Der Fall Servet


Manchmal in den Zeiten wählt sich die Geschichte aus den Millionenmassen der Menschheit eine einzelne Gestalt, um an ihr eine weltanschauliche Auseinandersetzung plastisch zum Austrag zu bringen. Ein solcher Mann muß keineswegs immer ein Genius höchster Ordnung sein. Oft begnügt sich das Schicksal, einen ganz zufälligen Namen aus den vielen herauszugreifen, um ihn unauslöschlich in das Gedächtnis der Nachwelt zu schreiben. So ist auch Michael Servet nicht kraft eines besonderen Genius, sondern nur dank seinem fürchterlichen Ende eine denkwürdige Persönlichkeit geworden. Sehr vielfältig, aber ohne sich glücklich zu ordnen, sind in diesem merkwürdigen Manne die Begabungen gemischt: ein starker, ein wacher, neugieriger, eigenwilliger Intellekt, aber irrlichternd von einem Problem zum andern, ein reiner Wille zur Wahrheit, aber unfähig zur schöpferischen Klarheit. In keine Wissenschaft paßt dieser faustische Geist sich gründlich ein, obwohl jeder sich andrängend, Franktireur gleichzeitig in der Philosophie, der Medizin, der Theologie, manchmal blendend durch kühne Beobachtungen, dann wieder verärgernd durch leichtfertige Scharlatanerien. Einmal allerdings flammt in dem Buch seiner prophetischen Verkündigungen eine wahrhaft wegweisende Beobachtung auf, die medizinische Entdeckung des sogenannten kleinen Blutkreislaufs, aber Servet denkt nicht daran, seinen Fund systematisch auszuwerten und wissenschaftlich zu vertiefen; wie ein einzelnes verfrühtes Wetterleuchten verlischt dieser Genieblitz aus der dunklen Wand seines Jahrhunderts. Es ist viel geistige Kraft in diesem Einzelgänger, aber nur innere Zielstrebigkeit verwandelt einen starken Geist in eine schöpferische Gestalt.


Daß in jedem Spanier ein Schuß Don Quichotte stecke, ist bis zum Überdruß oft wiederholt worden; dennoch ist die Beobachtung wunderbar und geradezu aufdringlich wahr bei Miguel Servet. Nicht nur bildmäßig hat dieser schmächtige, fahle, spitzbärtige Aragonier Ähnlichkeit mit dem hagern und magern Helden de la Mancha; auch innerlich ist er verbrannt von der gleichen großartigen und grotesken Leidenschaft, für das Absurde zu kämpfen und in blindwütigem Idealismus gegen alle Widerstände der Realität anzurennen. Völlig jeder Selbstkritik entbehrend, immer etwas entdeckend oder behauptend, reitet dieser fahrende Ritter der Theologie gegen alle Wälle und Windmühlen der Zeit. Nur das Abenteuer reizt ihn, das Absurde, Abseitige und Gefährliche, und in heller Streitlust schlägt er sich mit allen andern Rechthabern erbittert herum, keiner Partei sich bindend, keinem Clan zugehörend, immer ein Einsamer, zugleich phantasievoll und phantastisch, und darum eine einmalige exzentrische Gestalt.


Wer in so schroffer Selbstüberschätzung ständig allein gegen alle steht, muß es sich geradezu zwangsmäßig mit allen verderben; ungefähr gleichaltrig mit Calvin, ein halber Knabe noch, hat Servet bereits seinen ersten Zusammenstoß mit der Welt; mit fünfzehn Jahren schon sieht er sich genötigt, vor der Inquisition aus dem heimatlichen Aragonien nach Toulouse zu flüchten, um dort seine Studien fortzusetzen. Von der Universität nimmt ihn dann der Beichtvater Karls V. als Sekretär nach Italien mit und später auf den Augsburger Kongreß; dort verfällt der junge Humanist wie alle seine Zeitgenossen der zeitpolitischen Leidenschaft für den großen Kirchenstreit. Sein unruhiger Geist gerät beim Anblick der welthistorischen Polemik zwischen alter und neuer Lehre in Gärung. Wo alles streitet, will er mitstreiten, wo alles die Kirche zu reformieren sucht, mitreformieren, und mit dem Radikalismus der Jugend erachtet der Heißblütige alle bisherigen Lösungen und Loslösungen von der alten Kirche als viel zu zaghaft, zu lau, zu unentschieden. Selbst Luther, Zwingli und Calvin, diese kühnen Neuerer, scheinen ihm noch lange nicht revolutionär genug in der Reinigung des Evangeliums, übernehmen sie doch noch das Dogma von der Dreieinigkeit in ihre neue Lehre. Servet aber, mit der Intransigenz eines Zwanzigjährigen, erklärt das Konzil von Nicäa einfach für ungültig und das Dogma von den drei ewigen Hypostasen als unvereinbar mit der Einheit des göttlichen Wesens.


Eine solche radikale Auffassung wäre nun an sich keineswegs auffällig in einer dermaßen religiös überreizten Zeit. Immer, wenn alle Werte und Gesetze einmal ins Wanken geraten sind, sucht jeder sich sein Recht, selbständig und traditionslos zu denken. Aber verhängnisvollerweise übernimmt Servet von all den zankenden Theologen nicht nur die Diskussionsfreude, sondern auch ihre schlimmste Eigenschaft, die fanatische Rechthaberei. Denn sofort will der Zwanzigjährige den Führern der Reformation beweisen, daß sie die Kirche völlig unzulänglich reformiert hätten und nur er, Miguel Servet, um die Wahrheit wisse. Ungeduldig besucht er die großen Gelehrten seiner Zeit, in Straßburg Martin Bucer und Capito, in Basel Oecolampadius, um sie aufzufordern, schleunigst das »irrige« Dogma der Trinität in der evangelischen Kirche abzuschaffen. Nun kann man sich leicht das Entsetzen der würdigen, gereiften Prediger und Professoren ausdenken, als ihnen da plötzlich ein bartloser spanischer Student ins Haus schneit und mit der ganzen Ungebärdigkeit eines starken und hysterischen Temperaments verlangt, sie mögen sofort alle ihre Anschauungen umstoßen und sich gehorsam seiner radikalen These anschließen. Als ob der Teufel in Person ihnen einen Höllenbruder in die Studierstube geschickt hätte, so schlagen sie das Kreuz vor diesem wilden Häretiker. Oecolampadius jagt ihn wie einen Hund aus dem Haus, nennt ihn einen »Juden, Türken, Gotteslästerer und vom Dämon Befallenen«, Bucer prangert ihn von der Kanzel als einen Teufelsknecht an, und Zwingli warnt öffentlich vor dem »frevlerischen Hispanier, dessen falsche, böse Lehre unsere ganze christliche Religion abtun will«.


Aber sowenig der Ritter de la Mancha sich durch Schimpf und Prügel auf seiner Irrfahrt abschrecken läßt, so wenig wird sich sein theologischer Landsmann durch Argumente oder Abweisungen in seinem Kampf erschüttern lassen. Wenn ihn die Führer nicht verstehen, wenn ihn die Weisen und Klugen in ihren Studierstuben nicht hören wollen, dann muß der Kampf eben öffentlich weitergeführt werden; nun möge die ganze christliche Welt seine Beweise in Buchform lesen! Mit zweiundzwanzig Jahren rafft Servet sein letztes Geld zusammen und gibt in Hagenau seine Thesen in Druck. Nun bricht der Sturm offen gegen ihn los. Bucer erklärt von der Gotteskanzel herab nicht mehr und nicht weniger, als daß dieser Frevler verdiene, »die Eingeweide aus dem lebendigen Leibe gerissen zu bekommen«, und im ganzen Kreise des Protestantismus gilt Servet von dieser Stunde an als der erlesene Sendbote des leibhaftigen Satanas.


Selbstverständlich gibt es für einen Mann, der sich derart provokatorisch gegen die ganze Welt gestellt, der gleichzeitig die katholische und auch die protestantische Kirchenlehre für irrig erklärt, im ganzen christlichen Abendland keine ruhige Stätte mehr, kein Haus und kein Dach. Seit Michael Servet sich mit seinem Buche der »arianischen Ketzerei« schuldig gemacht hat, ist der Mensch, der diesen Namen trägt, gejagter und gefährdeter als ein wildes Tier. Eine einzige Rettung ist für ihn noch denkbar: völlig spurlos zu verschwinden, sich unsichtbar und unauffindbar zu machen, seinen Namen von sich abzureißen wie ein brennendes Kleid; als Michel de Villeneuve kehrt der Geächtete nach Frankreich zurück und tritt unter diesem Pseudonym bei einem Buchdrucker in Lyon als Korrektor ein. Sein starkes dilettantisches Einfühlungsvermögen findet auch in dieser Sphäre bald einen neuen Anreiz und polemische Möglichkeiten. Bei der Korrektur der Geographie des Ptolemäus entwickelt sich Servet über Nacht zum Geographen und versieht das Werk mit einer ausführlichen Einleitung. An der Revision ärztlicher Bücher erzieht der bewegliche Geist sich wiederum zum Mediziner, nach kurzer Zeit schon nimmt er das Studium der Heilkunde ernst; er geht nach Paris, um sich weiter auszubilden, und arbeitet gemeinsam mit Vesalius als Präparator bei anatomischen Vorlesungen. Aber wiederum, wie vordem in der Theologie, beginnt der Ungeduldige, ohne noch recht zu Ende gelernt und wahrscheinlich auch ohne den Doktorgrad erworben zu haben, in dieser neuen Materie sofort alle andern belehren und übertreffen zu wollen. Kühn kündigt er an der medizinischen Schule in Paris einen Kurs über Mathematik, Meteorologie, Astronomie und Astrologie an, aber solche Vermengung von Sternkunde mit Heilkunde und manche seiner schwindlerischen Praktiken verärgern die Ärzte; Servet-Villanovus gerät in Konflikte mit den Autoritäten und wird schließlich vor dem Parlament offen angeklagt, daß er mit seiner Astrologie, einer Wissenschaft, die von den göttlichen und bürgerlichen Gesetzen verurteilt sei, groben Unfug treibe. Abermals rettet sich Servet, nur damit bei der amtlichen Untersuchung nicht die Identität mit dem vielgesuchten Erzketzer aufgedeckt werde, durch rasches Untertauchen. Über Nacht ist der Dozent Villanovus aus Paris verschwunden wie einstmals der Theologe Servet aus Deutschland. Lange hört man nichts mehr von ihm. Und als er neuerdings auftaucht, trägt er schon wieder eine andere Maske: wer könnte auch vermuten, daß der neue Leibarzt des Erzbischofs Paulmier von Vienne, dieser fromme Katholik, der allsonntäglich in die Messe geht, ein geächteter Erzketzer und vom Parlament verurteilter Scharlatan sei? Allerdings, Michel de Villeneuve hütet sich in Vienne wohlweislich, ketzerische Thesen zu verbreiten. Er hält sich vollkommen still und unauffällig, er besucht und heilt viele Kranke, er verdient reichlich Geld, und respektvoll ahnungslos lüften die wackeren Bürger von Vienne den Hut, wenn würdevoll und mit spanischer Grandezza der Leibarzt Seiner erzbischöflichen Eminenz, Monsieur le docteur Michel de Villeneuve, an ihnen vorüberschreitet: welch ein edler, frommer, gelehrter und bescheidener Mann!


Aber in Wahrheit ist der Erzketzer in diesem leidenschaftlich ehrgeizigen Manne keineswegs erstorben; in der tiefsten Seele Michael Servets lebt unerschütterlich der alte sucherische Unruhegeist. Hat einmal ein Gedanke von einem Menschen Besitz ergriffen, beherrscht er ihn bis in die letzte Faser seines Denkens und Fühlens, so erzeugt er unaufhaltsam ein inneres Fieber. Ein lebendiger Gedanke will nie bei einem einzigen sterblichen Menschen leben und vergehen, er will Raum und Welt und Freiheit. Immer kommt darum bei jedem Denker die Stunde, da seine Lebensidee aus dem Innen nach außen drängt wie ein Span aus einem schwärenden Finger, wie ein Kind aus dem Mutterleibe, wie die Frucht aus der Schale. Ein Mann von der Leidenschaft und Selbstbewußtheit eines Servet wird es auf die Dauer nicht ertragen, seinen Lebensgedanken für sich allein zu denken; unwiderstehlich muß er begehren, daß endlich die ganze Welt ihn mitdenke. Nach wie vor bedeutet es für ihn eine tägliche Gewissensqual, mitanzusehen, wie die evangelischen Führer das seiner Meinung nach falsche Dogma der Kindertaufe und der Dreieinigkeit verkünden, wie die Christenheit noch immer mit diesen »antichristlichen« Irrtümern befleckt wird. Ist es da nicht seine Pflicht, endlich vorzutreten und der ganzen Welt die Botschaft des wahren Glaubens zu bringen? Furchtbar müssen diese Jahre des erzwungenen Schweigens auf Servet gelastet haben. Einerseits bedrängt ihn das ungesprochene Wort, anderseits muß er als Geächteter und Getarnter die Lippen verpressen. In dieser qualvollen Lage versucht Servet schließlich – verständliches Verlangen –, wenigstens einen Denkbruder in der Ferne zu finden, mit dem er geistige Zwiesprache halten kann; da er daheim mit niemandem sich geistig zu verständigen wagt, spricht er seine theologischen Überzeugungen aus im brieflich geschriebenen Wort.


Verhängnisvollerweise ist es gerade Calvin, dem der Verblendete sein volles Vertrauen schenkt. Gerade von diesem radikalsten und kühnsten Erneuerer der evangelischen Lehre erhofft sich Servet Verständnis für eine noch strengere und verwegenere Auslegung der Schrift: vielleicht erneuert er damit auch nur eine einstige mündliche Aussprache. Denn schon in ihrer Universitätszeit sind diese beiden Altersgenossen einmal in Paris einander begegnet; aber erst nach Jahren, da Calvin schon Herr von Genf und Michel de Villeneuve Leibarzt des Erzbischofs von Vienne geworden ist, knüpft sich durch Vermittlung eines Lyoner Buchhändlers ein Briefwechsel zwischen den beiden an. Die Initiative geht von Servet aus. Mit einer nicht abzuweisenden Eindringlichkeit, ja sogar Zudringlichkeit wendet er sich an Calvin, um diesen stärksten Theoretiker der Reformation für seinen Kampf gegen das Dogma der Dreieinigkeit zu gewinnen, und schreibt ihm Brief auf Brief. Zuerst antwortet Calvin nur doktrinär abmahnend; in seinem Pflichtgefühl, Irrende zu belehren und als Führer der Kirche die Versprengten wieder in die gute Hürde zu bringen, sucht er Servet seine Irrtümer darzulegen; aber schließlich erbittert ihn ebenso die ketzerische These wie der anmaßende und selbstherrliche Ton, in dem Servet sie vorbringt. Einer dermaßen autoritären Natur wie Calvin, dem schon der geringste Einspruch in der geringsten Kleinigkeit an die Galle fährt, zu schreiben: »Ich habe Dich oft verständigt, daß Du auf falschem Wege bist, indem Du die monströsen Unterschiede der drei göttlichen Essenzen billigst«, – schon das heißt einen derart gefährlichen Gegner auf das gefährlichste reizen. Aber wenn Servet schließlich ihrem eigenen weltberühmten Verfasser ein Exemplar der ›Institutio religionis Christianae‹ ins Haus schickt, auf dem er wie ein Schullehrer dem Schüler die vermeintlichen Fehler an den Rändern angemerkt hat, dann vermag man sich die Stimmung leicht auszumalen, mit der der Herr von Genf diese Anmaßung eines Amateurtheologen empfängt. »Servet wirft sich auf meine Bücher und beschmiert sie mit beschimpfenden Bemerkungen wie ein Hund, der an einem Stein beißt und herumknabbert«, schreibt Calvin verächtlich an seinen Freund Farel. Wozu Zeit verlieren und mit einem solchen unheilbaren Wirrkopf disputieren? Mit einem Fußtritt fertigt er Servets Argumente ab. »Ich achte auf die Worte dieses Individuums nicht mehr als auf das Geschrei eines Esels (›le hin-han d’un âne‹).«


Aber der unselige Don Quichotte, statt rechtzeitig zu spüren, gegen welchen eisernen Panzer von Selbstbewußtsein er mit seiner dünnen Lanze anrennt, gibt nicht nach. Gerade diesen einen und einzigen, der nichts von ihm wissen will, begehrt er, um jeden Preis für seine Idee zu gewinnen, und er läßt nicht ab; es ist wirklich, als ob er von einem »Sathan«, wie Calvin schreibt, besessen gewesen wäre. Statt sich vor Calvin als vor dem denkbar gefährlichsten Gegner zu hüten, sendet er ihm sogar die noch ungedruckten Proben des von ihm vorbereiteten theologischen Werkes zur Lektüre, und wenn schon der Inhalt Calvin aufreizen muß, wie erst der Titel! Denn Servet benennt sein Bekenntniswerk ›Christianismi Restitutio‹, um nur recht augenfällig vor der ganzen Welt zu betonen, daß man der »Institutio« Calvins eine »Restitutio« entgegenstellen müsse. Nun wird Calvin die pathologische Bekehrungssucht dieses Widersachers und seine narrenhafte Zudringlichkeit zu arg. Ausdrücklich verständigt er den Buchhändler Frellon, der bisher den Briefwechsel vermittelt hatte, er habe wahrlich Dringlicheres zu tun, als mit einem solchen aufgeblasenen Narren seine Zeit zu verlieren. Gleichzeitig aber schreibt er – und diese Worte werden später ein furchtbares Gewicht bekommen – an seinen Freund Farel: »Servet hat mir jüngst geschrieben und seinem Brief einen dicken Band seiner Hirngespinste beigelegt, mit unglaublicher Anmaßung behauptend, ich würde darin erstaunliche Dinge lesen. Er erklärt sich bereit hierherzukommen, sofern ich es wünsche… Aber ich will nicht mein Wort dafür einsetzen; denn sollte er kommen, so würde ich, sofern ich noch einigen Einfluß in dieser Stadt habe, nicht dulden, daß er sie lebend verläßt.«


Ob Servet von dieser Drohung Kenntnis erhielt oder (in einem verlorenen Brief) ihn Calvin selber noch gewarnt hat – jedenfalls, eine Ahnung scheint ihn endlich überkommen zu haben, welchem mörderischen Hasser er sich ausgeliefert hat; zum erstenmal wird es ihm unbehaglich, jenes gefährliche Manuskript, das er Calvin »sub sigillo secreti« zugesandt hat, weiterhin in den Händen eines Mannes zu wissen, der so offen seine Feindseligkeit gegen ihn kundgetan. »Da Du der Meinung bist«, schreibt der Aufgeschreckte an Calvin, »daß ich für Dich ein Satan bin, so mache ich Schluß. Schicke mir mein Manuskript zurück und gehabe Dich wohl. Wenn Du aber ehrlich glaubst, daß der Papst der Antichrist sei, mußt Du auch der Überzeugung sein, daß die Dreieinigkeit und die Kindertaufe, die einen Teil der Papstlehre bilden, ein dämonisches Dogma sind.«


Aber Calvin hütet sich zu antworten, und noch weniger denkt er daran, Servet das belastende Manuskript zurückzusenden. Sorglich, wie eine gefährliche Waffe, verwahrt er die Ketzerschrift in einer Lade, um sie zu gegebener Stunde hervorholen zu können. Denn beide wissen sie nach dieser letzten harten Aussprache, daß ein Kampf beginnen muß, und in düsterem Vorgefühl schreibt Servet in diesen Tagen an einen Theologen: »Mir ist nun vollkommen klar, daß es mir bevorsteht, für diese Sache den Tod zu erleiden. Aber dieser Gedanke kann meinen Mut nicht niederschlagen. Als Schüler Christi schreite ich in der Spur meines Meisters.«


Es ist, jeder hat es erfahren, Castellio und Servet und hundert andere, eine verwegene und lebensgefährliche Sache, einem so fanatischen Rechthaber wie Calvin auch nur ein einziges Mal, und sei es nur in einem nebensächlichen Punkte seiner Lehre, entgegengetreten zu sein. Denn Calvins Haß ist, wie alles in seinem Charakter, starr und methodisch, nicht etwa ein jäh aufspringendes und wieder in sich zusammensinkendes Zornfeuer wie die berserkerischen Ausbrüche Luthers und die Grobianismen Farels. Sein Haß ist ein Ressentiment, hart, scharf und schneidend wie Erz, er stammt nicht wie jener Luthers aus dem Blut, aus dem Temperament, aus Hitzigkeit oder Galle – Calvins zähe, kalte Ranküne kommt aus dem Gehirn, und sein Haß hat ein furchtbar gutes Gedächtnis. Calvin vergißt niemals und niemanden – »quand il a le dent contre quelqu’un ce n’est jamais fait«, sagt von ihm der Pastor de la Mare –, und ein Name, den er einmal innerlich mit diesem harten Griffel eingeschrieben hat, wird nicht gelöscht, ehe nicht der Mensch selbst aus dem Buch des Lebens. So haben auch alle die Jahre nichts zu besagen, während deren Calvin nichts mehr von Servet hört: er wird ihn darum nicht vergessen. Schweigend bewahrt er in der Lade die kompromittierenden Briefe, in seinem Köcher die Pfeile, in seiner harten und unerbittlichen Seele den alten, unabänderlichen Haß.


In der Tat verhält sich Servet während dieser langen Frist scheinbar vollkommen still. Er hat es aufgegeben, den Unbelehrbaren zu überzeugen; seine ganze Leidenschaft gilt jetzt dem Werke. Mit stiller und wahrhaft erschütternder Hingebung arbeitet der Leibarzt des Erzbischofs heimlich an seiner ›Restitutio‹ weiter, die, wie er hofft, Calvins, Luthers und Zwinglis Reformation an Wahrhaftigkeit weitaus übertreffen und endlich die Welt zum wahren Christentum erlösen soll. Denn keineswegs und niemals ist Servet jener »zyklopische Verächter des Evangeliums« gewesen, als den ihn später Calvin anzuprangern suchte, und ebensowenig der kühne Freigeist und Atheist, als der er heute manchmal gefeiert wird. Immer ist Servet im Raum des Religiösen geblieben, und wie sehr er sich als frommer Christ empfand, der sein Leben einsetzen müsse für den Glauben an das Göttliche, bezeugt der Anruf in der Vorrede seines Buches. »O Jesu Christe, Sohn Gottes, der Du uns vom Himmel gegeben bist, offenbare Dich selbst Deinem Diener, damit eine so große Offenbarung uns in wahrhafter Weise klar werde. Es ist Deine Sache, die ich, einem innern göttlichen Drange folgend, zu verteidigen unternommen habe. Schon früher habe ich einen ersten Versuch gemacht; nun werde ich aufs neue dazu genötigt, da die Zeit in Wahrheit erfüllt ist. Du hast uns gelehrt, unser Licht nicht zu verbergen; wehe mir darum, wenn ich die Wahrheit nicht verkündigte!«


Daß Servet sich der Gefahr voll bewußt war, die er mit der Veröffentlichung seines Buches heraufbeschwor, bezeugen überdies die besonderen Vorsichtsmaßnahmen bei der Drucklegung. Denn welches ungeheure Unterfangen, als Leibarzt des Erzbischofs in einer geschwätzigen Kleinstadt ein siebenhundert Seiten starkes ketzerisches Werk drucken zu lassen! Nicht nur der Verfasser, sondern auch der Hersteller und alle Handlanger setzten bei so tollem Wagestück ihr Leben aufs Spiel. Aber gerne opfert Servet sein ganzes durch die vieljährige ärztliche Tätigkeit mühselig erworbenes Vermögen, um die zögernden Arbeiter zu bestechen, der Inquisition zum Trotz heimlich sein Werk zu drucken. Aus Vorsicht wird überdies die Druckerpresse aus der eigentlichen Druckerei in ein abgelegenes Haus geschafft, das Servet eigens zu diesem Zwecke gemietet hat. Dort arbeiten nun die verläßlichen Leute, die sich unter Eid verpflichtet haben, das Geheimnis zu bewahren, in unauffälliger Weise an dem Ketzerbuche, und selbstverständlich wird in dem fertigen Werke jeder Vermerk über Druckort und Erscheinungsort unterdrückt. Nur auf die letzte Seite läßt Servet verhängnisvollerweise über das Erscheinungsjahr die verräterischen Initialen M. S. V. (Michael Servet Villanovus) setzen und liefert damit den Spürhunden der Inquisition einen unwiderleglichen Beweis für seine Autorschaft.


Aber Servet braucht sich gar nicht selbst zu verraten, dafür sorgt schon der scheinbar schlummernde, in Wahrheit aber scharfäugig lauernde Haß seines unerbittlichen Gegners. Die großartige Spionage- und Überwachungsorganisation, die Calvin in Genf immer methodischer und feinmaschiger aufgebaut hat, arbeitet weit in alle Nachbarlande hinüber und in Frankreich sogar präziser als dort die päpstliche Inquisition. Noch ist Servets Werk gar nicht wirklich erschienen, noch liegen fast alle die tausend Bände zu Bündeln verpackt in Lyon oder rollen unaufgeschnürt in den Bücherwagen zur Messe nach Frankfurt, noch hat Servet selbst erst so wenige Exemplare aus der Hand gegeben, daß heute im ganzen nur mehr drei erhalten sind, und doch hat Calvin schon eines in Händen. Und sofort geht er daran, beide mit einem Schlag zu vernichten, den Ketzer und sein Werk.


Dieser erste (weniger bekannte) Mordversuch Calvins an Servet ist eigentlich noch widerwärtiger durch seine Hinterhältigkeit als später der offene Mord auf dem Marktplatz von Champel. Denn wollte Calvin nach Erhalt des von ihm als erzketzerisch empfundenen Buches seinen Gegner in die Arme der geistlichen Behörde stoßen, so hätte er dafür einen offenen und ehrlichen Weg gehabt. Er brauchte nur von der Kanzel die Christenheit vor diesem Buche zu warnen, und die katholische Inquisition hätte sich den Verfasser in kurzer Frist auch im Schatten eines erzbischöflichen Palastes schon selber entdeckt. Aber der Führer der Reformation erspart dem päpstlichen Officium die Mühe der Nachforschung, und zwar auf die perfideste Art. Vergeblich, daß Calvins Lobredner ihn auch in diesem dunkelsten Punkte zu verteidigen suchten, denn sie verkennen und verfärben damit im tiefsten seinen Charakter: Calvin, persönlich zweifellos ein Mann ehrlichsten Eifers und reinsten religiösen Willens, wird sofort skrupellos in dem Augenblick, wenn es um sein Dogma, wenn es um die »Sache« geht. Für seine Lehre, für seine Partei ist er sofort gewillt (und in diesem Punkte wird die Polarität zu Loyola zur Identität), jedes Mittel zu billigen, sofern es nur wirksam erscheint. Kaum ist Servets Buch in Calvins Händen, so schreibt schon am 16. Februar 1553 einer seiner nächsten Freunde, ein protestantischer Emigrant namens Guillaume de Trye, aus Genf einen Brief nach Frankreich an seinen Vetter Antoine Arneys, der ebenso fanatisch Katholik geblieben ist, wie de Trye Protestant geworden ist. In diesem Briefe rühmt de Trye zuerst ganz allgemein, wie trefflich das protestantische Genf alle ketzerischen Umtriebe unterdrücke, während man im katholischen Frankreich dieses Unkraut üppig wuchern lasse. Aber plötzlich wird das freundliche Geplauder gefährlich ernst: dort in Frankreich, schreibt de Trye, halte sich zum Beispiel jetzt ein Ketzer auf, der verdiene, verbrannt zu werden, wo immer man seiner habhaft werden könnte (»qui mérite bien d’être brûlé partout où il sera«).


Unwillkürlich schrickt man auf. Denn dieser Satz reimt sich schon gefährlich mit der seinerzeitigen Ankündigung Calvins: wenn Servet Genf betreten sollte, würde er dafür sorgen, daß dieser die Stadt nicht mehr lebend verlasse. Aber de Trye, der Handlanger Calvins, wird noch deutlicher. Er denunziert jetzt ganz offen und klar: »Es handelt sich um einen aragonischen Spanier, der Michael Servet heißt, sich aber Michel de Villeneuve nennt und den Beruf eines Arztes ausübt«, und legt gleich den gedruckten Titel des Buches von Servet, die Inhaltsangabe sowie die ersten vier Seiten bei. Dann sendet er mit einem mitleidigen Seufzer über die Sündigkeit der Welt seinen mörderischen Brief ab.


Diese Genfer Mine ist zu kunstgerecht angelegt, um nicht sofort an der gewünschten Stelle zu zünden. Alles geschieht genau, wie es dieser perfide Denunziationsbrief beabsichtigt hat. Der fromme katholische Vetter Arneys flattert völlig fassungslos mit dem Schreiben zu den kirchlichen Behörden von Lyon, der Kardinal bestellt sich in höchster Eile den päpstlichen Inquisitor Pierre Ory. Mit unheimlicher Geschwindigkeit kommt das von Calvin angeschwungene Rad ins Rollen. Am 27. Februar ist die Denunziation von Genf eingetroffen, am 16. März ist Michel de Villeneuve bereits in Vienne vorgeladen.


Aber, bitteres Ärgernis für die fromm-eifrigen Denunzianten in Genf: die kunstgerechte Mine explodiert nicht. Irgendeine hilfreiche Hand muß die Leitung durchgeschnitten haben. Wahrscheinlich hat der Erzbischof von Vienne in persona seinem Leibarzt einen wertvollen Wink gegeben, sich rechtzeitig zu decken. Denn als der Inquisitor in Vienne erscheint, ist die Presse auf magische Weise schon von der Druckstelle verschwunden, die Arbeiter erklären und beschwören, nie ein Buch dieser Art gedruckt zu haben, und der hochangesehene Arzt Villanovus lehnt entrüstet jede Identität mit Michael Servet ab. Merkwürdigerweise erklärt sich die Inquisition mit diesem bloßen Protest bereits zufriedengestellt, und diese auffällige Nachsicht bestätigt die Vermutung, daß irgendeine mächtige Hand Servet damals geschützt haben muß. Das Gericht, das sonst gleich mit Daumenschrauben und Zugwinden einsetzt, beläßt Villeneuve auf freiem Fuß, der Inquisitor kehrt unverrichteter Dinge nach Lyon zurück, wo Arneys mitgeteilt wird, seine beigebrachten Informationen hätten leider zu einer Anklage nicht ausgereicht. Der Genfer Anschlag, sich Servets auf dem Umweg über die katholische Inquisition zu entledigen, scheint kläglich mißlungen. Und wahrscheinlich verliefe die ganze dunkle Angelegenheit im Sande, wenn sich nicht Arneys ein zweites Mal nach Genf wendete, um von seinem Vetter de Trye neue und diesmal stichhaltige Beweise zu erbitten.


Bisher konnte man mit dem äußersten, dem alleräußersten Maß von Nachsichtigkeit vielleicht noch annehmen, de Trye habe wirklich bloß aus purem Glaubenseifer seinem katholischen Vetter über den ihm persönlich fremden Autor berichtet und weder er noch Calvin hätten geahnt, daß ihre persönliche Denunziation an die päpstlichen Behörden weitergeleitet werden könne. Jetzt aber, da die Justizmaschine bereits im Gang ist und die Genfer Gruppe genau wissen muß, daß sich Arneys nicht aus eigener Neugier, sondern im Auftrag der Inquisition an sie um weitere Beweise wendet, können sie sich nicht mehr im unklaren sein, wem sie eigentlich gefällig sind. Nach aller irdischen Voraussicht müßte ein evangelischer Geistlicher jetzt zurückschauern, gerade jener Behörde Spitzeldienste zu leisten, die eben wieder einige Freunde Calvins bei langsamem Feuer geröstet hat, und mit Recht wird Servet später seinem Mörder Calvin die Frage entgegenschleudern, »ob ihm nicht bekannt war, daß es nicht das Amt eines Dieners am Evangelium sei, sich zum behördlichen Ankläger zu machen und einem Manne von Amts wegen nachzustellen«.


Aber wenn es um seine Lehre geht, verliert Calvin – man muß es immer wieder sagen – jedes moralische Maß und humane Gefühl. Servet muß erledigt werden, und mit welchen Waffen und auf welche Weise es geschieht, ist diesem zähen Hasser im Augenblick völlig gleichgültig. In der Tat geschieht es auf die allertückischste und schmählichste Art. Denn der neue Brief, den de Trye zweifellos unter dem Diktat Calvins – an seinen Vetter Arneys richtet, ist ein Meisterstück der Heuchelei. De Trye stellt sich zunächst sehr erstaunt, daß sein Vetter seinen Brief an die Inquisition weitergeleitet habe. Er hätte die Mitteilung doch nur »privément à vous seul«, nur ganz persönlich an ihn allein gemacht. »Meine Absicht war bloß, darzutun, welcher Art der schöne Glaubenseifer derjenigen ist, die sich die Pfeiler der Kirche nennen.« Aber statt nun, da er doch weiß, daß ein Scheiterhaufen gerüstet wird, jede weitere Materialbeschaffung an die katholische Inquisition abzulehnen, erklärt dieser erbärmliche Denunziant mit frommem Augenaufschlag, da der Irrtum nun einmal geschehen sei, habe dies »Gott um des Besten willen gewollt, damit die Christenheit von solchem Schmutz und solcher tödlicher Pest gereinigt werde«. Und nun geschieht das Unglaubwürdige: nach diesem schlimmen Versuch, Gott in diese Sache menschlicher oder vielmehr unmenschlicher Gehässigkeit einzubeziehen, händigt der überzeugte brave Protestant der katholischen Inquisition das denkbar mörderischeste Beweismaterial ein, nämlich Briefe von Servets eigener Hand und Teile der Handschrift seines Werkes. Nun kann der Ketzerrichter schnell und bequem seine Arbeit beginnen.


Briefe von Servets eigener Hand? Aber wie und woher kann sich de Trye, an den Servet niemals geschrieben hat, solche eigenhändige Briefe verschafft haben? Nun gibt es kein Verstecken mehr: Calvin muß aus dem Hintergrund heraus, in dem er sich bei dieser dunklen Affäre so vorsichtig verstecken wollte. Denn es sind selbstverständlich die an Calvin gerichteten Briefe und die Teile des an ihn gesandten Manuskripts, und Calvin – dies das Entscheidende – weiß vollkommen genau, für wen er sie aus seiner Lade holt. Er weiß, an wen diese Briefe übergeben werden sollen: an dieselben »Papisten«, die er täglich von der Kanzel herab Satansknechte nennt und die seine eigenen Schüler martern und verbrennen. Und er weiß genau, zu welchem Zwecke die Briefe vom Großinquisitor so dringend benötigt werden: um Servet auf den Scheiterhaufen zu bringen.


Vergeblich darum, wenn er später versucht, diesen klaren Tatbestand zu verfälschen, indem er sophistisch schreibt: »Es geht das Gerücht, ich hätte veranlaßt, daß Servet von der päpstlichen Inquisition festgenommen würde, und einige sagen, ich hätte nicht ehrenhaft gehandelt, ihn den Todfeinden des Glaubens auszuliefern und in den Rachen der Wölfe zu werfen. Aber ich bitte Euch, auf welche Weise hätte ich mich plötzlich mit den Satelliten des Papstes in Verbindung setzen können? Das ist doch wenig glaubhaft, daß wir miteinander verkehren und daß diejenigen, die so zu mir stehen wie Belial zu Christus, gemeinsam im Komplott gewesen wären.« Jedoch dieser logische Eselssprung um die Wahrheit ist dennoch zu ungeschickt; denn wenn Calvin stammelt, »auf welche Weise er sich mit den Satelliten des Papstes hätte in Verbindung setzen können«, so geben die Dokumente eine niederschmetternd klare Antwort: auf dem direkten Wege über seinen Freund de Trye, der übrigens selbst in seinem Brief an Arneys ganz naiv die Mithelferschaft Calvins eingesteht. »Ich muß bekennen, daß es mich viel Mühe gekostet hat, die Stücke, die ich beilege, von Herrn Calvin zu erhalten. Nicht etwa, daß er nicht der Ansicht wäre, solche schandbare Gotteslästerungen müßten unterdrückt werden, sondern weil er es für seine Person als seine Pflicht erachtet, Ketzer durch die Lehre zu überzeugen und nicht sie mit dem Schwerte der Justiz zu verfolgen.« Höchst vergeblich sucht (offenbar unter Calvins Diktat) der ungeschickte Schreiber alle Schuld von dem wahren Schuldigen zu nehmen, indem er schreibt: »Aber ich habe Herrn Calvin so bedrängt und ihm so überzeugend klargetan, daß, wenn er mir nicht hülfe, der Vorwurf der Leichtfertigkeit auf mich fiele, daß er schließlich doch das vorliegende Material zur Verfügung gestellt hat.« Aber die dokumentarischen Tatsachen sprechen hier besser als alle geschickten Worte: widerstrebend oder nicht widerstrebend, aber doch und doch hat Calvin die an ihn privat gerichteten Briefe Servets zum Zweck des Mords an die »Satelliten des Papstes« ausgeliefert. Nur durch seine bewußte Mithilfe war es möglich, daß de Trye seinem Brief an Arneys – in Wahrheit: an die Adresse der päpstlichen Inquisition – das mörderische Beweismaterial beipacken und das Schreiben mit dem klaren Hinweis schließen konnte: »Ich glaube, ich habe Sie mit gutem Material ausgerüstet, und es besteht nun keine Schwierigkeit mehr, sich Servets zu bemächtigen und ihm den Prozeß zu machen.«


Es wird berichtet, daß der Kardinal de Tournon und der Großmeister Ory, als sie diese endgültigen Beweise gegen den Ketzer Servet gerade durch die liebenswürdige Beflissenheit ihres Todfeindes, des Erzketzers Calvin, aufgedrängt bekamen, zunächst in schallendes Gelächter ausgebrochen seien, und man kann die gute Laune der Kirchenfürsten vollkommen verstehen; denn allzu ungeschickt verdeckt die frömmlerische Stilistik den unauslöschlichen Makel auf Calvins Ehre, daß aus Güte und Sanftmut und Freundschaftstreue für de Trye, aber doch und doch und doch der Führer des Protestantismus ihnen und gerade ihnen auf das liebenswürdigste einen Ketzer verbrennen helfen will. Solche Höflichkeiten und Gefälligkeiten waren sonst nicht üblich zwischen den beiden Religionen, die sich mit Eisen und Feuer und Galgen und Rad in allen Ländern des Erdballs erbittert bekämpften. Aber sofort nach diesem vergnüglich entspannenden Augenblick gehen die Inquisitoren energisch an ihr hartes Geschäft. Servet wird festgenommen, in Haft gesetzt und dringlich verhört. Die von Calvin beigebrachten Briefe bilden einen so verblüffenden und niederschmetternden Beweis, daß der Angeklagte die Identität des Michel de Villeneuve mit Michael Servet und die Autorschaft des Buches nicht mehr länger leugnen kann. Seine Sache ist verloren. Bald wird der Brandstoß in Vienne lodern.


Aber zum zweitenmal erweist sich die ungestüme Hoffnung Calvins, daß seine Erzfeinde ihn von seinem Erzfeind befreien würden, als verfrüht. Denn entweder hat Servet, der seit Jahren als Arzt in der Gegend höchst beliebt ist, besonders gute Helfer gehabt oder – was noch wahrscheinlicher ist – die kirchlichen Autoritäten machten sich das Vergnügen, gerade deshalb etwas lässig zuzugreifen, weil es Calvin so unerhört dringlich war, diesen Mann an den Pfahl zu bringen; lieber, denken sie, einen unbedeutenden Ketzer entwischen lassen, als dem tausendmal gefährlicheren Organisator und Propagator aller Ketzerei, als Maître Calvin in Genf gefällig sein! Die Bewachung Servets bleibt auffallend nachlässig. Während sonst Ketzer in engen Kerkern verschlossen und mit Eisenringen an die Wand geschmiedet werden, erlaubt man Servet ganz ungewöhnlicherweise, täglich Spaziergänge im Garten zu machen, um frische Luft zu schöpfen. Und am 7. April ist nach einem solchen Spaziergang Servet verschwunden, der Kerkermeister findet nur mehr seinen Schlafrock und die Leiter, mit der er über die Mauer des Gartens gestiegen ist; statt des lebendigen Menschen werden bloß sein Bild und fünf Bücherballen der ›Restitutio‹ auf dem Marktplatz von Vienne verbrannt. Kläglich ist der raffiniert ausgesonnene Genfer Plan mißlungen, einen persönlichen, geistigen Gegner durch einen fremden Fanatismus heimtückisch abtun zu lassen und selbst reine Hände zu bewahren. Mit Blut an den Händen und von dem Haß aller Humanen getroffen, wird Calvin es selbst verantworten müssen, wenn er weiterhin gegen Servet wütet und einen Menschen einzig um seiner Überzeugung willen vom Leben zum Tode bringt.

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Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.