Tragödie ohne Gestalten
Den größten Genuß vom Dasein
einzuernten heißt: gefährlich leben.
Unzeitgemäße Betrachtungen
Die Tragödie Friedrich Nietzsches ist ein Monodram: sie stellt keine andere Gestalt auf die kurze Szene seines Lebens als ihn selbst. In allen den lawinenhaft abstürzenden Akten steht der einsam Ringende allein, niemand tritt ihm zur Seite, niemand ihm entgegen, keine Frau mildert mit weicher Gegenwart die gespannte Atmosphäre. Alle Bewegung geht einzig von ihm aus und stürzt einzig auf ihn zurück: die wenigen Figuren, die anfangs in seinem Schatten auftreten, begleiten nur mit stummen Gesten des Staunens und Erschreckens sein heroisches Unterfangen und weichen allmählich wie vor etwas Gefährlichem zurück. Kein einziger Mensch wagt sich nahe und voll in den innern Kreis dieses Geschickes, immer spricht, immer kämpft, immer leidet Nietzsche für sich allein. Er redet zu niemandem, und niemand antwortet ihm. Und was noch furchtbarer ist: niemand hört ihm zu.
Sie hat keine Menschen, keine Partner, keine Hörer, diese heroische Tragödie Friedrich Nietzsches: aber sie hat auch keinen eigentlichen Schauplatz, keine Landschaft, keine Szenerie, kein Kostüm, sie spielt gleichsam im luftleeren Raum der Idee. Basel, Naumburg, Nizza, Sorrent, Sils-Maria, Genua, diese Namen sind nicht seine wirklichen Hausungen, sondern nur leere Meilensteine längs eines mit brennenden Flügeln durchmessenen Weges, kalte Kulissen, sprachlose Farbe. In Wahrheit ist die Szenerie der Tragödie immer dieselbe: Alleinsein, Einsamkeit, jene entsetzliche wortlose, antwortlose Einsamkeit, die sein Denken wie eine undurchlässige Glasglocke um sich, über sich trägt, eine Einsamkeit ohne Blumen und Farben und Töne und Tiere und Menschen, eine Einsamkeit selbst ohne Gott, die steinern ausgestorbene Einsamkeit einer Urwelt vor oder nach aller Zeit. Aber was ihre Öde, ihre Trostlosigkeit so grauenhaft, so gräßlich und zugleich so grotesk macht, ist das Unfaßbare, daß dieser Gletscher, diese Wüste Einsamkeit geistig mitten in einem amerikanisierten Siebzig-Millionen-Lande steht, mitten in dem neuen Deutschland, das klirrt und schwirrt von Bahnen und Telegraphen, von Geschrei und Gedränge, mitten in einer sonst krankhaft neugierigen Kultur, die vierzigtausend Bücher jährlich in die Welt wirft, an hundert Universitäten täglich nach Problemen sucht, in hunderten Theatern täglich Tragödie spielt und doch nichts weiß und nichts ahnt und nichts fühlt von diesem mächtigsten Schauspiel des Geistes in ihrer eigenen Mitte, in ihrem innersten Kreis.
Denn gerade in ihren größten Augenblicken hat die Tragödie Friedrich Nietzsches in der deutschen Welt keinen Zuschauer, keinen Zuhörer, keinen Zeugen mehr. Anfangs, solange er noch als Professor vom Katheder spricht und Wagners Lichtkraft ihn sichtbar macht, bei seinen ersten Worten, weckt seine Rede noch eine kleine Aufmerksamkeit. Aber je tiefer er in sich selbst, je tiefer er in die Zeit hinabgreift, um so weniger findet er Resonanz. Einer nach dem andern von den Freunden, von den Fremden steht während seines heroischen Monologs verschüchtert auf, von den immer wilderen Verwandlungen, von den immer glühenderen Ekstasen des Einsamen erschreckt, und läßt ihn auf der Szene seines Schicksals entsetzlich allein. Allmählich wird der tragische Schauspieler unruhig, so ganz ins Leere zu sprechen, er redet immer lauter, immer schreihafter, immer gestikulativer, um sich Widerklang oder wenigstens Widerspruch zu entzünden. Er erfindet sich zu seinem Wort eine Musik, eine strömende, rauschende, dionysische Musik – aber niemand hört ihm mehr zu. Er zwingt sich zu Harlekinaden, zu einer spitzen, schrillen, gewaltsamen Heiterkeit, er läßt seine Sätze Kapriolen springen und sich in Lazzi überschlagen, nur um mit künstlichem Spaß für seinen furchtbaren Ernst Hörer heranzuködern – aber niemand rührt zum Beifall die Hand. Er erfindet sich schließlich einen Tanz, einen Tanz zwischen Schwertern, und übt verwundet, zerfetzt, blutend seine neue tödliche Kunst vor den Menschen, aber niemand ahnt den Sinn dieser schreienden Scherze und die todwunde Leidenschaft in dieser aufgespielten Leichtigkeit. Ohne Hörer und Widerhall endet vor leeren Bänken das unerhörteste Schauspiel des Geistes, das unserem stürzenden Jahrhundert geschenkt war. Niemand wendet nur lässig den Blick, wie der auf stählerner Spitze hinschwirrende Kreisel seiner Gedanken zum letztenmal herrlich aufspringt und endlich taumelnd zu Boden fällt: »tot vor Unsterblichkeit«.
Dieses Mit-sich-allein-Sein, dieses Gegen-sich-selbst-allein-Sein ist der tiefste Sinn, die einzig heilige Not der Lebenstragödie Friedrich Nietzsches: nie war so ungeheure Fülle des Geistes gegen ein so metallen undurchdringliches Schweigen gestellt. Nicht einmal die Gnade bedeutender Gegner ist ihm gegeben – so muß der stärkste Denkwille »in sich selber eingehöhlt, sich selber angrabend«, aus der eigenen tragischen Seele sich Antwort und Widerstand holen. Nicht aus der Welt, sondern in blutenden Fetzen von der eigenen Haut reißt sich der Schicksalsrasende wie Herakles sein Nessushemd, die brennende Glut, um nackt gegen die letzte Wahrheit, gegen sich selbst zu stehen. Aber welcher Frost um diese Nacktheit, welches Schweigen um diesen ungeheuersten Schrei des Geistes, welch entsetzlicher Himmel voll Wolken und Blitze über dem »Mörder Gottes«, der nun, da keine Gegner ihn finden und er keinen mehr findet, sich selber anfällt, »Selbstkenner, Selbsthenker ohne Mitleid«! Von seinem Dämon hinausgetrieben über Zeit und Welt, hinaus selbst über den äußersten Rand seines Wesens,
Geschüttelt ach von unbekannten Fiebern,
Zitternd vor spitzen eisigen Frostpfeilen,
Von dir gejagt, Gedanke!
Unnennbarer! Verhüllter! Entsetzlicher!
schaudert er manchmal mit einem ungeheuren Schreckblick zurück, da er erkennt, wie weit ihn sein Leben über alles Lebendige und alles Gewesene hinausgeschleudert hat. Aber ein so übergewaltiger Anlauf kann nicht mehr zurück: mit voller Bewußtheit erfüllt er das Schicksal, das sein geliebter Hölderlin ihm vorausgedacht, sein Empedokles-Schicksal.
Heroische Landschaft ohne Himmel, gigantisches Spiel ohne Zuschauer, Schweigen und immer gewaltsameres Schweigen um den fürchterlichsten Schrei geistiger Einsamkeit – das ist die Tragödie Friedrich Nietzsches: man müßte sie als eine der vielen sinnlosen Grausamkeiten der Natur verabscheuen, hätte er ihr nicht selbst ein ekstatisches Ja gesagt und die einzige Härte um ihrer Einzigkeit willen gewählt und geliebt. Denn freiwillig, aus gesicherter Existenz und mit klarem Sinn hat er sich dies »besondere Leben« aus dem tiefsten tragischen Instinkt gebaut und mit einer einzigen Kraft die Götter herausgefordert, in ihm »den höchsten Grad der Gefährlichkeit zu erproben, mit der ein Mensch sich lebt«. »Χαίρετε δαὶμοως« »Seid gegrüßt, Dämonen!« Mit diesem heitern Ruf der Hybris beschwören einmal in studentisch froher Nacht Nietzsche und seine philologischen Freunde die Mächte: zur Geisterstunde schwenken sie vom Fenster aus den gefüllten Gläsern roten Wein in die schlafende Straße der Baseler Stadt hinab als Opfergabe an die Unsichtbaren. Es ist nur ein phantastischer Scherz, der mit tieferer Ahnung sein Spiel treibt: aber die Dämonen hören den Ruf und folgen dem, der sie gefordert, bis aus dem Spiel einer Nacht grandios die Tragödie eines Schicksals wird. Nie aber verwehrt sich Nietzsche dem ungeheuren Verlangen, von dem er sich übermächtig erfaßt und fortgeschleudert fühlt: je härter ihn der Hammer trifft, um so heller klingt der eherne Block seines Willens. Und auf diesem rotglühenden Amboß des Leidens wird härter und härter mit jedem verdoppelten Schlag die Formel geschmiedet, die seinen Geist dann ehern umpanzert, die »Formel für die Größe am Menschen, amor fati: daß man nichts anders haben will, vorwärts nicht, rückwärts nicht, in alle Ewigkeit nicht. Das Notwendige nicht bloß ertragen, noch weniger verhehlen, sondern es lieben«. Dieser sein inbrünstiger Liebesgesang an die Mächte überklingt dithyrambisch den eigenen Schmerzensschrei: zu Boden geknickt, zerdrückt vom Schweigen der Welt, zerfressen von sich selber, geätzt mit allen Bitterkeiten des Leidens, hebt er niemals die Hände, das Schicksal möchte endlich von ihm lassen. Nur um mehr noch bittet er, um stärkere Not, um tiefere Einsamkeit, um volleres Leiden, um die äußerste Fülle seiner Fähigkeit; nicht in der Abwehr, einzig im Gebet hebt er die Hände, im herrlichsten Gebet des Helden: »Du Schickung meiner Seele, die ich Schicksal nenne, Du In-mir! Über-mir! Bewahre mich und spare mich einem großen Schicksal.«
Wer aber so groß zu beten weiß, der wird erhört.
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Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.