Die Machtergreifung Calvins


Sonntag, den 21. Mai 1536 versammeln sich, feierlich von Fanfaren zusammengerufen, die Genfer Bürger auf dem öffentlichen Platz und erklären einhellig durch Händeerheben, daß sie von nun ab einzig »selon l’évangile et la parole de Dieu« leben wollten. Auf dem Wege des Referendums, dieser noch heute in der Schweiz üblichen erzdemokratischen Einrichtung, ist in der ehemaligen Bischofsresidenz die reformierte Religion als Stadt- und Staatsglauben, als das einzig gültige und erlaubte Bekenntnis eingeführt. Wenige Jahre hatten genügt, um den alten katholischen Glauben in der Rhônestadt nicht nur zurückzudrängen, sondern zu zerschmettern und auszurotten. Vom Pöbel bedroht, sind die letzten Priester, Domherren, Mönche und Nonnen aus den Klöstern geflüchtet, ausnahmslos alle Kirchen von Bildern und andern Wahrzeichen des »Aberglaubens« gereinigt. Dieser festliche Maitag besiegelt nun den endgültigen Triumph: von jetzt an hat der Protestantismus in Genf gesetzlich nicht nur die Obermacht und Übermacht, sondern die Alleinmacht.


Diese radikale und restlose Durchsetzung der reformierten Religion in Genf ist im wesentlichen die Leistung eines einzigen radikalen und terroristischen Mannes, des Predigers Farel. Eine fanatische Natur, eine enge, aber eiserne Stirn, ein mächtiges und zugleich rücksichtsloses Temperament – »nie in meinem Leben ist mir ein so anmaßender und schamloser Mensch vorgekommen«, sagt von ihm der milde Erasmus –, übt dieser »welsche Luther« zwingende, bezwingende Macht über die Massen. Klein, häßlich, roten Bartes und struppigen Haares, reißt er von der Kanzel mit seiner donnernden Stimme und dem maßlosen Furor seiner Gewaltnatur das Volk in einen fiebernden Gefühlsaufruhr; wie Danton als Politiker, weiß dieser religiöse Revolutionär die verstreuten und versteckten Instinkte der Straße zusammenzurotten und anzufeuern zum entscheidenden Stoß und Angriff. Hundertmal hat vor dem Siege Farel sein Leben gewagt, mit Steinwürfen auf dem flachen Land bedroht, von allen Behörden verhaftet und geächtet; aber mit der primitiven Stoßkraft und Intransigenz eines Menschen, den nur eine einzige Idee beherrscht, zertrümmert er gewaltsam jeden Widerstand. Barbarisch bricht er mit seiner Sturmgarde in die katholischen Kirchen ein, während der Priester am Altar das Meßopfer darbringt, und besteigt eigenmächtig die Kanzel, um unter dem Tosen seiner Anhänger wider die Greuel des Antichrist zu predigen. Er formiert aus Straßenjungen ein Jungvolk, er dingt Scharen von Kindern, daß sie während des Gottesdienstes in die Kathedralen eindringen und durch Schreien, Quäken und Gelächter die Andacht stören; schließlich, durch den immer stärkeren Zustrom seiner Anhänger kühn gemacht, mobilisiert er seine Garden zum letzten Vorstoß und läßt sie gewalttätig in die Klöster einbrechen, die Heiligenbilder von den Wänden reißen und verbrennen. Diese Methode der nackten Gewalt zeitigt ihren Erfolg: wie immer schüchtert eine kleine, aber aktive Minorität, sofern sie Mut zeigt und mit Terror nicht spart, eine große, aber lässige Majorität ein. Zwar klagen die Katholiken über Rechtsbruch und bestürmen den Magistrat, jedoch sie bleiben gleichzeitig resigniert in ihren Häusern, und wehrlos überläßt am Ende der geflüchtete Bischof seine Residenzstadt der siegreichen Reformation.


Aber nun im Triumphe zeigt es sich, daß Farel doch nur der Typus des unschöpferischen Revolutionärs gewesen, zwar fähig, durch Elan und Fanatismus eine alte Ordnung umzustoßen, doch nicht berufen, eine neue aufzurichten. Farel ist ein Schimpfer, aber kein Gestalter, ein Aufrührer, aber kein Aufbauer; er konnte grimmig Sturm laufen gegen die römische Kirche, die dumpfen Massen aufreizen zum Haß gegen Mönche und Nonnen, er vermochte mit seiner Empörerfaust die steinernen Tafeln des alten Gesetzes zu zerschlagen. Aber ratlos und ziellos steht er vor den Trümmern. Jetzt, da an die Stelle der verdrängten katholischen Religion in Genf eine neue Satzung zu stellen wäre, versagt Farel vollkommen; als bloß destruktiver Geist wußte er nur einen leeren Raum für das Neue zu schaffen, aber niemals kann ein Straßenrevolutionär geistig-konstruktiv gestalten. Mit dem Niederreißen ist seine Tat zu Ende, zum Aufbau muß ein anderer erstehen.


Nicht Farel allein erlebt damals diesen kritischen Augenblick der Unsicherheit nach einem zu raschen Sieg; auch in Deutschland und in der übrigen Schweiz zaudern die Führer der Reformation uneinig und ungewiß vor der ihnen zugefallenen historischen Aufgabe. Was Luther, was Zwingli ursprünglich durchsetzen wollten, war nichts als eine Reinigung der bestehenden Kirche gewesen, eine Rückführung des Glaubens von der Autorität des Papstes und der Konzile auf die vergessene evangelische Lehre. Reformation bedeutete für sie im Sinne des Wortes anfangs wirklich nur reformieren, also verbessern, reinigen, rückverwandeln. Aber da die katholische Kirche starr auf ihrem Standpunkt beharrte und sich zu keinen Konzessionen bereit gefunden, wächst ihnen unvermutet die Aufgabe zu, statt innerhalb nun außerhalb der katholischen Kirche ihre geforderte Religion zu verwirklichen; und sofort, da es vom Destruktiven an das Produktive geht, scheiden sich die Geister. Selbstverständlich wäre nichts logischer gewesen, als daß die religiösen Revolutionäre, daß Luther, Zwingli und die andern Reformationstheologen sich brüderlich auf eine einheitliche Glaubensform und Praxis der neuen Kirche geeinigt hätten; aber wann setzt sich jemals das Logische und Natürliche in der Geschichte durch? Statt einer protestantischen Weltkirche erstehen überall Einzelkirchen; Wittenberg will nicht die Gotteslehre von Zürich und Genf wieder nicht die Gebräuche Berns übernehmen, sondern jede Stadt will ihre Reformation auf ihre zürichsche, bernische und genferische Art; schon in jener Krise spiegelt sich der nationalistische Eigendünkel der europäischen Staaten im Verkleinerungsglas des Kantongeistes prophetisch voraus. In kleinen Zänkereien, in theologischen Haarspaltereien und Traktaten vergeuden Luther. Zwingli, Melanchthon, Bucer und Karlstadt, sie alle, die gemeinsam den Riesenbau der Ecclesia Universalis unterhöhlten, nun ihre beste Kraft. Völlig ohnmächtig aber steht Farel in Genf vor den Trümmern der alten Ordnung, ewige Tragik eines Menschen, der die ihm zubestimmte historische Tat vollbracht hat, aber sich ihren Folgen und Forderungen nicht mehr gewachsen fühlt.


Eine Glücksstunde ist es darum für den tragischen Triumphator, als er durch Zufall erfährt, Calvin, der berühmte Jehan Calvin, halte sich auf der Durchreise von Savoyen für einen Tag in Genf auf. Sofort besucht er ihn in seinem Gasthofe, um sich von ihm Rat zu holen und seine Hilfe für das Werk des Aufbaus zu erbitten. Denn obzwar beinahe zwanzig Jahre jünger als Farel, gilt dieser Sechsundzwanzigjährige bereits als eine unbestrittene Autorität. Sohn eines bischöflichen Zolleinnehmers und Notars, zu Noyon in Frankreich geboren, in der strengen Schule des Kollegiums von Montaigu (ebenso wie Erasmus und Loyola) erzogen, erst für den Priesterstand und dann zum Juristen bestimmt, hatte Jehan Calvin (oder Chauvin) mit vierundzwanzig Jahren wegen seiner Parteinahme für die lutherische Lehre aus Frankreich nach Basel flüchten müssen. Aber ihm wird im Gegensatz zu den meisten, die mit der Heimat auch die innere Kraft verlieren, Emigration zum Gewinn. Gerade in Basel, dieser Wegkreuzung Europas, wo sich die verschiedenen Formen des Protestantismus begegnen und befeinden, begreift Calvin mit dem Genieblick des weitdenkenden Logikers die Notwendigkeit der Stunde. Schon sind vom Kern der evangelischen Lehre immer radikalere Thesen abgesplittert, Pantheisten und Atheisten, Schwärmer und Zeloten beginnen den Protestantismus zu entchristlichen und zu überchristlichen, schon vollendet sich mit Blut und Grauen in Münster die schauervolle Tragikomödie der Wiedertäufer, schon droht die Reformation in einzelne Sekten zu zerfallen und national zu werden, statt sich zu einer Universalmacht zu erheben gleich ihrem Widerpart, der römischen Kirche. Gegen solche Selbstzersplitterung muß, dies überblickt der Vierundzwanzigjährige mit seherischer Sicherheit, rechtzeitig eine Zusammenfassung gefunden werden, eine geistige Kristallisierung der neuen Lehre in einem Buch, einem Schema, einem Programm; ein schöpferischer Grundriß des evangelischen Dogmas muß endlich entworfen werden. So zielt dieser unbekannte junge Jurist und Theologe mit der herrlichen Verwegenheit der Jugend vom ersten Augenblick an, während die eigentlichen Führer noch um Einzelheiten quengeln, entschlossen auf das Ganze und schafft in einem Jahr mit seiner ›Institutio religionis Christianae‹ (1535) den ersten Grundriß der evangelischen Lehre, das Lehrbuch und Leitbuch, das kanonische Werk des Protestantismus.


Diese ›Institutio‹ ist eines der zehn oder zwanzig Bücher der Welt, von denen man ohne Übertreibung sagen darf, daß sie den Ablauf der Geschichte bestimmt und das Antlitz Europas verändert haben; seit Luthers Bibelübersetzung das wichtigste Tatwerk der Reformation, hat sie von der ersten Stunde bei den Zeitgenossen durch ihre logische Unerbittlichkeit, ihre konstruktive Entschlossenheit entscheidenden Einfluß geübt. Immer braucht eine geistige Bewegung einen genialen Menschen, der sie beginnt, und einen genialen, der sie beendet. Luther, der Inspirator, hat die Reformation ins Rollen gebracht, Calvin, der Organisator, sie aufgehalten, ehe sie in tausend Sekten zerschellte. In gewissem Sinne schließt die Institutio darum die religiöse Revolution so ab, wie der Code Napoleon die französische: beide ziehen, indem sie den Schlußstrich setzen, ihre Summe, beide nehmen sie einer strömenden und überströmenden Bewegung das Feurigflüssige ihres Anfangs, um ihr die Form des Gesetzes und der Stabilität aufzuprägen. Aus Willkür ist damit Dogma, aus Freiheit Diktatur geworden, aus seelischer Erregtheit eine harte geistige Norm. Freilich: wie jeder Revolution, wenn sie innehält, geht auch dieser religiösen auf dieser letzten Stufe etwas von ihrer ursprünglichen Dynamik verloren; aber als geistig geeinte Weltmacht steht von nun ab der katholischen Kirche eine protestantische entgegen.


Es gehört zur Kraft Calvins, daß er die Starre seiner ersten Formulierung niemals gelindert oder geändert hat; alle späteren Ausgaben seines Werkes bedeuten fortan nur Erweiterung, aber keine Korrektur seiner ersten entscheidenden Erkenntnisse. Mit sechsundzwanzig Jahren hat er ähnlich wie Marx oder Schopenhauer seine Weltanschauung schon vor aller Erfahrung logisch durchdacht und zu Ende gedacht, alle folgenden Jahre werden nur dazu dienen, seine organisatorische Idee im realen Raume durchzusetzen. Kein wesentliches Wort wird er mehr ändern und vor allem sich selber nicht, keinen Schritt wird er zurückweichen und niemandem einen Schritt entgegengehen. Einen solchen Mann kann man nur zerbrechen oder an ihm zerbrechen. Alles mittlere Gefühl für ihn oder gegen ihn ist vergeblich. Es gibt nur eine Wahl: ihn zu verneinen oder sich völlig ihm zu unterwerfen.


Das spürt – und darin liegt menschliche Größe – Farel sofort bei der ersten Begegnung, bei dem ersten Gespräch. Und obwohl zwanzig Jahre älter, unterordnet er sich von dieser Stunde an vollkommen Calvin. Er anerkennt ihn als seinen Führer und Meister, er macht sich von diesem Augenblick an zu seinem geistigen Diener, zu seinem Untergebenen, zu seinem Knecht. Nie wird Farel in den nächsten dreißig Jahren ein einziges Wort des Widerspruchs gegen den Jüngeren wagen. In jedem Kampf, in jeder Sache wird er seine Partei nehmen, auf jeden Ruf von jedem Ort herbeieilen, um für ihn und unter ihm zu kämpfen. Als erster bietet Farel das Vorbild jenes fraglosen, unkritischen, sich selbst preisgebenden Gehorsams, den Calvin, der Subordinationsfanatiker, in seiner Lehre von jedem Menschen als oberste Pflicht verlangt. Nur eine einzige Forderung hat dagegen Farel in seinem Leben an ihn gestellt, und diese zu dieser Stunde: Calvin möge als der einzige Würdige die geistliche Führung Genfs übernehmen und mit seiner überlegenen Kraft das reformatorische Werk aufbauen, das zu vollenden er selbst zu schwach sei.


Calvin hat später berichtet, wie lange und wie heftig er sich geweigert habe, diesem überraschenden Rufe Folge zu leisten. Immer wird es für den geistigen Menschen ein verantwortlicher Entschluß, die reine Sphäre des Gedanklichen zu verlassen und in die trübe der Realpolitik einzutreten. Ein solches geheimes Bangen bemächtigt sich auch Calvins. Er zögert, er schwankt, er weist auf seine Jugend, seine Unerfahrenheit hin; er bittet Farel, er möge ihn doch lieber in seiner schöpferischen Welt der Bücher und der Probleme belassen. Schließlich wird Farel ungeduldig über Calvins Hartnäckigkeit, sich der Berufung zu entziehen, und mit biblischer Prophetenkraft donnere er den Zögernden an: »Du schützt deine Studien vor. Aber im Namen des allmächtigen Gottes verkündige ich dir: Gottes Fluch wird dich treffen, wenn du dem Werke des Herrn deine Hilfe versagst und dich mehr suchst als Christum.«


Erst dieser Anruf bestimmt Calvin und entscheidet sein Leben. Er erklärt sich bereit, in Genf die neue Ordnung aufzubauen: was er bislang in Wort und Idee vorgezeichnet, soll nun Tat und Werk werden. Statt einem Buch, wird er nun versuchen, einer Stadt, einem Staat die Form seines Willens aufzuprägen.


Immer wissen die Zeitgenossen am wenigsten von ihrer Zeit. Die wichtigsten Augenblicke fliehen an ihrer Aufmerksamkeit unbemerkt vorbei, und fast nie finden die wahrhaft entscheidenden Stunden in ihren Chroniken die gebührende Beachtung. So fühlt auch das Genfer Ratsprotokoll vom 5. September 1536, das Farels Antrag vermerkt, Calvin als »lecteur de la Sainte Escripture« dauernd anzustellen, sich nicht einmal bemüßigt, den Namen jenes Mannes hinzuschreiben, der Genf unermeßlichen Ruhm vor der Welt geben wird. Dürr vermerkt der Ratsschreiber bloß die Tatsache, daß Farel vorgeschlagen habe, »iste Gallus«, »jener Franzose« möge seine Predigertätigkeit fortsetzen. Das ist alles. Wozu sich bemühen, den Namen erst zu buchstabieren und in die Akten einzutragen? Es scheint doch nur ein unverpflichtender Entschluß, diesem brotlosen ausländischen Prediger einen kleinen Gehalt zu bewilligen. Denn noch ist der Magistrat der Stadt Genf der Meinung, er habe nichts anderes getan, als einen untergeordneten Beamten angestellt, der fürder ebenso bescheidentlich und gehorsam sein Amt erfüllen wird wie irgendein neubestallter Schullehrer oder Säckelwart oder Scharfrichter.


Allerdings: die biedern Räte sind keine Gelehrten, sie lesen in ihren Mußestunden keine theologischen Werke, und gewiß hat keiner von ihnen zuvor Calvins ›Institutio religionis Christianae‹ auch nur angeblättert. Denn sonst wären sie wohl aufgeschreckt, weil dort in klaren Worten herrisch festgelegt war, welche Fülle der Macht »iste Gallus« für den Prediger innerhalb der Gemeinde beansprucht: »Klar möge hier umschrieben sein die Macht, mit der die Prediger der Kirche bekleidet werden sollen. Da sie als Verwalter und Verkündiger des göttlichen Wortes bestellt sind, haben sie alles zu wagen und alle Großen und Mächtigen dieser Welt zu zwingen, sich vor der Majestät Gottes zu beugen und ihm zu dienen. Sie haben allen zu befehlen vom Höchsten bis zum Niedrigsten, sie haben die Satzung Gottes aufzurichten und das Reich des Satans zu zerstören, die Lämmer zu schonen und die Wölfe auszurotten, sie haben die Folgsamen zu ermahnen und zu unterrichten, die Widerstrebenden anzuklagen und zu vernichten. Sie können binden und können lösen, den Blitz und den Donner schleudern, aber all dies gemäß Gottes Wort.«


Diese Worte Calvins, »die Prediger haben allen zu befehlen vom Höchsten bis zum Niedrigsten«, waren den Genfer Ratsherren zweifellos entgangen, sonst hätten sie sich niemals diesem Anspruchsvollen voreilig in die Hände gegeben. Ahnungslos, daß dieser französische Emigrant, den sie an ihre Kirche berufen, von Anfang an entschlossen ist, Herr über Stadt und Staat zu werden, bestallen sie ihn mit Amt und Würde. Aber von diesem Tage an ist ihre eigene Macht zu Ende, denn kraft seiner unerbittlichen Energie wird Calvin alles an sich reißen, rücksichtslos wird er seine totalitäre Forderung in Tat und damit eine demokratische Republik in eine theokratische Diktatur verwandeln.


Gleich die ersten Maßnahmen bezeugen Calvins weitdenkende Logik und zielstrebige Entschlossenheit. »Als ich zuerst in diese Kirche kam«, schreibt er später über diese Genfer Zeit, »gab es dort soviel wie nichts. Man predigte, und das war alles. Man suchte die Heiligenbilder zusammen und verbrannte sie. Aber es gab noch keine Reformation, alles befand sich in Unordnung.« Calvin ist nun ein geborener Ordnungsgeist: alles Ungeregelte und Unsystematische widerstrebt seiner mathematisch exakten Natur. Wenn man Menschen zu einem neuen Glauben erziehen will, so muß man zuerst sie wissen lassen, was sie glauben und bekennen sollen. Sie müssen deutlich unterscheiden können, was erlaubt und was verboten ist; jedes geistige Reich braucht ebenso wie jedes irdische seine sichtbaren Grenzen und seine Gesetze. Schon nach drei Monaten legt Calvin deshalb dem Rat einen Katechismus fertig vor, der mit einundzwanzig Artikeln die Grundsätze der neuen evangelischen Lehre in faßlicher Knappheit formuliert, und dieser Katechismus wird – gewissermaßen als der Dekalog der neuen Kirche – vom Rat mit prinzipieller Zustimmung angenommen.


Aber mit bloßer Zustimmung gibt sich ein Calvin nicht zufrieden; er verlangt restlosen Gehorsam bis auf Punkt und Strich. Ihm genügt es keineswegs, daß die Lehre formuliert sei, denn damit bliebe dem einzelnen immerhin noch etwas Freiheit, ob und inwieweit er sich ihr fügen wolle. Calvin jedoch duldet niemals und in keiner Hinsicht Freiheit in Dingen der Lehre und des Lebens. Nicht eine Spanne Spielraum in geistlichen und geistigen Dingen ist er der innerlichen Überzeugung des einzelnen zu überlassen gewillt; die Kirche hat nach seiner Auffassung nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, unbedingten, autoritären Gehorsam allen Menschen gewaltsam aufzunötigen und sogar die bloße Lauheit unerbittlich zu strafen. »Mögen andere anders denken, ich bin nicht der Meinung, unserem Amte seien so enge Schranken gezogen, daß wir nach gehaltener Predigt, als hätten wir damit schon unsere Pflicht erfüllt, die Hände ruhig in den Schoß legen dürfen.« Sein Katechismus soll keine bloße Richtlinie der Gläubigkeit darstellen, sondern ein Staatsgesetz; darum verlangt er vom Rate, daß die Bürger der Stadt Genf von Amts wegen gezwungen würden, diesen Katechismus einzeln, Mann für Mann, öffentlich zu bekennen und zu beschwören. Zehn zu zehn sollen die Bürger wie Schulknaben, von den »anciens« geführt, sich in die Kathedrale begeben und dort den von dem Staatssekretär vorgelesenen Eid mit erhobener Rechten beschwören. Wer aber sich weigern sollte, diesen Eid zu leisten, der müsse sofort gezwungen werden, die Stadt zu verlassen. Das heißt klar und ein für allemal: kein Bürger darf von nun ab innerhalb der Mauern Genfs leben, der in geistlichen Dingen auch nur um Haaresbreite von den Forderungen und Anschauungen Jehan Calvins abweicht. Es ist in Genf zu Ende mit der von Luther geforderten »Freiheit des Christenmenschen«, mit der Auffassung der Religion als einer individuellen Gewissenssache, der Logos hat über das Ethos, der Buchstabe über den Sinn der Reformation gesiegt. Mit jeder Art der Freiheit ist es in Genf zu Ende, seit Calvin die Stadt betreten hat; ein einziger Wille herrscht jetzt über alle.


Jede Diktatur ist undenkbar und unhaltbar ohne Gewalt. Wer Macht bewahren will, braucht Machtmittel in Händen: wer gebieten will, muß auch das Recht besitzen, zu bestrafen. Nun stünde Calvin gemäß seinem Anstellungsdekret nicht das mindeste Recht zu, für kirchliche Delikte Ausweisungen zu dekretieren. Die Räte haben einen »lecteur de la Sainte Escripture« berufen, damit er den Gläubigen die Schrift auslege, einen Prediger, damit er predige und die Gemeinde zum rechten Gottesglauben ermahne. Aber Strafbefugnis über das rechtliche und sittliche Verhalten der Bürger vermeinten sie selbstverständlich ihrer eigenen Jurisdiktion vorbehalten. Weder Luther noch Zwingli noch irgendein anderer der Reformatoren hatte bisher der bürgerlichen Obrigkeit dieses Recht und diese Macht zu bestreiten versucht; Calvin aber, als autoritäre Natur, setzt sofort seinen riesigen Willen ein, um den Magistrat zu dem bloß ausführenden Organ seiner Befehle und Verordnungen herabzudrücken. Und da ihm dazu gesetzmäßig keine Handhabe gegeben ist, erschafft er sie sich aus eigenem Recht durch die Einführung der Exkommunikation: mit genialer Wendung verwandelt er das religiöse Mysterium des Abendmahls in ein Machtmittel und Pressionsmittel persönlicher Art. Denn der calvinistische Prediger wird einzig denjenigen zur »Mahlzeit des Herrn« zulassen, dessen sittliches Verhalten ihm persönlich unbedenklich erscheint. Wem aber der Prediger das Abendmahl verweigert – und hier zeigt sich die ganze Wucht dieser Waffe –, der ist bürgerlich erledigt. Niemand darf mit ihm mehr sprechen, niemand ihm verkaufen oder von ihm kaufen; dadurch wird die von der geistlichen Behörde verfügte und scheinbar bloß kirchliche Maßnahme sofort zu gesellschaftlichem und geschäftlichem Boykott; falls dann der Ausgeschlossene noch immer nicht kapituliert, sondern sich weigert, die vom Prediger vorgeschriebene öffentliche Buße zu tun, so befiehlt Calvin seine Verbannung. Ein Gegner Calvins, sei er sonst auch der achtbarste Bürger, kann demnach in Genf auf die Dauer nicht leben; jeder der Geistlichkeit Mißliebige ist von nun an in seiner bürgerlichen Existenz bedroht.


Mit diesem Blitz in Händen kann Calvin jeden zerschmettern, der ihm Widerstand leistet; mit einem einzigen kühnen Griff hat er sich einen Brandstrahl und Donnerkeil in die Faust getan, wie ihn ehedem nicht einmal der Bischof der Stadt zu schleudern vermochte. Denn innerhalb des Katholizismus forderte es immerhin einen endlosen Instanzenweg von hohen zu höchsten Stellen, ehe die Kirche sich entschloß, einen ihrer Angehörigen öffentlich auszustoßen; Exkommunikation war ein überpersönlicher Akt und vollkommen der Willkür eines einzelnen entzogen; Calvin jedoch, zielstrebiger und unerbittlicher in seinem Willen zur Macht, legt dieses Bannrecht tagtäglich den Predigern und dem Konsistorium locker in die Hand, er macht diese furchtbare Drohung zur fast regelmäßigen Strafe und erhöht als Psychologe, der die Wirkung des Terrors wohl errechnet, durch die Angst vor dieser Strafe unermeßlich seine persönliche Gewalt. Mühsam gelingt es zwar dem Magistrat noch durchzusetzen, daß die Austeilung des Abendmahls nur jedes Vierteljahr erfolge und nicht, wie Calvin es forderte, allmonatlich. Aber nie mehr wird sich Calvin seine stärkste Waffe entreißen lassen, denn nur mit ihr kann er seinen eigentlichen Kampf beginnen: den Kampf um die Totalität der Macht.


Meistens dauert es einige Zeit, bis ein Volk bemerkt, daß die zeitlichen Vorteile einer Diktatur, ihre straffere Zucht und ihre verstärkte kollektive Schlagkraft immer mit persönlichen Rechten des Individuums bezahlt sind und daß unweigerlich jedes neue Gesetz eine alte Freiheit kostet. Auch in Genf erwacht erst allmählich diese Erkenntnis. Redlichen Herzens haben die Bürger ihre Zustimmung zur Reformation gegeben, freiwillig haben sie sich auf dem offenen Markt versammelt, um als unabhängige Männer durch Handaufheben sich zum neuen Glauben zu bekennen. Aber dagegen empört sich doch ihr republikanischer Stolz, unter Aufsicht eines Büttels je zehn und zehn wie Galeerensträflinge durch die Stadt getrieben zu werden, um in der Kirche mit feierlichem Eid jeden Paragraphen des Herrn Calvin zu beschwören. Nicht dazu haben sie eine strengere Sittenreform befürwortet, um jetzt tagtäglich von diesem neuen Prediger leichtfertig mit Acht und Bann bedroht zu werden, bloß weil sie einmal bei einem Glas Wein lustig gesungen haben oder Kleider getragen, die Herrn Calvin oder Farel zu bunt oder zu üppig erscheinen. Und wer sind sie denn eigentlich, diese Leute, die sich so herrisch gebärden, beginnt das Volk sich zu fragen. Sind es Genfer Bürger? Sind es Alteingesessene, die an der Größe und an dem Reichtum der Stadt mitgeschaffen haben, erprobte Patrioten, seit Jahrhunderten den besten Familien verbunden und verschwistert? Nein, es sind frisch Zugewanderte, die als Flüchtlinge aus einem andern Land, aus Frankreich herüberkamen. Man hat sie gastlich aufgenommen, man hat ihnen Brot und Unterhalt und eine wohlbezahlte Stellung gegeben, und da erkühnt sich jetzt dieser Zolleinnehmerssohn aus dem Nachbarland, der sich gleich seinen Bruder und Schwager mit ins warme Nest geholt, sie, die bodenständigen Bürger, zu beschimpfen, zu rüffeln! Er, der Flüchtling, der von ihnen Angestellte maßt sich an, zu bestimmen, wer in Genf bleiben dürfe und wer nicht!


Jedesmal hat im Anfang einer Diktatur, solange die freien Seelen noch nicht geknebelt und die unabhängigen nicht ausgetrieben sind, der Widerstand eine gewisse Wucht: öffentlich erklären in Genf die republikanisch Gesinnten, sie dächten nicht daran, sich abkanzeln zu lassen, »als seien sie Straßenräuber«. Ganze Straßen, vor allem die Rue des Allemands, verweigern den geforderten Eid, sie murren laut und rebellisch, weder würden sie schwören noch auf den Befehl dieser hergelaufenen französischen Hungerleider ihre Heimatstadt verlassen. Zwar gelingt es Calvin, den ihm ergebenen »Kleinen Rat« zu nötigen, daß er tatsächlich über die Eidverweigerer die Ausweisung verhängt, aber man wagt die unpopuläre Maßregel schon nicht mehr faktisch durchzuführen, und der Ausgang der neuen Bürgerwahlen zeigt deutlich, daß die Majorität der Stadt sich gegen die Willkür Calvins aufzulehnen begonnen hat. Seine unbedingten Gefolgsleute verlieren im neuen Rat vom Februar 1538 die Oberhand; noch einmal hat die Demokratie in Genf ihren Willen gegen den autoritären Anspruch Calvins zu verteidigen gewußt.


Calvin war zu ungestüm vorgegangen. Immer unterschätzen die politischen Ideologen den Widerstand, der in der Trägheit der menschlichen Materie begründet ist, immer meinen sie, daß entscheidende Neuerungen im realen Raum ebenso rasch verwirklicht werden könnten wie innerhalb ihrer geistigen Konstruktionen. Klugheit müßte Calvin jetzt gebieten, solange er die weltlichen Behörden nicht wieder für sich gewonnen hat, milder zu tun, denn noch immer steht seine Sache günstig; auch der neugewählte Rat bringt ihm nur Vorsicht, nicht aber Feindschaft entgegen. Selbst seine schärfsten Gegner haben in dieser knappen Frist anerkennen müssen, daß ein unbedingter Wille zur Versittlichung Calvins Fanatismus zugrunde liegt, daß es diesem ungestümen Menschen nicht um einen engen Ehrgeiz geht, sondern um eine große Idee. Sein Kampfbruder Farel wiederum ist noch immer der Abgott der Jugend und der Straße; so könnte sich die Spannung leicht mildern lassen, würde Calvin ein wenig diplomatische Klugheit üben und seine verletzend radikalen Ansprüche den bedächtigeren Auffassungen der Bürgerschaft anpassen.


Aber in diesem Punkte stößt man an die granitene Grundnatur Calvins, an seine eiserne Starre. Nichts ist diesem großen Zeloten zeitlebens fremder gewesen als Konzilianz. Calvin kennt keinen Mittelweg; bloß den einen, den seinen. Für ihn gibt es nur das Ganze oder das Nichts, die volle Autorität oder den völligen Verzicht. Nie wird er ein Kompromiß abschließen, denn Rechthaben und Rechtbehalten ist für ihn eine derart funktionelle Eigenschaft, daß er gar nicht begreifen und ausdenken kann, jemand anderer könnte von seiner Fläche aus gleichfalls recht haben. Für Calvin bleibt es Axiom, daß nur er zu lehren habe und die andern von ihm zu lernen; wörtlich sagt er in ehrlicher redlichster Überzeugtheit, »ich habe von Gott, was ich lehre, und dies bekräftigt mir mein Gewissen«. Mit einer erschreckend unheimlichen Selbstgewißheit stellt er seine Behauptungen der absoluten Wahrheit gleich – »Dieu m’a fait la grâce de déclarer ce qu’est bon et mauvais« –, und jedesmal ist dieser Selbstbesessene von neuem erbittert und erschüttert, wenn irgendein anderer eine Meinung gegen die seine überhaupt zu äußern wagt. Widerspruch erregt an sich schon eine Art Nervenanfall bei Calvin, bis tief ins Körperliche springt die geistige Empfindlichkeit über, der Magen revoltiert und erbricht Galle, und mag der Gegner noch so sachlich und gelehrt seine Einwände vorbringen, die Tatsache allein schon, daß er sich erkühnt, anders zu denken, verwandelt ihn für Calvin in einen persönlichen Todfeind und darüber hinaus in einen Weltfeind, einen Gottesfeind. Schlangen, die gegen ihn zischen, Hunde, die gegen ihn bellen, Bestien, Schurken, Satansknechte, so nennt dieser im Privatleben übertrieben maßvolle Mann die ersten Humanisten und Theologen seiner Zeit; sofort ist »die Ehre Gottes« in seinem »Diener« beleidigt, sofern man Calvin auch nur ganz akademisch widerspricht, sofort die »Kirche Christi bedroht«, sobald einer den Prediger von St. Pierre ad personam herrschsüchtig zu nennen wagt. Zwiesprache mit einem andern halten heißt für Calvin nichts, als daß der andere sich zu seiner Meinung zu bekehren und zu bekennen habe: ein ganzes Leben lang hat dieser sonst klarsichtige Geist keinen Augenblick an seiner alleinigen Berechtigung gezweifelt, das Wort Gottes auszulegen und als einziger das Wahre zu wissen. Aber gerade dank diesem starren An-sich-selber-Glauben, dank dieser prophetischen Selbstbesessenheit, dieser großartigen Monomanie hat Calvin im realen Raume recht behalten; einzig diese seine steinerne Unerschütterlichkeit, diese eisige und unmenschliche Starre erklärt das Geheimnis seines politischen Sieges. Denn nur eine solche Selbstbesessenheit, eine solche großartig bornierte Selbstüberzeugtheit macht in der Weltgeschichte einen Mann zum Führer. Nie hat die immer dem Suggestiven erliegende Menschheit sich den Geduldigen und Gerechten unterworfen, sondern immer nur den großen Monomanen, die den Mut aufbrachten, ihre Wahrheit als die einzig mögliche, ihren Willen als die Grundformel des Weltgesetzes zu verkünden.


Es macht also nicht den geringsten Eindruck auf Calvin, daß die Mehrheit des neuen Stadtrates gegen ihn steht und ihm höflichst nahelegt, er möge doch um des Friedens willen von diesem wilden Drohen und Exkommunizieren ablassen und sich der milderen Auffassung der Berner Synode anschließen: ein Starrsinniger wie Calvin nimmt keinen billigen Frieden an, sofern er nur in einem I-Punkt nachgeben müßte. Jedes Kompromiß ist für seine autoritäre Natur vollkommen unmöglich, und im Augenblick, da der Magistrat ihm widerspricht, wird er, der selbst von allen andern die unbedingteste Subordination unter jede Obrigkeit verlangt, völlig unbedenklich zum Revolutionär gegen seine vorgesetzte Behörde. Offen beschimpft er den »Kleinen Rat« von der Kanzel und verkündet, »daß er lieber sterben wolle, als den heiligen Leib des Herrn vor die Hunde werfen«. Ein anderer Prediger nennt in der Kirche den Stadtrat eine »Versammlung von Trunkenbolden«; wie ein Felsblock, starr und unverrückbar, bietet die Anhängerschaft Calvins der Obrigkeit Trotz.


Eine solche provokatorische Auflehnung der Predigerschaft gegen seine Autorität kann der Magistrat nicht dulden. Zunächst erläßt er nur eine unmißverständliche Weisung, die Kanzel nicht weiterhin zu politischen Zwecken zu mißbrauchen, sondern dort ausschließlich das Wort Gottes auszulegen. Aber da Calvin und die Seinen sich über diesen amtlichen Befehl gleichmütig hinwegsetzen, bleibt nichts übrig, als den Predigern das Betreten der Kanzel zu verbieten; der herausfordernste unter ihnen, Courtauld, wird sogar wegen offener Aufreizung zur Revolte verhaftet. Damit ist der offene Krieg zwischen kirchlicher und staatlicher Gewalt erklärt. Aber Calvin nimmt ihn entschlossen auf. Von seinen Anhängern begleitet, dringt er in die Kathedrale St. Pierre, besteigt trotzig die ihm verbotene Kanzel, und da Anhänger und Gegner beider Parteien mit Schwertern in die Kirche drängen, die einen, um die verbotene Predigt zu erzwingen, die andern, um sie zu verhindern, entsteht ein fürchterlicher Tumult, und beinahe wäre es zu blutigen Ostern gekommen. Jetzt ist die Geduld des Magistrats zu Ende. Er beruft den Großen Rat der Zweihundert, die höchste Instanz, und stellt die Frage, ob man Calvin und den andern angestellten Predigern, welche die Befehle des Magistrats trotzig mißachtet hätten, den Abschied geben solle. Eine überwältigende Mehrheit antwortet mit Ja. Die rebellischen Geistlichen werden ihrer Ämter entsetzt und energisch angewiesen, binnen drei mal vierundzwanzig Stunden die Stadt zu verlassen. Die Strafe des Exils, die Calvin in den letzten achtzehn Monaten so vielen Bürgern dieser Stadt angedroht, nun hat sie ihn selber getroffen.


Der erste Ansturm Calvins auf Genf ist mißlungen. Aber ein solcher Rückschlag bedeutet im Leben eines Diktators nichts Gefährliches. Im Gegenteil, beinahe zwanghaft gehört es zum endgültigen Aufstieg eines unbeschränkten Machthabers, daß er im Anfang einen solchen dramatischen Niederbruch erleidet. Exil, Gefängnis, Verbannung erweisen sich für die großen Weltrevolutionäre niemals als Hemmungen, sondern immer nur als Förderungen ihrer Popularität; um von der Masse vergöttert zu werden, muß man Märtyrer gewesen sein, und eben die Verfolgung durch ein verhaßtes System schafft einem Volksführer erst die seelische Vorbedingung seines späteren entscheidenden Massenerfolges, weil sich durch jede sinnfällige Prüfung der Nimbus des zukünftigen Führers vor dem Volke ins Mystische erhöht. Nichts ist notwendiger für einen großen Politiker, als zeitweise in den Hintergrund zu treten, denn gerade durch sein Unsichtbarsein wird er zur Legende; wie eine Wolke umschwebt die Fama glorifizierend seinen Namen, und wenn er wiederkehrt, tritt er einer hundertfach gesteigerten Erwartung entgegen, die sich ohne sein Zutun gleichsam atmosphärisch gebildet hat. Beinahe alle Volkshelden der Geschichte haben die stärkste Gefühlsgewalt über ihre Nation gewonnen durch ihr Exil: Cäsar in Gallien, Napoleon in Ägypten, Garibaldi in Südamerika, Lenin im Ural sind stärker geworden durch ihre Abwesenheit, als sie es durch ihre Gegenwart gewesen wären, und so auch Calvin.


Freilich, in jener Stunde der Vertreibung scheint Calvin aller Voraussicht nach ein erledigter Mann. Seine Organisation ist zerschlagen, sein Werk völlig gescheitert und nichts von seiner Leistung geblieben als die Erinnerung an einen fanatischen Ordnungswillen und ein paar Dutzend verläßlicher Freunde. Aber zu Hilfe kommen ihm, wie immer allen politischen Naturen, die, statt zu paktieren, in gefährlichen Augenblicken entschlossen zurücktreten, die Fehler seiner Nachfolger und Gegner. Mit Mühe hat der Magistrat statt der imposanten Persönlichkeiten Calvins und Farels ein paar gefügige Prediger gefunden, die aus Angst, durch scharfe Maßnahmen beim Volke mißliebig zu werden, lieber die Zügel lässig am Boden schleifen lassen, statt sie straff anzuziehen. Unter ihnen gerät der von Calvin so energisch und sogar überenergisch begonnene Aufbau der Reformation in Genf baldigst ins Stocken, und eine solche Unsicherheit in Glaubensdingen bemächtigt sich der Bürger, daß die verdrängte katholische Kirche allmählich neuen Mut faßt und versucht, durch kluge Unterhändler Genf wieder für den römischen Glauben zurückzuerobern. Die Situation wird kritisch und immer kritischer; nach und nach beginnen dieselben Reformierten, denen Calvin zu hart und zu streng gewesen, sich zu beunruhigen und zu fragen, ob eine solche eherne Zucht schließlich nicht doch wünschenswerter gewesen sei als das drohende Chaos. Immer mehr der Bürger und sogar schon manche der einstigen Gegner drängen auf Rückberufung des Verbannten, schließlich sieht der Magistrat keinen andern Ausweg, als dem allgemeinen Volkswunsche Folge zu geben. Die ersten Botschaften und Briefe an Calvin sind noch leise und vorsichtige Anfragen; bald aber werden sie offener und dringlicher. Unverkennbar formt sich die Einladung zur Bitte: der Rat schreibt bald nicht mehr an den »Monsieur« Calvin, er möge zurückkommen, um der Stadt zu helfen, sondern bereits an den »Maître« Calvin; schließlich bitten geradezu kniefällig die ratlosen Ratsherren den »guten Bruder und einzigen Freund«, wieder die Stelle des Predigers zu übernehmen, und schon ist das Versprechen beigefügt: »sich so gegen ihn aufzuführen, daß er Grund haben werde, zufrieden zu sein«.


Wäre Calvin nun ein kleiner Charakter und befriedigte ihn schon ein billiger Triumph, so könnte er sich mit der Genugtuung zufrieden geben, so flehentlich in die Stadt zurückberufen zu werden, die ihn zwei Jahre vordem verächtlich ausgestoßen. Aber wer alles begehrt, wird niemals mit Halbheiten sich abfinden lassen, und Calvin geht es in dieser seiner heiligsten Sache nicht um persönliche Eitelkeit, sondern um den Sieg der Autorität. Nicht ein zweites Mal will er bei seinem Werk von irgendeiner Obrigkeit gehemmt sein; wenn er zurückkehrt, darf es nur einen gültigen Willen in Genf geben: den seinen. Ehe sich die Stadt nicht mit gefesselten Händen ihm ganz zu eigen gibt und bindend erklärt, sich zu subordinieren (subordonner), verweigert Calvin jede Zusage, und mit taktisch übertriebenem Abscheu weist er lange Zeit die drängenden Angebote zurück. »Hundertmal lieber will ich in den Tod gehen, als noch einmal diese früheren qualvollen Kämpfe beginnen«, schreibt er an Farel. Keinen Schritt geht er seinen einstigen Gegnern entgegen. Als schließlich der Magistrat schon auf den Knien Calvin anfleht, er möge zurückkehren, wird sogar sein nächster Freund Farel ungeduldig und schreibt ihm: »Wartest Du am Ende darauf, daß Dich auch die Steine rufen?« Calvin jedoch bleibt fest, bis Genf sich auf Gnade und Ungnade ergibt. Erst da sie den Eid geleistet haben, den Katechismus und die geforderte »discipline« nach seinem Willen einzuhalten, da die Räte demütige Briefe an die Stadt Straßburg richten und die dortige Bürgerschaft brüderlich anflehen, sie mögen ihnen doch diesen unentbehrlichen Mann gönnen, erst da Genf sich nicht vor ihm allein, sondern auch vor der Welt erniedrigt hat, gibt Calvin nach und erklärt sich endlich einverstanden, sein altes Amt mit neuer Machtfülle zu übernehmen.


Wie eine besiegte Stadt ihrem Eroberer, so bereitet sich Genf für den Einzug Calvins vor. Alles Erdenkliche wird getan, um seinen Unmut zu beschwichtigen. Die alten strengen Edikte werden eiligst in Kraft gesetzt, nur damit Calvin seine geistlichen Befehle schon im vorhinein durchgeführt finde, persönlich übernimmt es der Kleine Rat, eine passende Wohnung nebst Garten für den Ersehnten auszuwählen und die nötige Einrichtung bereitzustellen. Eigens wird die alte Kanzel in St. Pierre umgebaut, damit sie für seinen Vortrag bequemer und Calvins Gestalt jederzeit allen Anwesenden sichtbar sei. Ehrung folgt auf Ehrung: noch ehe Calvin von Straßburg aufgebrochen sein kann, wird ihm ein Herold entgegengesandt, damit er ihn bereits unterwegs im Namen der Stadt begrüße, auf Kosten der Bürgerschaft wird feierlich seine Familie eingeholt. Endlich, am 13. September, nähert sich der Reisewagen dem Tore von Cornavin, und sofort sammeln sich große Menschenmassen, um den Zurückgekehrten mit Jubel in die Mauern zu führen. Weich und gefügig wie Lehm hat Calvin nun die Stadt in seinen Händen, und er wird nicht ablassen, ehe er nicht aus ihr das Kunstwerk eines gestalteten Gedankens geschaffen. Von dieser Stunde sind sie nicht mehr voneinander zu lösen, Calvin und Genf, Geist und Form, der Schöpfer und sein Geschöpf.

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Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.