestätigt, und Anchieta erhebt verzweifelte Klage: Para êste género de gente não hê melhor prègação que espada e vara de ferro. Aus bloßer Gewinngier zerstören die Rotten ihr in Jahren und Jahren mühsam aufgebautes Ansiedlungswerk; sie entvölkern ihre Kolonien, sie tragen den Terror tief in befriedetes Land hinein, sie knechten und rauben nicht nur wehrlose, sondern auch schon kultivierte und dem Christentum gewonnene Menschen. Aber schon sind die Paulisten dank der rapiden Vermehrung durch Mischlinge zu stark, als daß sie Gebot und Gesetz noch einschüchtern könnte; selbst die päpstlichen Bullen gegen diese entradas und bandeiras haben mitten im sertão, im Urwald, keine Gewalt. Immer wilder und zugleich weiter geht die Menschenräuberei ins Land hinein, und noch aus dem Anfang des neunzehnten Jahrhunderts finden wir in Debrets »Voyage pittoresque au Brésil« eines der grausigen Bilder, wie nackte Männer, Frauen und Kinder an langen Stangen zusammengekoppelt wie Vieh von diesen brutalen Sklavenjägern verschleppt werden.


Dennoch haben diese wilden Gesellen in der Geschichte des Landes wider Willen ein großes Verdienst. Immer war die an sich verächtliche Gier nach raschem Gewinn eine der stärksten Kräfte, die den Menschen ins Weite getrieben; sie führte die phönizischen Schiffe über das Meer, sie lockte die Conquistadoren in die unbekannten Erdteile, sie peitschte, obwohl der schlimmste Trieb, die Menschheit vorwärts von Stillstand und bequemem Behagen. So ergänzen paradoxerweise die Bandeirantes, die nur raffen und rauben wollen, das zivilisatorische Werk des Aufbaus Brasiliens, denn durch ihr wildes, zielloses Vordringen fördern sie die geographische Entdeckung des Landes. Von Bahia aus den São Francisco empor, von São Paulo den Paranê hinab und den Paraguay, nach Minas Gerais die Serra empor nach Mato Grosso und Goiaz, quer durch den Urwald vordringend, schaffen und erforschen sie erste Wege in das unbekannte Territorium, und während sie entvölkern, besiedeln sie zugleich. Denn an manchen Stellen bleiben ein paar von ihnen zurück; damit entstehen neue Zellen der Besiedlung, neuen Zentren, von denen neue Nerven und Adern sich weiterbilden ins Unbetretene; in bitterster Feindschaft dem geduldigen Siedlungsplan der Jesuiten entgegenwirkend, haben sie anderseits gerade durch ihr ungeduldiges Vordringen ins Unbekannte das Werk der Durchdringung beschleunigt, nach Goethes Wort »ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und doch das Gute schafft«. Auch sie haben an der Schaffung Brasiliens ihr gutes Teil.


Paulisten sind es auch, die auf einer ihrer entradas in die völlig unbewohnten Bergtäler von Minas Gerais eindringen und dort im Rio das Velhas das erste Gold finden. Einer der Bandeirantes bringt die Nachricht nach Bahia, ein anderer nach Rio de Janeiro, und sofort setzt von beiden Städten und allen möglichen Orten eine ganze Völkerwanderung in diese unwirtlichen Gebiete ein. Die Plantagenbesitzer treiben ihre Sklaven mit sich, die Zuckerwerke werden verlassen, Soldaten desertieren; in ein paar Jahren entsteht im Goldbezirk ein kleiner Ring von Städten, Vila Rica, Vila Real, Vila Albuquerque mit hunderttausend Einwohnern. Dazu kommt bald darauf die Entdeckung der Diamanten. Mit einemmal ist Brasilien die reichste Goldquelle der Welt und der kostbarste Besitz der portugiesischen Krone geworden, die sich von vornherein den Fünftteil an allem gefundenen Gold und jeden Diamanten über zweiundzwanzig Karat gesichert hat.


Die neue Provinz bietet zunächst das Bild eines vollkommenen Chaos. Wie in den ersten Zeiten der Kolonisation fühlen sich in diesen abgelegenen Gebirgstälern, weil noch ohne staatliche Kontrolle, die Eindringlinge jenseits von Recht und Pflicht, und der eingesetzte Gouverneur stößt ebenso wie seinerzeit die Jesuiten – auf entschlossenen Widerstand, sobald er Ordnung und Zucht einführen will. Die »Paulisten« wehren sich gegen die emboabas, die Eindringlinge von der Küste, und es kommt zu verzweifelten Kämpfen, in denen schließlich die königliche Autorität die Oberhand behält. An und für sich ist es nur Habgier, welche die ersten Goldgräber, die den unerwarteten Reichtum mit niemand anderem teilen wollen, zusammenrottet. Aber hinter ihrem eigenmächtigen Widerstand wirkt als höherer Wille schon unbewußt ein nationales Empfinden. Die Paulisten stellen mit diesen ersten Revolten gegen die portugiesische Autorität rein instinktiv die Forderung auf, allerdings noch ohne sie zu formulieren, daß jeder Reichtum der brasilianischen Erde Brasilien gehöre; sie empfinden es als absurd, daß das Gold, das sie – oder vielmehr ihre Sklaven – graben, verwendet werden solle, um tausende Meilen über dem Meer in einem Lande, das sie zeitlebens nie sehen werden, Paläste und gigantische Klöster zu bauen. In gewissem Sinn ist dieser erste, rasch niedergeschlagene Aufstand der Goldgräber gegen die portugiesische Autorität schon das erste Vorspiel des großen Unabhängigkeitskampfes, der in derselben Stadt, an derselben Stelle ein halbes Jahrhundert später seine niedergehaltenen Kräfte neuerdings entladen wird. Denn das Gold als die sichtbarste, münzbarste Wertsubstanz hat Brasilien zum erstenmal das Selbstbewußtsein seines Reichtums gegeben; von der Stunde seiner Entdeckung an betrachtet sich das Land nicht mehr als der Verschuldete und Dankespflichtige gegen sein Ursprungsland, sondern als freies Subjekt, das seine einstige Verpflichtung bereits in hundertfachen Werten an die Heimat zurückerstattet hat.


Im ganzen dauert dieser Goldtaumel nicht länger als fünfzig Jahre. Dann versagt – eine Katastrophe für Portugal – diese kostbare Quelle. Aber immer wiederholt sich in der Geschichte Brasiliens das gleiche merkwürdige Phänomen: was für sein Mutterland, für Portugal, ein Unglück bedeutet, wird für die Kolonie zum Gewinn. Über Portugal bricht, sobald die Goldsendungen ausbleiben, eine Finanzkrise schwerster Art herein, die Pombal nicht bemeistern kann und die im weiteren Verlauf die Austreibung der Jesuiten und seinen eigenen Sturz zur Folge hat: Brasilien wird dagegen eher stabilisiert. Denn durch die Auffindung des Goldes ist eine neue Verschiebung des Gleichgewichts und damit eine erste Konsolidierung in der Menschenverteilung Brasiliens eingetreten. Abermals sind große Massen in das bisher schwachbesiedelte Innere verpflanzt worden, und selbst als das Schwemmgold im Sande abgeschöpft ist, ziehen es die einstigen Goldgräber vor, die hier keine Bleibe und auch sonst keine Heimat haben, statt an die Küste zurückzuwandern, in der mata, dem fruchtbaren Tiefland von Minas Gerais, sich anzusiedeln. Damit ist abermals – wie vordem São Paulo – eine Provinz bevölkert und der bisher ungenützte Strom des São Francisco als lebendige Verkehrsader gewonnen. Immer mehr wird Brasilien aus einer bloßen Küste ein wirkliches Reich.


Aber wichtiger als alles gewonnene Gold ist für Brasilien das mächtig erstarkte Gefühl seines eigenen Wertes. Teilweise in Kämpfen wider die von Norden gegen den Maranhão vordringenden Franzosen, teilweise durch kühne Streifung ins Unbekannte und fortschreitende Besiedlung des Westens, hat sich die Bevölkerung aus eigener Kraft das Flußgebiet des Amazonas, Mato Grosso, Goiaz, Rio Grande do Sul und eine Reihe anderer Provinzen gewonnen, deren jede einzelne räumlich so groß oder größer ist als die allmächtigen europäischen Staaten, wie Spanien und Frankreich und Deutschland; zu einer Zeit, da das gleiche umfangreiche Nordamerika kaum ein Sechstel seines Bodens kennt, hat Brasilien sich bis nahe zu den heutigen Grenzen ausgebreitet, und längst ist das eigene kleine Mutterland kein Maßstab mehr, denn eingezeichnet in die immensen Gemarkungen Brasiliens, erscheint Portugal klein wie ein Tintenfleck auf einem riesigen Tuch. Wie dann 1750 im Vertrag von Madrid endgültig die Grenzen der Kolonie gegen die spanischen festgesetzt werden sollen, muß Spanien ärgerlich anerkennen, daß Brasilien längst nicht mehr auf die veralteten Linien des Vertrags von Tordesillas zurückgeschoben werden könne und durch das stärkere Recht seiner kolonialen Leistung alle papierenen Paragraphen zunichte gemacht hat. Langsam beginnt um die Wende des achtzehnten Jahrhunderts Europa, beginnt das Land selbst zu begreifen, wie groß, wie mächtig, wie einheitlich es in den scheinbar ereignislosen Jahren auf seine stille, beharrliche Art geworden ist. Und je mehr es seiner Kindheit, seiner finanziellen Abhängigkeit entwächst, um so mehr muß es als Ungehörigkeit und Ungerechtigkeit empfinden, daß seine freie Entwicklung durch die unpolitische und überdies ungeschickte Vormundschaft Portugals immer noch in kleinlicher Weise gehemmt wird.


Denn um möglichst viel Gewinn aus seiner Kolonie herauszuholen, umstrickt die portugiesische Krone Brasilien mit einem Netzwerk von Gesetzen, das dem jungen Land die von Kraft strotzenden Adern vom Welthandel abbindet; die Regierung erlaubt zum Beispiel gerade dem Lande, wo die Baumwolle frei und üppig ihre Heimat hat, keine eigene Fabrikation von Textilwaren, um Brasilien zu zwingen, die Fertigware von Lissabon zu bestellen, und derartige Verbote häufen sich bis ins Willkürliche und Stupide. So wird 1775 durch ein Dekret verboten, Seife zu erzeugen, es wird verboten, heimischen Alkohol zu keltern, um die Konsumenten zu nötigen, mehr portugiesischen Wein zu trinken. Der Gouverneur weigert sich, in seinem Palast jemanden zu empfangen, der nicht aus portugiesischen Stoffen gefertigte Kleider trägt. Einem Lande, das schon zweieinhalb Millionen Einwohner besitzt, wird untersagt, Reis anzupflanzen, im Jahrhundert der Philosophie und Aufklärung seinen Städten nicht der Druck von Zeitungen und nicht einmal von Büchern erlaubt, kein Brasilianer darf ein fremdes Schiff kaufen, kein Ausländer in Rio leben und kaum einer dort landen. Brasilien wird abgesperrt wie der Privatgarten des Königs von Portugal. Selbst im neunzehnten Jahrhundert wird noch, als Humboldt für seine großartige Schilderung, die Brasilien erst wahrhaft für die Welt entdeckt, das Land bereisen will, den Behörden vertraulicher Befehl erteilt, wenn ein certain baron Humboldt sich einstelle, ihm die möglichsten Schwierigkeiten zu bereiten.


So ist es leicht zu begreifen, mit welcher leidenschaftlichen Aufmerksamkeit die Brasilianer den Unabhängigkeitskampf Nordamerikas verfolgen, das von einer viel milderen und klügeren Hüterschaft sich gewaltsam losreißt und seine Freiheit erzwingt. Die früheren Former und Meister ihrer Lebensform, die Jesuiten, die im Lande immer unbeliebter wurden, je mehr sich ihre Organisation ins Kommerzielle und Geschäftliche wandte und mit den einheimischen Kolonisten konkurrierte, haben auf Befehl Pombals das Land verlassen müssen, aber damit ist den Brasilianern keineswegs Macht und Recht über ihr eigenes Schicksal gegeben; die Vizekönige verwalten das Land ausschließlich zum Vorteil Portugals und nehmen wenig Anteil an seiner selbständigen Entwicklung. Langsam, heimlich, aber unaufhaltsam bildet sich eine antiportugiesische Partei oder vielmehr eine, die damals noch leicht mit der bloßen Gewährung der Gleichberechtigung und freiem Welthandel zu beschwichtigen wäre. An sich ist der Brasilianer weder radikal noch revolutionär; mit einer leichten und geschickten Hand wäre das Land noch ohne Schwierigkeiten festzuhalten. Aber für seine Wünsche hat man in Lissabon kein Verständnis, und selbst Pombal, der Portugal vergebens zu aufgeklärteren und zeitgemäßeren Anschauungen zu veranlassen suchte, gewährt trotz einzelner ökonomischer Verbesserungen Brasilien nicht die volle organische Entfaltung seiner Kräfte; die als Palliativ, als Beruhigungsmittel von ihm befohlene Austreibung der Jesuiten, die unter heftigem Widerstand der ihnen anhängenden Siedlungen sich vollzieht, erweist sich in keiner Weise dem Lande als moralischer Vorteil oder als materieller Gewinn; im Gegenteil, die Feindseligkeit, welche die Kolonisten bisher diesen geistlich-kommerziellen Organisatoren entgegenbrachten, wendet sich jetzt geschlossen gegen das Mutterland. Schon vordem waren mehrmals in Minas Gerais, in Bahia und Pernambuco einzelne Aufstände gegen die Fiskalbeamten Portugals aufgeflackert, aber, weil nicht gemeinsam verbunden, mit Gewalt niedergeschlagen worden. Meist waren es bloß lokale Revolten gegen eine neue Besteuerung oder Beschränkung gewesen, impulsive Ausbrüche einer zusammengerotteten Masse und darum der Autorität Portugals nicht wirklich gefährlich. Erst zu Ende des Jahrhunderts setzt eine voll ihres Zieles bewußte, von Idealismus getragene nationale Bewegung ein mit den Verschwörern der Inconfidência Mineira.


Die Inconfidência ist eine Verschwörung junger Leute und darum eine romantische, mit kühnen Reden und schwungvollen Gedichten, ungeschickt in der Vorbereitung und doch vom Geist der Zeit getragen in ihrer Entschlossenheit. 1788 hatte eine Gruppe junger brasilianischer Studenten an der Universität Montpellier lebhaft die Notwendigkeit einer nationalen Befreiung diskutiert und sogar schon mit Jefferson, dem Pariser Gesandten der Vereinigten Staaten, Fühlung gesucht, um ihrer Sache die Hilfe der nordamerikanischen Republik zu gewinnen. Eine wirkliche Aktion kam nicht zustande, aber die Idee blieb lebendig, und sofort wie einige dieser Studenten dann nach Ouro Preto, der damals geistig regsamsten Stadt, zurückkehrten, formt sich eine revolutionär gesinnte Gruppe unter Führung des aus Coimbra eben eingetroffenen José Álvares Maciel und Joaquim José da Silva Xavier, der unter dem Namen »Tiradentes« der vielbesungene Held dieser ersten wirklich brasilianischen Freiheitsbewegung geworden ist. Es sind durchwegs Männer geistiger Berufe, die sich in diesen geheimen Konventikeln vereinigen, Ärzte, Dichter, Juristen, Magistratspersonen, dieselbe neuaufsteigende bürgerliche Schicht, die zur gleichen Stunde in Frankreich die Revolution führt – Männer, die gerne diskutieren und sich an Büchern und Ideen begeistern, Männer, die gerne sprechen und diesmal zu viel sprechen. In ihrem Enthusiasmus sehen sich die Verschwörer, noch lange ehe sie die Verschwörung richtig geplant und organisiert haben, schon am Ziel und suchen ungestüm und gutgläubig Freunde für ihr noch durchaus theoretisches Projekt. So kann der Gouverneur, von eingeschmuggelten Spionen ständig informiert, im voraus zuschlagen, ehe sie selbst sich zur Tat entschlossen haben. Die meisten der jungen Leute werden zur Deportation nach Afrika verurteilt, der Dichter Clêudio Manuel da Costa tötet sich im Gefängnis, und nur einer, Joaquim José da Silva Xavier, der »Tiradentes«, der frei und heroisch vor dem Tribunal sich zu seiner Überzeugung bekennt, wird auf die grausamste Weise am 21. Juli 1789 in Rio de Janeiro hingerichtet und die Stücke seines zermarterten Leibs para terrível escarmento dos povos an den Straßenkreuzungen von Minas aufgenagelt. Aber damit ist der Funke der Freiheitsbewegung keineswegs niedergetreten, er glimmt weiter unter der Erde. Zu Ende des achtzehnten Jahrhunderts ist Brasilien wie alle seine südamerikanischen Nachbarstaaten von Argentinien bis Venezuela hinauf innerlich schon für den Abfall von Europa bereit und wartet nur noch auf die gegebene Stunde.


Ein Zufall hält diesen Abfall noch um zwei Jahrzehnte auf. Portugal ist in den napoleonischen Kriegen in die schlimmste Lage geraten, die es im Kriege gibt: zwischen Hammer und Amboß. In dem erschöpfenden Ringen der beiden Giganten Napoleon und England wäre das kleine Land naturgemäß gewillt, abseits und neutral zu bleiben.


Aber wenn die Gewalt ein Jahrhundert regiert, ist für Friedwillige kein Raum; sowohl Frankreich, das Portugals Häfen will, als auch England, das sie gegen die Kontinentalsperre benötigt, fordern Entscheidung. Und diese Entscheidung ist fürchterlich verantwortungsvoll für König João VI. Napoleon beherrscht den Kontinent, England beherrscht die See. Widerstrebt der König Napoleons Forderung, so marschiert Napoleon ein, und dann ist Portugal verloren. Widerstrebt er England, so sperrt England das Meer, und er verliert Brasilien. Angesichts dieser unerbittlichen Wahl, ob Lissabon vom Lande aus durch Napoleon oder von der See her von den Engländern bombardiert werden solle, bilden sich am Hof zwei Parteien, die pro-französische und die pro-englische. Der König schwankt, und in seinem Schwanken wird er zum erstenmal bewußt, was Brasilien in drei Jahrhunderten geworden ist: das kostbarste Gut seiner Krone und längst nicht mehr eine bloße Kolonie. Er ahnt, daß es in Hinkunft vielleicht mehr Reichtum, Macht und Weltstellung bedeuten wird, Brasilien sein eigen zu nennen als Portugal; zum erstenmal schwankt in der Waagschale Portugal zu Brasilien gleich zu gleich.


In letzter Stunde fällt das Haus Bragança, als Napoleon 1807 das Ultimatum stellt, ob Portugal für ihn oder gegen ihn sein wolle, die Entscheidung: lieber Lissabon aufgeben, lieber ganz Portugal verlieren als Brasilien. Während Junot in Eilmärschen schon vor den Toren Lissabons angelangt ist, schifft sich die königliche Familie mit fünfzehntausend Personen, dem ganzen Adel, dem Magistrat, den Kirchenleuten, den Generälen und – last but not least – zweihundert Millionen Cruzados hastig ein, überquert unter dem Schutz der englischen Flotte den Ozean. Ein Weltumsturz mußte kommen, damit zum erstenmal in drei Jahrhunderten irgendein Angehöriger des Hauses Bragança und nun sogar sein König in persona den Boden Brasiliens betritt.


Der Gouverneur und die Zeremonienmeister erschrecken heftig. Rio de Janeiro hat keine Paläste, hat nicht genug Räume und Betten, um so hohe Gäste und einen so zahlreichen Hofstaat zu empfangen. Aber das Volk jubelt dem Monarchen begeistert entgegen und begrüßt mit Jubelrufen ihn als den »Imperador do Brasil«, denn es fühlt instinktiv, daß ein Monarch, der einmal als Flüchtling bei ihm Schutz gesucht, Brasilien in Hinkunft nicht mehr länger als untergeordnete Kolonie behandeln könne. In der Tat fallen bald nach der Ankunft des Königs die einengenden Schranken. Vor allem werden die Häfen dem Welthandel geöffnet, die industrielle Produktion unbeschränkt freigegeben, eine eigene Bank geschaffen, die Banco do Brasil, Ministerien eingesetzt, eine königliche Presse eröffnet, zum erstenmal darf in dem bisher geknebelten Land sogar eine Zeitung erscheinen. Eine Reihe Institute erstehen, die Rio de Janeiro zu einer wirklichen Hauptstadt machen, Akademien, Museen, ein botanischer Garten. Aber erst 1815 erfolgt endlich die volle staatsrechtliche Gleichberechtigung der reinos unidos; Portugal und Brasilien, einst Herrin und Magd, sind nun Schwestern. Was vor einem Jahrzehnt nicht zu erträumen war und von staatsmännischer Weisheit ansonsten in Jahrhunderten nicht zu erhoffen, das hat die weltumformende Persönlichkeit Napoleons in knappster Frist erzwungen. Durch diesen Glücksfall – immer waren, man kann es nicht genug wiederholen, die Katastrophen Portugals Glücksfälle für Brasilien – bleibt der Unabhängigkeitskrieg, der Nordamerika durch Jahre verwüstet und die anderen südamerikanischen Staaten schwere Blutopfer gekostet, diesem bevorzugten Lande zunächst erspart; Brasilien kann die europäische Unruhezeit geruhig nutzen, um seine Grenzen langsam zu konsolidieren. Längst – 1750 – sind die alten Einschränkungen des Vertrages von Tordesillas für ungültig erklärt worden. Weit nach Westen, den ganzen Lauf des Amazonas entlang, erstreckt sich das neue Königsreich in die Tiefe; im Süden ist Rio Grande do Sul dazugewonnen, im Norden die lang umkämpfte Grenze bis nach Guyana hinaufgerückt, und die gute Gelegenheit, daß Europa auf Kongressen beschäftigt ist, verlockt Dom João VI., sich mit einem Handstreich Montevideos zu bemächtigen und Uruguay – allerdings nur vorübergehend – an Brasilien als cisalpinische Provinz anzuschließen. Die endgültige Form Brasiliens ist mit dem neunzehnten Jahrhundert soviel wie erreicht.


Diese Jahre der Gegenwart des königlichen Hofes bringen außer dem politischen dem Lande auch ungemeinen moralischen Gewinn. Seit die Jesuiten unter Pombal aus dem Lande vertrieben wurden, geschieht es zum erstenmal, daß Portugiesen von kulturellem Rang, Gelehrte, Wissenschaftler sich in der Hauptstadt ansässig machen. In großzügigster Weise beruft der König außerdem Forscher und Maler aus Frankreich und Österreich, um Institute zu begründen oder zu erweitern. Erst von diesem Zeitpunkt an besitzen wir wirkliche Bilder und Darstellungen von Rio, wissenschaftliche Studien, lesbare Schilderungen. Das königliche Brasilien ist nun nicht mehr die einstige terra do exilio, seit es die terra do refúgio seines Königs geworden, und in wenigen Jahren wird es ein Gegenpol europäischer Zivilisation und die Stätte eines glanzvollen und hochgeachteten Hofes. Und nichts zeigt deutlicher die Weltstellung dieses neuen Landes, als daß der Kaiser von Österreich, nach Napoleons Fall der mächtigste Mann Europas, den Thronfolger dieses Reiches, Dom Pedro, nicht für zu gering hält, um ihm eine Schwester Maria Louisens, seine Tochter Leopoldine zu vermählen, die mit größten Festlichkeiten in Rio empfangen wird. Könnte König João seiner eigenen Neigung folgen, so bliebe er zeitlebens in dem neuen Land, dessen Schönheit und zukünftiger Wert ihm wie all den Seinen bald klargeworden ist. Aber das heimische Portugal verlangt, nun da Napoleon von seiner wüsten Insel St. Helena Europa nicht mehr beunruhigen kann, seinen angestammten König eifersüchtig zurück. João gerät in Gefahr, falls er dem immer gebieterischer werdenden Rufe nicht folgt, den Thron seiner Vorfahren zu verlieren. Lange zögert er den Abschied hinaus, aber schließlich geht es nicht länger: 1820 kehrt João VI. nach Lissabon zurück, nachdem er zuvor den Thronerben Dom Pedro zu seinem Stellvertreter in Brasilien ernannt.


König João VI. hat zwölf Jahre in Brasilien residiert, Zeit genug, um zu erkennen, wie stark, wie eigenwillig, wie national das Land mit dem neuen Jahrhundert geworden ist; im tiefsten Herzen vermag er sich der schlimmen Vorahnung nicht ganz zu erwehren, daß eine Personalunion zweier Länder über dreitausend Meilen Ozean auf die Dauer nicht haltbar sein wird. Aus dieser Erkenntnis gibt er seinem Sohn Dom Pedro, den er als defensor perpétuo do Brasil eingesetzt hat, den Rat, im Notfall lieber selbst die Krone Brasiliens sich auf das Haupt zu setzen, ehe irgendein fremder Abenteurer sie an sich reißt. Tatsächlich zeitigt die Abreise des Königs eine nationale Bewegung, welche die independência fordert, und die von dem Thronfolger eher gefördert als gehemmt wird. Nach scheinbarem Widerstand erklärt der junge Ehrgeizige am 7. September 1822, geführt von dem hervorragenden patriotischen Minister José Bonifêcio de Andrada e Silva, dem ersten wirklich brasilianischen Staatsmann, der mit großer geistiger Überlegenheit den Ehrgeiz des Thronfolgers für seine patriotischen Ziele auszunützen weiß, die Unabhängigkeit Brasiliens; am 12. Oktober 1822 wird der bisherige defensor perpétuo als Pedro I. zum Kaiser von Brasilien proklamiert, nachdem er zuvor geschworen, nicht als autokratischer Herrscher, sondern als konstitutioneller Fürst das Land zu regieren. Nach kurzen Kämpfen teils mit treugebliebenen portugiesischen Truppen, teils mit revolutionären Bewegungen, wird die äußere Ruhe im Lande hergestellt; die innere freilich ist schwerer zu erringen. Das brasilianische Unabhängigkeitsgefühl, von den unerwartet raschen Erfolgen berauscht, will noch sichtbarere Triumphe. Auch diesen seinen ersten Kaiser empfindet es noch nicht als den eigenen, den eigentlichen, den wirklich brasilianischen; das Volk kann Pedro I. nicht verzeihen, daß er geborener Portugiese ist, und der Verdacht will nicht verstummen, er würde nach dem Tode seines Vaters versuchen, die beiden Kronen wieder zu vereinigen. Auch versteht Pedro I., mehr Romantiker als Realist, bravourös, aber allzuviel mit erotischen Privatangelegenheiten beschäftigt und den Hof der Willkür seiner Maitresse, der Marquise von Santos, aussetzend, sich nicht bei seinem Volke beliebt zu machen.


Den entscheidenden Stoß gibt der unglückliche Krieg gegen Argentinien, in dem Brasilien seine »cisalpinische Republik« verliert. Im historischen Sinne bedeutet der Ausgang dieses Krieges zwar eher einen politischen Gewinn; durch die Schaffung eines unabhängigen Uruguay ist ein für allemal jeder Konflikt zwischen den beiden mächtigen Schwesternationen Brasilien und Argentinien ausgeschaltet und durch dauernde Freundschaft ersetzt. Aber 1828 sieht das Land nur den Verzicht auf die La-Plata-Mündung, der Brasilien sehnsüchtig seit Jahren zustrebt, und der Kaiser muß diesen Unmut fühlen. Es hilft nichts, daß er 1830, nach dem Tode João VI., die ihm rechtlich zufallende Krone Portugals ausschlägt und damit bekundet, daß er sich eindeutig für Brasilien entschieden habe; er bleibt hier der Fremde, der Ausländer, und immer mehr organisieren sich die nationalen Elemente gegen ihn. Die französische Julirevolution gibt seiner Popularität den letzten Rest, denn alles Französische wirkt stimulierend auf die brasilianischen Parlamentarier, die in ihren Reden, Verordnungen und Debatten gewohnt sind, das Pariser Vorbild nachzuahmen, und diese Kopierung des Französischen geht so weit, daß groteskerweise zwei führende brasilianische Politiker sogar Lafayette und Benjamin Constant heißen. Nur rechtzeitige Resignation des unbeliebten Kaisers kann den Thron noch gegen den republikanischen Ansturm retten; so dankt Pedro I. 1831 zugunsten seines Sohnes ab in der richtigen Erkenntnis: Meu filho tem sôbre mim a vantagem de ser brasileiro. Auch bei dieser Abdankung wird wieder die brasilianische Tradition glücklich gewahrt, staatspolitische Umstürze womöglich ganz ohne Blutvergießen und in konzilianter Art zu vollziehen. Still, nicht verfolgt von Haß und Groll, verläßt der erste Kaiser Brasiliens das Land.


Der neue Kaiser Pedro II., o imperador menino, dem Blut nach zugleich ein Habsburger und ein Bragança, ist bei der Abdankung seines Vaters fünf Jahre alt. José Bonifêcio übernimmt für ihn die Regentschaft, und nun beginnt vor und hinter den Kulissen ein wildes Politisieren und Intrigieren. Für Brasilien, das dreihundert Jahre unselbständig und mundtot gewesen, sind die parlamentarischen Rechte und die Pressefreiheit zu neue Dinge, als daß sich nicht alle daran berauschten. Unablässig gehen die Debatten; die politische Erregung bleibt aus bloßer Rede- und Politisierfreude eigentlich ohne äußeren Anlaß – ständig in Hochspannung, eine Partei arbeitet für die Errichtung einer Republik, eine andere sucht den persönlichen Regierungsantritt Pedro II. zu beschleunigen, dazwischen überkreuzen sich persönliche Intrigen. Keine Regierung, keine Partei scheint wirklich stabil. Viermal in sieben Jahren wird der Regent gewechselt, ehe endlich die konservative Partei, um eine gewisse Beruhigung zu erzwingen, 1840 die vorzeitige Majorennitätserklärung Pedro II. durchsetzt. Mit fünfzehn Jahren wird der bisherige imperador menino am 18. Juli feierlich zum Kaiser von Brasilien gekrönt.


Wie wenig Vertrauen die Welt den ständigen Bündeleien und Zänkereien der südamerikanischen Politiker entgegenbringt, zeigt die kühle Aufnahme des geheimen Botschafters, der sofort nach der Thronbesteigung nach Europa abgesandt wird, um für den jungen Kaiser eine Gemahlin von fürstlichem Rang zu suchen. Sein erster Weg geht nach Wien zu den Habsburgern, den nächsten Verwandten des jungen Kaisers. Aber während seinerzeit seinem Vater Pedro I. ohne Zögern eine Erzherzogin aus dem immer reichen Bestände der kaiserlichen Familie zugeteilt wurde, bleibt diesmal der allmächtige Kanzler Metternich abwartend und kühl. Die südamerikanischen Staaten haben durch die Unstabilität ihrer Regierungen, die fortwährenden Putsche ehrgeiziger Generäle und leidenschaftlicher Politiker in Europa viel an Kredit verloren. 1840 denkt man nicht mehr daran, eine Erzherzogin über das unruhige Meer in ein noch unruhigeres Land zu schicken, und selbst unter den Prinzessinnen minderer Kategorie zeigt keine einzige Neigung zu dieser überseeischen Kaiserkrone. Nachdem er ein ganzes Jahr vergeblich in Wien antichambriert, muß der Brautwerber sich zufriedengeben, eine napoletanische Prinzessin mit wenig Schönheit und wenig Geld, dafür aber reicher an Jahren als ihr zukünftiger Gatte, für den jungen Monarchen heimzubringen.


Aber diesmal wie sooft haben die berufsmäßigen Politiker sich in ihren Prognosen geirrt; dieser junge Monarch wird beinahe ein halbes Jahrhundert lang friedlich regieren und eine an sich schwierige Position mit Würde und unter allseitiger Achtung behaupten. Pedro II. ist dem Wesen nach eine kontemplative Natur, eher ein auf den Thron verschlagener Privatgelehrter oder Bibliothekar als ein Mann der Politik oder der Armee. Ein wahrhafter Humanist von anständiger Gesinnung, für dessen Ehrgeiz es höheres Glück ist, einen Brief von Manzoni, Victor Hugo oder Pasteur zu erhalten, als bei militärischen Paraden zu glänzen oder Siege zu erfechten, hält er sich – obwohl äußerlich durch seinen schönen Bart und sein würdiges Auftreten sehr eindrucksvoll – möglichst im Hintergrund und verbringt seine glücklichsten Stunden in Petrópolis bei seinen Blumen oder in Europa mit Büchern und in Museen. Seine persönliche Haltung ist – und damit wirkt er durchaus im Geiste seines Landes – konziliatorisch, und der einzige Krieg, den er während seiner langen Regierungszeit zu führen genötigt war, – der Kampf gegen Lopez, den aggressiven Militärdiktator von Paraguay – endet nach dem Siege mit einer vollkommenen Versöhnung des Nachbarstaates, sogar die militärischen Trophäen werden dem besiegten Lande freiwillig zurückgegeben. Durch die äußerlich imposante, innerlich vorsichtig farblose Haltung des Kaisers, durch die staatsmännische Überlegenheit Rio Brancos, der alle Grenzkonflikte durch Schiedsgerichte und internationale Vereinbarungen zu schlichten weiß, durch den sichtlich steigenden Reichtum des Landes, das, statt seine Grenzen gewaltsam zu erweitern, eine innere Konsolidierung anstrebt, erzwingt sich Brasilien in diesen fünfzig Regierungsjahren Dom Pedro II. eine ganz neue Respektstellung in der Welt.


Ein einziger Konflikt freilich ist durch alle diese Jahre nicht zu lösen, weil er mit seiner Spitze bis hart an den Lebensnerv des Landes reicht und eine allzu radikale Operation, einen unberechenbaren Kraft- und Blutverlust bedeuten würde: das Problem der Sklaverei. Seit Anbeginn ist die ganze landwirtschaftliche und industrielle Produktion Brasiliens einzig auf Sklavenarbeit fundiert; noch besitzt das Land weder genug Maschinen noch freie Arbeiter, um diese Millionen schwarzer Hände zu ersetzen. Aber anderseits ist – insbesondere seit dem nordamerikanischen Sezessionskrieg – die Sklavenfrage aus einem sozialen ein moralisches Problem geworden, das eingestandenerweise oder uneingestandenerweise das Gewissen der ganzen Nation bedrückt. Offiziell zwar ist seit 1831 – eigentlich schon 1810 durch einen Vertrag mit England – jeder neue Import von Sklaven und damit eigentlich der Sklavenhandel verboten; 1870 wird dieses Schutzgesetz ergänzt, durch das Gesetz des ventre livre, demzufolge jedem Kinde einer Sklavin schon vom Mutterleibe an die Freiheit gewährt ist. Durch diese zwei Gesetze wäre eigentlich praktisch die Sklavenfrage nur eine Frage der Zeit, keine prinzipielle mehr, weil jeder Zuwachs an neuen Sklaven verhindert ist und mit dem Absterben des lebenden Materials es bald nur mehr freie Menschen in Brasilien geben müßte. In Wirklichkeit kehren sich aber weder die Sklavenimporteure noch die Besitzer abgelegener Plantagen im geringsten an diese Gesetze. Fünfzehn Jahre nach dem Verbot des Sklavenhandels werden 1846 noch fünfzigtausend, 1847 nicht weniger als siebenundfünfzigtausend, 1848 sogar sechzigtausend Neger importiert, und da die mächtige Gruppe dieser Händler mit schwarzem Elfenbein aller internationalen Vereinbarungen spotten, muß die englische Regierung Kanonenboote armieren, um die Schiffe mit der verbrecherischen Fracht abzufangen. Von Jahr zu Jahr tritt das Sklavenproblem mehr in den Mittelpunkt der Diskussion, immer stärker wird der Druck der liberalen Gruppen, mit einem Schlag die »schwarze Schande« abzuschaffen, jedoch in gleichem, vielleicht noch in stärkerem Maße steigert sich die Gegenwehr der landwirtschaftlichen Kreise, die – nicht mit Unrecht – durch eine so plötzliche Maßregel eine katastrophale Krise für ein Land befürchten, dessen Wirtschaft zu neun Zehnteln auf der Sklavenarbeit fußt.


Für den Kaiser wird dieses Problem immer mehr zum persönlichen Konflikt. Als geistiger Mensch, als Liberaler und Demokrat, als sentimentale, wenn auch etwas habsburgisch kühle Natur, muß ihm die Sklaverei ein Greuel sein. Deutlich zeigt er seinen Widerwillen gegen alle, die mit diesem schandbaren Geschäft zu tun haben, indem er sich hartnäckig weigert, irgendeinem und auch dem reichsten Manne, der sein Vermögen durch Sklavenhandel gemacht hat, ein Adelsprädikat oder eine Auszeichnung zu verleihen. Es ist dem kultivierten Manne unermeßlich peinlich, bei seinen Besuchen in Europa vor den großen Vertretern der Humanität, deren Freundschaft er sucht, vor einem Pasteur, einem Charcot, einem Lamartine, einem Victor Hugo, einem Wagner, einem Nietzsche als verantwortlicher Herrscher des einzigen Weltreiches zu gelten, das noch die Sklavenpeitsche und die Brandmarkung duldet. Aber lange muß er diesen seinen persönlichen Widerwillen im Hintergrund halten und jede Einmischung vermeiden gemäß dem Ratschlag seines besten, seines weisesten Staatsmannes Rio Branco, der ihn noch vom Totenbette aus beschwört: Não perturbem a marcha do elemento servil, der also auch dieses Problem auf brasilianische, will sagen unradikale Art gelöst sehen wollte. Die wirtschaftlichen Folgen sind im voraus so unberechenbar, der leidenschaftliche Gegensatz zwischen Abolitionisten und Sklavenhaltern so unerbittlich, daß der Thron sich gleichsam nur in einer Schaukelstellung zwischen beiden Parteien erhalten kann, weil das Überneigen zur einen oder zur anderen Gruppe seinen Sturz bedeuten könnte. Bis 1884, über vierzig Jahre, hält der Kaiser darum seine – privat wohlbekannte – Meinung möglichst zurück. Aber allmählich wächst seine Ungeduld, sich von dem Odium zu befreien; ein vorläufiges Gesetz 1885 ordnet die Befreiung aller Sklaven an, soweit sie das sechzigste Jahr überschritten haben – wieder ist ein kräftiger Ruck nach vorwärts getan. Noch immer aber ist der Zeitraum, der automatisch zur Befreiung der letzten Sklaven in Brasilien führte, länger als jener, der einem alten und schon kranken Manne zugemessen scheint, der diese Stunde noch selbst erleben will; so stützt Pedro II. immer sichtlicher im Einverständnis mit seiner Tochter, Dona Isabel, der Thronerbin, die Partei der Abolitionisten. Am 13. Mai 1888 wird endlich das langersehnte Gesetz beschlossen, das eindeutig und ohne Aufschub die sofortige Freilassung sämtlicher Sklaven in Brasilien dekretiert.


Beinahe hätte der alte Kaiser die Erfüllung seines ehrgeizigen Wunsches nie erfahren. In den Tagen, wo der Jubel über die Nachricht die Straßen Brasiliens füllt, liegt Dom Pedro II. lebensgefährlich krank in einem Hotel in Mailand. Im April hatte er noch mit seinem gewohnten Lerneifer die Museen und die Gelehrten Italiens besucht; er war in Pompeji und in Capri gewesen, in Florenz und Bologna, er war in Venedig in der Accademia prüfend von Bild zu Bild gegangen und hatte abends im Theater Eleonora Duse gehört und Carlos Gomes, den brasilianischen Komponisten, empfangen. Dann wirft ihn eine schwere Pleuritis auf das Krankenbett. Charcot aus Paris und drei andere Ärzte behandeln ihn, aber der Zustand des Kaisers verschlimmert sich derart, daß er bereits mit den Sterbesakramenten versehen wird. Besser als alle Medizinen und Mittel wirkt auf ihn die Nachricht von der Aufhebung der Sklaverei. Das Telegramm gibt ihm neue Kräfte, und in Aix-les-Bains und Cannes erholt er sich so weit, daß er nach einigen Monaten wieder daran denken kann, in die Heimat zurückzukehren.


Der Empfang des alten weißbärtigen Monarchen, der seit fünfzig Jahren friedlich und würdig das Land beherrscht hat, ist in Rio enthusiastisch. Aber der Lärm einer einzelnen Straße spricht nie die Stimmung eines ganzen Volkes aus. In Wirklichkeit hat die Entscheidung in der Sklavenfrage noch mehr Unruhe geschaffen als vordem der Parteienkampf, denn noch schwerer als die Warnenden vorausgesehen, setzt die wirtschaftliche Krise ein. Viele ehemalige Sklaven laufen vom Lande in die Städte, die landwirtschaftlichen Unternehmen, denen plötzlich ihre main d’œuvre entzogen ist, geraten in Schwierigkeit, und die früheren Eigentümer fühlen sich beraubt, weil ihnen keine oder keine zureichenden Entschädigungen für ihren Kapitalverlust an schwarzem Elfenbein gezahlt werden. Die Politiker, die den scharfen Wind spüren, gebärden sich aufgeregt, weil sie nicht wissen, wohin den Mantel hängen, und die republikanischen Tendenzen, die in Brasilien seit der Unabhängigkeitserklärung Nordamerikas immer unter der Asche glommen, bekommen unerwartete Nahrung durch diese scharfe Zugluft. Die Bewegung richtet sich nicht eigentlich gegen den Kaiser selbst, dessen guten Willen, dessen Rechtschaffenheit und ehrlich demokratische Gesinnung selbst die prinzipiellsten Republikaner achten müssen. Aber Dom Pedro II. fehlt eine und zwar die wichtigste Voraussetzung zur Erhaltung einer Dynastie: der nun Fünfundsechzigjährige hat keinen Sohn, keinen männlichen Thronerben. Zwei Söhne sind in frühem Alter gestorben, die Erbtochter ist mit einem Prinzen d’Eu aus dem Hause Orléans verheiratet, und das brasilianische Nationalbewußtsein ist schon so stark und zugleich empfindlich geworden, daß es einen Prinzgemahl aus fremdem Geblüt nicht mehr anerkennen will. Der eigentliche Staatsstreich geht von der Armee aus, einer ganz kleinen Gruppe, und könnte bei energischer Gegenwehr wahrscheinlich leicht niedergeschlagen werden. Aber der Kaiser selbst, alt und krank und eigentlich des Regierens längst müde, empfängt in Petrópolis die Nachricht ohne rechten Willen zum Widerstand; nichts kann seiner konzilianten Natur verhaßter sein als ein Bürgerkrieg. Da weder er noch sein Schwiegersohn rasche Entschlossenheit zeigen, zerfließt und zerrinnt über Nacht die monarchistische Partei. Fast lautlos fällt die Kaiserkrone zu Boden, auch diesmal, da sie verlorengeht, ebensowenig von Blut befleckt, als da sie gewonnen wurde; der eigentliche moralische Sieger ist wiederum die brasilianische Konzilianz. Ohne jede Gehässigkeit legt die neue Regierung dem alten Manne nahe, der fünfzig Jahre ein wohlgesinnter Herrscher des Landes gewesen, friedlich sich zu entfernen und in Europa zu sterben. Und nobel und still, ohne ein Wort der Anklage verläßt am 17. November 1889 Dom Pedro II. wie einst sein Vater und sein Großvater für immer den amerikanischen Kontinent, der für Könige keinen Raum hat.


Seitdem sind die »Estados Unidos do Brasil« eine föderalistische Republik und sind es geblieben. Aber diese Umwandlung aus einem Kaiserreich in eine Republik hat sich ebenso ohne innere Erschütterungen vollzogen wie vordem der Übergang vom Königreich zum Kaiserreich und in unseren Tagen die Übernahme der Präsidentschaft durch Getúlio Vargas; nie sind es die äußeren Staatsformen, die den Geist und die Haltung eines Volkes bestimmen, sondern immer nur der eingeborene Charakter der Nation, der im letzten Sinne sein Bild der Geschichte aufprägt. In all seinen verschiedenen Formen hat sich Brasilien im tiefsten nicht verändert, es hat sich nur entwickelt zu immer stärkerer und selbstbewußterer nationaler Persönlichkeit. Sowohl in seiner inneren wie in seiner äußeren Politik hat es unerschütterlich, weil die Seele von Millionen und Millionen spiegelnd, dieselbe Methode angewendet: friedliche Schlichtung aller Konflikte durch gegenseitige Konzilianz. Niemals hat es mit dem eigenen Aufbau den Aufbau der Welt gestört und immer nur gefördert, seit mehr als hundert Jahren seine Grenzen nicht erweitert und mit allen seinen Nachbarn sich gütlich verständigt; es hat einzig seine immer wachsenden Kräfte nach innen gewandt; seine Bevölkerungszahl und Lebenshaltung ständig gemehrt und besonders in den letzten zehn Jahren durch straffere Organisation sich dem Rhythmus der Zeit angepaßt. Verschwenderisch von der Natur bedacht mit Raum und unendlichem Reichtum innerhalb dieses Raumes, gesegnet mit Schönheit und allen erdenkbaren potentiellen Kräften, hat es noch immer die alte Aufgabe seines Anfangs: Menschen aus überfüllten Zonen einzupflanzen in seine unerschöpfliche Erde und, Altes mit Neuem verbindend, eine neue Zivilisation zu erschaffen. Noch immer nach vierhundertundvierzig Jahren ist seine Entwicklung erst im Anschwung, und keine Phantasie reicht aus, zu erdenken, was dieses Land, diese Welt der nächsten Generation bedeuten wird. Wer immer Brasiliens Heute schildert, beschreibt unbewußt schon sein Gestern. Nur wer seine Vergangenheit ins Auge faßt, sieht seinen wahren Sinn.

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Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.