Die siebente Einsamkeit
Ein großer Mensch wird gestoßen,
gedrückt, hinaufgemartert zu seiner
Einsamkeit.
O Einsamkeit, du meine Heimat Einsamkeit« – aus der Gletscherwelt der Stille tönt dieser schwermütige Gesang. Zarathustra dichtet sich sein Abendlied, sein Lied vor der letzten Nacht, sein Lied von der ewigen Heimkehr. Denn Einsamkeit, war sie nicht immer des Wanderers einzige Heimstatt, sein kalter Herd, sein steinernes Dach? In unzähligen Städten ist er gewesen, auf unendlichen Fahrten des Geistes; oft hat er versucht, ihr zu entweichen in der anderen Land – aber immer kehrt er zu ihr zurück, verwundet, ermattet, enttäuscht, zu seiner »Heimat Einsamkeit«.
Aber da sie immer mit ihm gewandert, dem Wandelbaren, hat sie sich selber gewandelt, und er erschrickt nun, wie er ihr ins Antlitz blickt. Denn sie ist ihm allzu ähnlich geworden im langen Beieinandersein, härter, grausamer, gewalttätiger gleich ihm selbst, sie hat das Wehetun gelernt und das Wachstum ins Gefährliche. Und wenn er sie zärtlich noch Einsamkeit nennt, seine alte, geliebte, gewohnte Einsamkeit, so ist es längst ihr Name nicht mehr: sie heißt Vereinsamung, diese letzte, diese siebente Einsamkeit, und ist kein Alleinsein mehr, sondern ein Alleingelassensein. Denn es ist furchtbar leer geworden um den letzten Nietzsche, grauenhaft still: kein Eremit, kein Wüstenanachoret, kein Säulenheiliger war so verlassen; denn sie, die Fanatiker ihres Glaubens, haben noch ihren Gott, dessen Schatten in ihrer Hütte wohnt und von ihrer Säule fällt. Er aber, »der Mörder Gottes«, hat nicht Gott und nicht Menschen mehr: je mehr er sich selbst gewinnt, um so mehr hat er die Welt verloren; je weiter er wandert, desto weiter wächst »die Wüste« um ihn. Sonst verstärken die einsamsten Bücher langsam und still ihre menschenmagnetische Macht: mit dunkel wirkender Kraft ziehen sie einen wachsenden Kreis um ihre noch unsichtbare Gegenwart; Nietzsches Werk aber übt eine repulsive Wirkung, es drängt in gesteigertem Maße alles Befreundete von ihm ab und schält ihn immer gewaltsamer aus der Gegenwart heraus. Jedes neue Buch kostet ihn einen Freund, jedes Werk eine Beziehung. Allmählich ist auch die letzte dünne Vegetation von Interesse an seinem Tun abgefroren: erst hat er die Philologen verloren, dann Wagner und seinen geistigen Kreis, zuletzt noch die Jugendgefährten. Kein Verleger findet sich mehr in Deutschland für seine Bücher, vierundsechzig Zentner schwer lastet in ungebundenen Stapeln die Produktion seiner zwanzig Jahre im Keller; er muß sein eigenes, kümmerlich gespartes und geschenktes Geld angreifen, um die Bücher überhaupt noch erscheinen zu lassen. Aber nicht nur, daß niemand sie kauft – selbst wenn er sie verschenkt, findet Nietzsche, der letzte Nietzsche, keine Leser mehr. Vom vierten Zarathustrateil läßt er auf eigene Kosten bloß vierzig Exemplare mehr drucken – und findet dann nur sieben Menschen im deutschen Siebzigmillionenreich, denen er ein Exemplar zuschicken kann, so fremd, so unfaßbar fremd ist Nietzsche auf der Höhe seines Schaffens der Zeit geworden. Niemand gibt ihm einen Brocken Zutrauen, ein Senfkorn Dank: im Gegenteil, um den allerletzten der Jugendfreunde, um Overbeck nicht zu verlieren, muß er sich entschuldigen, daß er Bücher schreibt, sie sich verzeihen lassen. »Alter Freund«, – man hört den ängstlichen Ton, man sieht das verstörte Gesicht, die aufgehobenen Hände, die Geste eines Zurückgestoßenen, der noch einen neuen Schlag fürchtet – »lies es von vorn und von hinten, laß Dich nicht verwirren und entfremden. Nimm alle Kraft Deines Wohlwollens für mich zusammen. Ist Dir das Buch unerträglich, so vielleicht hundert Einzelheiten nicht.« So reicht 1887 der größte Geist des Jahrhunderts seinen Zeitgenossen die größten Bücher der Zeit, und an einer Freundschaft weiß er nichts Heroischeres zu rühmen, als daß sie nichts hätte zerstören können – »auch der Zarathustra nicht«. Auch der Zarathustra nicht! – eine solche Belastungsprobe, eine solche Peinlichkeit ist Nietzsches Schaffen für seine nächsten Menschen geworden, so unüberbrückbar die Distanz seines Genies zur Inferiorität der Zeit. Immer dünner wird die Luft um seinen Atem, immer stiller, immer leerer.
Diese Stille macht die letzte, die siebente Einsamkeit Nietzsches zur Hölle: an ihrer metallenen Wand zerstößt er sich das Gehirn. »Nach einem solchen Anrufe, wie mein Zarathustra es war, aus der innersten Seele heraus, nicht einen Laut von Antwort zu hören, nichts, nichts, immer nur die lautlose, nunmehr vertausendfachte Einsamkeit – das hat etwas über alle Begriffe Furchtbares, daran kann der Stärkste zugrunde gehen«, stöhnt er einmal auf und fügt bei: »Und ich bin nicht der Stärkste. Mir ist seitdem zumute, als sei ich tödlich verwundet.« Aber es ist nicht Beifall, Zustimmung, Ruhm, den er verlangt – im Gegenteil, nichts wäre seinem kriegerischen Temperament willkommener als Zorn, Entrüstung, Verachtung, ja selbst Hohn – »in dem Zustand eines bis zum Zerspringen gespannten Bogens tut einem jeder Affekt wohl, vorausgesetzt, daß er gewaltsam ist« –, aber nur irgendeine Antwort, kalt oder heiß, oder sogar lau, nur etwas, irgend etwas, das ihm seine Existenz, sein geistiges Dasein bezeugt. Aber selbst seine Freunde weichen ängstlich aus, biegen in ihren Briefen an jedem Urteil wie an etwas Peinlichem vorbei. Und das ist die Wunde, die sich immer tiefer nach innen frißt, seinen Stolz vereitert, sein Selbstbewußtsein entzündet, seine Seele brandig macht, »die Wunde, keine Antwort zu haben«. Sie allein hat seine Einsamkeit vergiftet und fiebrig gemacht.
Und dieses Fieber schwillt plötzlich kochend aus dem Verwundeten heraus. Legt man das Ohr näher an die Schriften und Briefe seiner letzten Jahre, so hört man, wie unter dem ungeheuren Druck dieser zu dünnen Luft ein gereiztes, krankes Pochen im Blute beginnt: das Herz von Bergsteigern, von Luftschiffern hat diesen heftigen hämmernden Ton aufgepumpter Lungen, die letzten Briefe Kleistens dieses heftige hämmernde Gespanntsein, dies gefährliche Dröhnen und Knistern einer Maschine knapp vor dem Zerspringen. Ein ungeduldiger nervöser Zug kommt in Nietzsches geduldiges, vornehmes Gehaben: »das lange Schweigen hat meinen Stolz exasperiert« – er will, er fordert jetzt Antwort um jeden Preis. Er hetzt den Druck mit Briefen und Telegrammen, nur rasch, nur rasch muß gedruckt werden, als gelte es etwas zu versäumen. Er wartet nicht mehr, seinem Plan gemäß, bis der »Wille zur Macht«, sein Hauptwerk, vollendet ist, sondern reißt ungeduldig Teile davon los und schleudert sie wie Brandfackeln in die Zeit hinein. Der »halkyonische Ton« ist verloschen, ein Stöhnen ist in diesen letzten Werken von verpreßtem Leiden, von maßlosem höhnischem Zorn: sie sind mit der Peitsche der Ungeduld aus ihm herausgehetzt. Der Gleichgültige beginnt, in seinem Stolz »exasperiert«, die Zeit zu provozieren, damit sie endlich mit einem Wutschrei gegen ihn reagiere. Und um sie noch mehr herauszufordern, erzählt er im »Ecce homo« sein Leben, »mit einem Zynismus, der welthistorisch werden wird«. Nie sind Bücher aus einer solchen Gier, aus einem so kranken zuckenden Fieber der Ungeduld nach Antwort geschrieben worden wie die letzten monumentalen Pamphlete Nietzsches. Eine entsetzliche Angst, nicht mehr den Erfolg zu überleben, eine dämonische Ungeduld ist in diesem Lechzen nach Antwort. Und man spürt, wie er nach jedem Geißelschlag eine Sekunde innehält, wie er sich aus sich selber in entsetzlicher Spannung herausbeugt, um den Schrei der Getroffenen zu hören. Aber nichts rührt sich. Keine Antwort kommt mehr herauf in die »azurne« Einsamkeit. Wie ein eiserner Ring liegt das Schweigen um seine Kehle, von keinem Schrei, nicht von dem furchtbarsten, den die Menschheit gekannt, mehr zu zerbrechen. Und er fühlt: kein Gott erlöst ihn mehr aus dem Kerker der letzten Einsamkeit.
Da packt den Verschmachtenden in seinen letzten Stunden apokalyptischer Zorn. Wie der geblendete Polyphem schleudert er brüllend mit Felsblöcken um sich, ohne zu sehen, ob sie treffen; und weil er niemanden hat, mit ihm zu leiden, mit ihm zu fühlen, so faßt er sich selbst an sein eigenes zuckendes Herz. Alle Götter hat er ermordet, so macht er sich selber zum Gott – »müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um solcher Tat würdig zu erscheinen?« – Alle Altäre hat er zerschlagen, so baut er sich selber seinen Altar, den »Ecce homo«, um sich zu feiern, den niemand feiert; sich zu rühmen, den niemand rühmt. Die wuchtigsten Steine der Sprache türmt er auf, es hallen Hammerschläge, wie sie nie in diesem Jahrhundert mit gleicher Wucht gedröhnt; begeistert beginnt er sein Sterbelied der Trunkenheit und des Überschwangs, den Päan seiner Taten und Siege. Dunkel hebt er an, und großes Brausen wie von kommendem Gewitter ist darin, dann zuckt Gelächter nieder, ein grelles, böses, irres Gelächter, eine Desperado-Heiterkeit, die einem die Seele zersägt: Ecce-homo-Gesang. Aber immer sprunghafter wird das Lied, immer schneidender schrillt das Gelächter in die schweigenden Gletscher hinein, in Selbstverzückung hebt er die Hände, dithyrambisch zuckt ihm der Fuß: und plötzlich beginnt der Tanz, jener Tanz über dem Abgrund, dem Abgrund seines eigenen Unterganges.
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Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.