Apologie der Krankheit
Was mich nicht umbringt,
macht mich stärker.
Unzählbar die Schreie des gemarterten Körpers. Eine hundertstellige Tabelle aller körperlichen Notstände, und darunter der fürchterliche Schlußstrich: »In allen Lebensaltern war der Überschuß des Leidens ungeheuer bei mir.« Und tatsächlich, keine teuflische Marter fehlt in diesem schauerlichen Pandämonium der Krankheit: Kopfschmerzen, betäubende, hämmernde Kopfschmerzen, die für Tage den Taumelnden sinnlos hinschlagen auf Sofa und Bett, Magenkrämpfe mit blutigem Erbrechen, Migränen, Fieber, Appetitlosigkeiten, Müdigkeiten, Hämorrhoiden, Darmstockungen, Schüttelfröste, Nachtschweiß – ein grausiger Kreislauf. Dazu die »dreiviertelblinden Augen«, die bei der geringsten Anstrengung sofort anschwellen und zu tränen beginnen und dem geistigen Arbeiter nur »anderthalb Stunden Augenlicht täglich erlauben«. Aber Nietzsche verachtet diese Hygiene des Leibes und arbeitet zehn Stunden am Schreibtisch, und für dieses Übermaß rächt sich das überhitzte Gehirn mit rasenden Kopfschmerzen und einem nervösen Überlauf, denn es läßt sich, wenn abends der Leib längst müde geworden ist, nicht plötzlich abkurbeln, sondern wühlt weiter in Visionen und Gedanken, bis es mit Schlafmitteln gewaltsam betäubt wird. Aber immer größere Mengen sind notwendig (in zwei Monaten verbraucht Nietzsche fünfzig Gramm Chloral-Hydrat, um diese Handvoll Schlummer zu erkaufen) – dann weigert sich der Magen, seinerseits so hohen Preis zu zahlen, und revoltiert. Und nun – Circulus vitiosus – spasmisches Erbrechen, neue Kopfschmerzen, die neue Mittel erfordern, ein unerbittliches unersättliches leidenschaftliches Gegeneinander der aufgereizten Organe, die sich wechselseitig im tollen Spiel den Stachelball des Leidens zuschleudern. Nie ein Ruhepunkt in diesem Auf und Ab, nie eine flache Spanne Zufriedenheit, ein knapper Monat voll Behagen und Selbstvergessen; in zwanzig Jahren kann man sich kein Dutzend Briefe herauszählen, wo nicht aus irgendeiner Zeile ein Stöhnen bricht. Und immer rasender, immer wütiger werden die Schreie des von seinen überwachen, überzarten und schon entzündeten Nerven Gestachelten. »Mach es dir doch leichter; stirb!« ruft er sich zu, oder er schreibt: »Eine Pistole ist mir jetzt eine Quelle relativ angenehmer Gedanken« oder »die furchtbare und fast unablässige Marter läßt mich nach dem Ende dürsten, und nach einigen Anzeichen ist der erlösende Hirnschlag nahe«. Längst findet er für seine Leiden keine Superlative des Ausdrucks mehr, fast wirken sie schon monoton in ihrer Schrille und raschen Wiederholtheit, diese gräßlichen Schreie, die fast nichts Menschliches mehr haben und wirklich aus der »Hundestallexistenz« seines Lebens hin zu den Menschen gellen. Da plötzlich flammt – und man schrickt auf vor so ungeheurem Widerspruch – in Ecce homo das starke, stolze, steinerne Bekenntnis auf, das scheinbar alle diese Schreie Lügen straft: »Als summa summarum war ich (in den letzten fünfzehn Jahren) gesund.«
Was soll nun gelten? Die tausend Schreie oder das monumentale Wort? Beides! Nietzsches Körper war organisch stark und widerstandsfähig, der innere Stamm breit gewölbt und fähig, auch getürmteste Last zu tragen; seine Wurzeln greifen tief hinab in das Erdreich deutscher, gesunder Pastorengeschlechter. Im Ganzen »summa summarum«, als Anlage, als Organismus, im fleischgeistigen Fundament war Nietzsche wirklich gesund. Nur die Nerven sind zu zart für das Ungestüm seiner Empfindung und darum in ständiger unruhiger Revolte (einer Revolte, die aber niemals die eherne Herrschkraft seines Geistes zu erschüttern vermag): Nietzsche selbst hat einmal sinnlich glücklichsten Ausdruck für diesen halb gefährlichen, halb gesicherten Zustand gefunden, wenn er von einem »Kleingewehrfeuer« seiner Leiden spricht. Denn niemals kommt es bei diesem Krieg zu einem wirklichen Einbruch in den innern Wall seiner Kraft: er lebt wie Gulliver in Brobdignac, nur ständig umlagert von einem kribbelnden Pygmäengezücht von Schmerzen. Ewiger Alarm der Nerven ist um ihn, der unablässig auf Ausguck und Wachtturm steht, ständig in einer aufreibenden, quälenden Selbstverteidigung der Aufmerksamkeit. Nirgends aber gelingt einer wirklichen Krankheit (außer vielleicht jener einzigen, die einen Minengang zwanzig Jahre lang bis unter die Zitadelle seines Geistes vorgräbt und sie dann plötzlich in die Luft sprengt) ein Einbruch, eine Eroberung: ein monumentaler Geist wie Nietzsche erliegt keinem Kleingewehrfeuer, nur eine Explosion kann den Granit solchen Gehirns zerschmettern. So steht einer ungeheuren Leidensfähigkeit eine ungeheure Leidenskraft entgegen, eine zu starke Vehemenz des Gefühls einer zu feinen Durchnervtheit des motorischen Systems. Denn jeder Nerv des Magens wie des Herzens und der Sinne stellt bei Nietzsche ein überexaktes, filigranzartes Manometer dar, das die kleinsten Veränderungen und Spannungen mit ungeheurem Ausschlag an schmerzhafter Erregung erwidert. Nichts bleibt dem Körper (wie dem Geiste) unbewußt. Die kleinste Fiber, die bei andern stumme, signalisiert ihm sofort mit zuckendem Riß ihre Botschaft, und diese »rasende Reizbarkeit« zersplittert seine naturhafte, starke Vitalität in tausend stechende, schneidende, gefährliche Splitter. Darum dann jene entsetzlichen Schreie, wenn er bei der geringsten Bewegung, bei jedem plötzlichen Schritt seines Lebens an einen dieser offenen zuckenden Nerven rührt.
Diese unheimliche, geradezu dämonische Überempfindlichkeit von Nietzsches Nerven, die schon die flüchtigst verzitternden, für andere tief unter der Schwelle des Bewußtseins dämmernden Nuancen deutlich als Schmerz auswägen, ist seiner Leiden einzige Wurzel und ebenso Urzelle seiner genialen Wertungsfähigkeit. Bei ihm muß es gar nichts Substantielles sein, kein wirklicher Affekt, der das Blut schon zu physiologischer Reaktion aufzucken läßt – die bloße Luft mit ihren stündlichen Veränderungen meteorologischer Natur wird schon Ursache unendlicher Peinigungen. Vielleicht war überhaupt noch niemals ein geistiger Mensch so sehr atmosphärisch empfindlich, so ganz Manometer, Quecksilber und Reizbarkeit: zwischen seinem Puls und dem Luftdruck, zwischen seinen Nerven und dem Feuchtigkeitsgehalt der Sphäre scheinen geheime elektrische Kontakte zu bestehen. Seine Nerven melden jeden Meter Höhe, jeden Druck des Wetters sofort als Schmerz in den Organen und reagieren mit rebellischem Takt auf jede Revolte in der Natur. Regen, verdüsterter Himmel deprimieren seine Vitalität (»bedeckter Himmel setzt mich tief herab«), Belastung mit tiefen Wolken spürt er bis hinab in die Gedärme, Regen »depotenziert«, Feuchtigkeit ermattet, Trockenheit belebt, Sonne erlöst. Winter ist eine Art Starrkrampf und Tod. Nie steht die zitternde Barometernadel seiner aprilhaft wetterschwankenden Nerven jemals still: am ehesten noch in wolkenloser Landschaft, auf den windstillen Hochplateaus des Engadin. Und so wie vom äußeren Himmel jede Belastung und jeden Druck, spüren die entzündlichen Organe auch jede Belastung, Trübung und gewitterliche Befreiung auf dem innern Himmel des Geistes. Denn immer, wenn ein Gedanke aufzuckt, so schmettert er wie ein Blitz durch die straff gespannten Stränge seiner Nerven: der Denkakt vollzieht sich bei Nietzsche dermaßen ekstatisch rauschhaft, dermaßen elektrisch niederzuckend, daß er immer gewitterhaft auf den Körper wirkt und bei jeder »Explosion des Gefühls ein Augenblick im strengsten Sinne hinreicht, um die Blutzirkulation zu verändern«. Körper und Geist sind bei diesem vitalsten aller Denker so spannungshaft mit dem Atmosphärischen verbunden, daß er die Reaktionen von innen und außen als eines empfindet: »Ich bin nun einmal nicht Geist und Körper, sondern etwas Drittes. Ich leide ganz und am Ganzen.«
Gewaltsam herausgezüchtet wird nun diese eingeborene Veranlagung zur Differenzierung aller Reize durch die unbewegte brütende Luft seines Lebens, durch Nietzsches jahrzehntelanges Einsiedlertum. Da in den dreihundertfünfundsechzig Tagen des Jahres nichts Körperliches ihm nahe kommt als sein eigener Körper, weder Frau noch Freund, da kaum jemand anderer mit ihm in den vierundzwanzig Stunden des Tages spricht als das eigene Blut, so führt er gleichsam einen ununterbrochenen Dialog mit seinen Nerven. Ständig hält er in dieser ungeheuren Stille die Bussole seines Empfindens in seinen Händen und beobachtet wie alle Einsiedler, Arbeitsmenschen, Hagestolze und Sonderlinge hypochondrisch auch die kleinsten funktionellen Veränderungen seines Leibes. Andere vergessen sich selbst, weil ihre Aufmerksamkeit durch Gespräch und Geschäft, durch Spiel und Lässigkeit abgelenkt wird, weil sie sich durch Wein und Gleichgültigkeit abdumpfen. Ein Nietzsche aber, ein so genialer Diagnostiker, unterliegt ständig der Versuchung, als Psychologe an seinem eignen Leiden noch eine neugierige Lust zu haben, sich zu seinem »eigenen Experiment und Versuchstier« zu machen. Unablässig legt er mit der spitzen Pinzette – Arzt und Kranker in einer Person – das Schmerzhafte seiner Nerven bloß und reizt damit wie alle nervösen und phantasievollen Naturen die schon überstarken Empfindlichkeiten noch gesteigert empor. Mißtrauisch gegen die Ärzte, wird er sein eigener Arzt und »beärztelt« sich unablässig sein ganzes Leben lang. Er versucht alle erdenklichen Mittel und Kuren, elektrische Massagen, diätetische Vorschriften, Trinkkuren, Bäderkuren, er stumpft bald die Erregungen mit Brom herab, bald stachelt er sie mit andern Mixturen wieder hinauf. Seine meteorologische Empfindlichkeit jagt ihn ununterbrochen auf die Suche nach einer besonderen Atmosphäre, nach einem nur ihm gemäßen Ort, nach einem »Klima seiner Seele«. Bald ist er in Lugano, um der Seeluft und Windstille willen, dann in Pfäfers und Sorrent; dann meint er wieder, die Bäder von Ragaz könnten ihm von seinem schmerzhaften Selbst helfen, die heilkräftige Zone von St. Moritz, die Quellen von Baden-Baden oder Marienbad ihn begnaden. Einen Frühling lang ist es das Engadin, das er als sich wesensverwandt entdeckt mit seiner »stark ozonhaltigen Luft«, dann muß es wieder eine Südstadt sein, Nizza mit seiner »trockenen« Luft, dann wieder Venedig oder Genua. Bald strebt er den Wäldern zu, bald den Meeren, bald den Seen, bald den kleinen heiteren Städten »mit guter leichter Kost«. Weiß Gott, wie viele Tausende Kilometer Eisenbahn der fugitivus errans durchfahren hat, nur um diesen märchenhaften Ort zu finden, wo das Brennen und Ziehen seiner Nerven, dieses ewige Wachsein der Organe aufhörte. Allmählich destilliert er sich aus seinen Leidenserfahrungen eine eigne Art Gesundheitsgeographie, er durchforscht dickleibige geologische Werke um dieses Ortes willen, den er wie Aladins Ring sucht, um endlich die Herrschaft über seinen Leib und Frieden seiner Seele zu gewinnen. Keine Reise wäre ihm zu weit: Barcelona ist in seinen Plänen und das Hochgebirge von Mexico. Argentinien und sogar Japan wird erwogen. Die geographische Lage, die Diätetik des Klimas und der Kost werden allmählich seine private zweite Wissenschaft. Bei jedem Ort notiert er sich die Temperatur, den Luftdruck, mißt mit Hydroskop und Hydrostat die Niederschlagsmenge auf den Millimeter und den Feuchtigkeitsgehalt. Die gleiche Übertreiblichkeit in der Diät. Auch da ein ganzes Register, eine medizinische Tabulatur von Vorsichtigkeiten: der Tee muß eine bestimmte Marke haben und in bestimmter Stärke dosiert, um ihm bekömmlich zu sein; Fleischkost ist gefährlich; Gemüse müssen auf bestimmte Art zubereitet sein; allmählich kommt in dieses Medizinieren und Diagnostizieren ein kranker solipsistischer Zug, ein gespanntes, überspanntes Auf-sich-selber-Starren. Nichts hat Nietzsches Schmerz so schmerzhaft gemacht als diese ewige Vivisektion; wie immer leidet der Psychologe zwiefach stark als jeder andere, weil er sein Leiden verdoppelt erlebt, einmal in der Realität und noch einmal in der Selbstbetrachtung.
Aber Nietzsche ist ein Genie der gewaltsamen Umwendungen; im Gegensatz zu Goethe, der Gefahren genial auszuweichen verstand, hat er eine ungeheuer verwegene Art, ihnen geradewegs auf den Leib zu gehen und den Stier bei den Hörnern zu fassen. Die Psychologie, das Geistige – ich versuchte es eben zu schildern – treibt den bloß Empfindlichen tief ins Leiden; aber gerade die Psychologie, gerade der Geist reißt ihn wieder in die Gesundheit zurück. Schon ist er nach zehn Jahren unaufhörlichen Gequältseins auf einem »Tiefpunkt der Vitalität«, schon meint man ihn zerrissen, zermürbt von seinen Nerven, einer verzweifelten Depression, einer pessimistischen Selbstaufgabe zur Beute. Da plötzlich gibt es in Nietzsches geistiger Haltung eine jener blitzartigen, wahrhaft inspirativen »Überwindungen«, eine jener Selbsterkennungen und Selbstrettungen, die seine geistige Geschichte so großartig dramatisch und aufregend machen. Mit einem Ruck reißt er die Krankheit, die ihm den Boden unterwühlt, plötzlich zu sich hinauf und drückt sie ans Herz: es ist das ein ganz geheimnisvoller (nicht auf den Tag bestimmbarer) Augenblick, eine jener blitzartigen Inspirationen inmitten seines Werkes, wo Nietzsche seine Krankheit für sich »entdeckt«, wo er im Staunen darüber, daß er noch immer, noch immer am Leben ist, im Staunen, daß in den tiefsten Depressionen ihm die Produktivität, statt zu erlahmen, nur gewachsen ist, proklamiert, daß diese Leiden, diese Entbehrung für ihn »zur Sache«, zur heiligen, ihm einzig heiligen Sache seines Lebens gehören. Und von diesem Augenblick an, wo sein Geist kein Mitleid mehr mit dem Körper hat, kein Mit-Leiden mit seinem Leiden, sieht er zum erstenmal sein Leben in einer neuen Perspektive, seine Krankheit in tieferem Sinn. Mit ausgebreiteten Armen nimmt er sie in sein Schicksal wissend hinein als ein Notwendiges, und da er als der fanatische »Fürsprecher des Lebens« alles an seiner Existenz liebt, so sagt er auch zu seinem Leiden jenes hymnische Ja Zarathustras, jenes jubelnde »Noch einmal! noch einmal in alle Ewigkeit!« Aus dem bloßen Anerkennen wird ein Erkennen, aus dem Erkennen eine Dankbarkeit. Denn aus dieser höheren Schau, die den Blick weghebt vom eigenen Leiden, entdeckt er (mit jener übertreiblichen Freude an der Magie des Extrems), daß er keiner Macht der Erde so sehr verbunden und verschuldet ist wie seiner Krankheit, daß er gerade dem grimmigsten Folterknecht sein Höchstes dankt: die Freiheit. Die Freiheit der äußeren Existenz, die Freiheit des Geistes. Denn überall, wo er ruhen, träg werden, verdicken, verflachen, wo er vorzeitig sich in Amt, Beruf und Geistesform versteinern wollte, hat sie ihn mit ihrem Stachel gewaltsam herausgetrieben. Der Krankheit dankt er, daß er vom Militärdienst errettet und der Wissenschaft zurückgegeben war, der Krankheit dankt er, daß er in dieser Wissenschaft und Philologie nicht stocken blieb; sie hat ihn aus dem Baseler Universitätskreis hinaus in die »Pension« und damit in die Welt, zurück in sich selbst gejagt. Den kranken Augen ist er verpflichtet für die »Erlösung vom Buche«, »der größten Wohltat, die ich mir selbst erwiesen habe«. Aus allen Rinden, die ihn umwachsen wollten, aus allen Bindungen, die ihn zu umschließen begannen, hat sein Leiden ihn (schmerzhaft, aber hilfreich) herausgeschält. »Die Krankheit löst mich gleichsam aus sich selbst heraus«, bekennt er selbst – sie war ihm Geburtshelfer des innern Menschen, Wehemutter und Wehetäter zugleich. Ihr dankt er, daß das Leben für ihn statt einer Gewohnheit eine Erneuerung wurde, eine Entdeckung: »Ich entdeckte das Leben gleichsam neu, mich selber eingerechnet.«
Denn – so überjauchzt der Gequälte nun dankbar seine Qualen in seiner großen Hymne an den heiligen Schmerz – nur das Leiden allein macht wissend. Die bloß angeerbte und nie erschütterte Bärengesundheit ist dumpf und ahnungslos zufrieden. Sie will nichts, sie fragt nichts, und darum gibt es keine Psychologie bei den Gesunden. Alles Wissen kommt aus dem Leiden, »der Schmerz fragt immer nach den Ursachen, während die Lust geneigt ist, stehenzubleiben und nicht nach rückwärts zu schauen«. Man wird »immer feiner im Schmerz«, das Leiden, das stete wühlende, schabende Leiden gräbt das Erdreich der Seele um, und gerade das Pflughafte, das Schmerzhafte dieses innern Umwühlens schafft erst Auflockerung für die neue geistige Frucht. »Erst der große Schmerz ist der letzte Befreier des Geistes, er allein zwingt uns, in unsere letzte Tiefe zu steigen«, und gerade wem er beinahe tödlich war, darf dann das stolze Wort von sich sagen: »Ich weiß mehr vom Leben, weil ich so oft nahe daran war, es zu verlieren.«
Nicht durch einen Kunstgriff also, durch ein Verneinen seines körperlichen Notstandes überwindet Nietzsche alles Leiden, sondern durch Erkennen: der souveräne Wertfinder entdeckt sich den Wert seiner Krankheit. Ein umgekehrter Märtyrer, hat er nicht zuerst den Glauben, für den er sich quälen läßt; sondern erst aus der Qual, aus der Folter formt er sich den Glauben. Aber seine wissende Chemie entdeckt nicht nur den Wert seines Krankseins, sondern auch seinen Gegenpol: den Wert der Gesundheit; sie beide erst schenken das Vollgefühl des Lebens, den ewigen Spannungszustand von Qual und Ekstase, mit dem der Mensch sich ins Unendliche schnellt. Beide sind notwendig, Krankheit als Mittel, Gesundheit als Zweck, Krankheit als Weg, Gesundheit als Ziel. Denn Leiden im Sinne Nietzsches ist ja nur das eine dunkle Ufer der Krankheit, das andere erglänzt in einem unsäglichen Licht, es heißt Genesen, und nur vom Ufer des Leidens wird es erreicht. Genesen, Gesundwerden bedeutet aber mehr als Erreichung des normalen Lebenszustandes, nicht nur Verwandlung, sondern unendlich mehr, es ist auch Steigerung, Erhöhung und Verfeinerung: man geht aus der Krankheit »gehäuteter, kitzliger, mit einem feineren Geschmack für die Freude, mit einer zarteren Zunge für alle guten Dinge, mit lustigeren Sinnen und einer zweiten gefährlicheren Unschuld in der Freude« hervor, kindlich zugleich und hundertmal raffinierter, als man je gewesen ist. Und diese zweite Gesundheit hinter der Krankheit, diese nicht blind hingenommene, sondern sehnsüchtig ersehnte, gewaltsam erzwungene, mit hundert Seufzern, Schreien und Notständen erkaufte, diese »eroberte, erlittene« Gesundheit ist tausendmal lebendiger als das stumpfe Wohlbehagen der immer Gesunden. Und wer von der zitternden Süße, dem prickelnden Rausch solchen Genesens einmal gekostet, der verbrennt vor Gelüst, ihn immer wieder zu erleben: er wirft sich gern immer und immer wieder in die schweflige Feuerflut der brennenden Qualen, nur um immer wieder zu diesem »bezaubernden Gefühl des Gesundens« zu gelangen, zu dieser goldenen Trunkenheit, die Nietzschen all die gemeinen Stimulantia des Alkohols und Nikotins tausendfach ersetzt und sie übertrifft. Aber kaum daß Nietzsche den Sinn seines Leidens sich entdeckt und die große Wollust des Gesundens, so will er sie in ein Apostolat verwandeln, in den Sinn der Welt. Wie alle Dämonischen, erliegt er der eigenen Ekstase und kann nun nicht mehr satt werden an dem funkelnden Wechselspiel von Lust und Leiden; er will noch tiefer hinabgemartert sein in die Qual, um sich höher hinaufzuschwingen in das allerletzte, allerseligste, allerklarste, allerkraftvollste Genesen. Und in diesem funkelnden, lechzenden Rausch verwechselt er allmählich seinen rasenden Willen zur Gesundheit mit der Gesundheit selbst, sein Fieber mit Vitalität, seinen Untergangstaumel mit errungener Kraft. Gesundheit! Gesundheit! – wie ein Panier schwenkt der von sich selber Trunkene das Wort über sich her: sie soll der Sinn der Welt sein, das Ziel des Lebens, das Maß aller Dinge, sie allein der Pegel aller Werte; und der selbst von Qual zu Qual im Dunkel jahrzehntelang getappt, überschreit sich nun in einem Hymnus der Vitalität, der brutalen, machttrunkenen Kraft. Ungeheuer, mit brennenden Farben, entrollt er die Fahne des Willens zur Macht, des Willens zum Leben, zur Härte, zur Grausamkeit, und trägt sie ekstatisch einer kommenden Menschheit voran – ahnungslos, daß die Kraft, die ihn beseelt, das Panier so hoch zu halten, dieselbe ist, die gleichzeitig den Bogen spannt mit dem für ihn tödlichen Pfeil.
Denn diese letzte Gesundheit Nietzsches, die sich selbst im Überschwang zum Dithyrambus hinaufstimuliert, ist eine Autosuggestion, eine »erfundene« Gesundheit. Gerade wie er die Hände jubilierend zum Himmel hebt im Rausche seiner Kraft, wie er im Ecce homo die Worte hinschreibt von seiner großen Gesundheit und beeidet, nie krank, nie dekadent gewesen zu sein, zuckt schon der Blitz in seinem Blut. Was in ihm lobsingt, was in ihm triumphiert, ist nicht das Leben, sondern schon sein Tod. Was er für Licht hält, für die Hochglut seiner Kraft, birgt gerade den tödlichen Ansprung seiner Krankheit, und jenes wunderbare Wohlgefühl, das ihn in den letzten Stunden überströmt, diagnostiziert der klinische Blick jedes Arztes heute klar für die Euphorie, das typische Wohlbefinden vor dem Zusammenbruch. Schon von anderer, von dämonischer, von jenseits-weltlicher Sphäre zittert ihm die silberne Helligkeit entgegen, die seine letzten Stunden überflutet: er aber, der Trunkene, er weiß es nicht mehr. Er fühlt sich nur überschüttet von allem Glanz, aller Gnade der Erde: die Gedanken glühen ihm feurig zu, die Sprache quillt mit Urgewalt aus allen Poren seiner Rede, Musik überflutet ihm die Seele. Wohin er blickt, strahlt ihn Friede an – die Menschen auf der Straße lächeln ihm zu, jeder Brief ist eine Botschaft mit göttlichem Inhalt, und taumelnd vor Glück ruft er dem Freunde Peter Gast in seinem letzten Schreiben zu: »Singe mir ein neues Lied: die Welt ist verklärt und alle Himmel freuen sich.« Eben aus diesem verklärten Himmel trifft ihn der feurige Strahl, Leiden und Seligkeit in eine einzige unlösbare Sekunde verschmelzend. Beide Enden des Gefühls bohren sich ihm gleichzeitig in die aufgebäumte Brust, und in seinen zerspringenden Schläfen rauscht das Blut Tod und Leben zusammen in eine einzige apokalyptische Musik.
vorheriges Kapitel
Doppelbildnis
nachfolgendes Kapitel
Der Don Juan der Erkenntnis
Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.