Wandlungen zu sich selbst


Die Schlange, welche sich nicht häuten kann,
geht zugrunde. Ebenso die Geister, welche man
verhindert, ihre Meinungen zu wechseln: sie
hören auf, Geist zu sein.


Die Menschen der Ordnung, so farbblind sie sonst dem Einzigartigen gegenüberstehen mögen, haben doch einen untrüglichen Instinkt für das ihnen Feindselige; lange bevor Nietzsche sich als der Amoralist, der Brandstifter ihrer umfriedeten Moralhürden enthüllte, haben sie ihn befeindet: ihre Witterung wußte mehr von ihm als er selbst. Er war ihnen unbequem als ewiger Außenseiter aller Kategorien, als Mischling von Philosoph, Philolog, Revolutionär, Künstler, Literat und Musikant – von der ersten Stunde ist er den Fachmenschen als Überschreiter der Grenzen verhaßt. Kaum veröffentlicht der Philologe sein Frühwerk, so prangert der Philologe Wilamowitz (er ist es geblieben ein halbes Jahrhundert, indes sein Gegner hinauswuchs in Unsterblichkeit) den Grenzüberschreiter bei den Kollegen an. Ebenso mißtrauen – und wie mit Recht! – die Wagnerianer dem leidenschaftlichen Panegyriker, die Philosophen dem Erkenner: noch im Puppenzustand des Philologen, noch als Unbeflügelter hat Nietzsche bereits die Fachlichen gegen sich. Nur das Genie, der Wissende um den Wandel, nur Richard Wagner liebt im Werdenden den zukünftigen Feind. Die andern aber, sie spüren und wittern an seinem weit ausholenden kühnen Gang sofort sein Unverläßlichsein, das Nicht-treu-Bleiben an der Überzeugung, jene maßlose Freiheit, die der Freieste gegen alles, also auch gegen sich selber fühlt. Und selbst heute, da seine Autorität sie duckt und einschüchtert, möchten die Fachmenschen gerne den »Prinzen Vogelfrei« wieder in ein System eingittern, in eine Lehre, eine Religion, in eine Botschaft. Sie möchten ihn starr haben wie sich selbst, an Überzeugungen gebunden, in eine Weltanschauung vermauert – gerade das, was er am meisten fürchtete. Ein Definitives, ein Unwidersprochenes möchten sie dem Wehrlosen aufzwingen und den Nomadischen (nun, da er die Welt des Geistes, die unendliche, erobert) festbannen in ein Haus, das er niemals hatte und niemals ersehnte.


Aber Nietzsche ist nicht zu bannen in eine Lehre, nicht festzunageln an eine Überzeugung – nie ist auch auf diesen Blättern das Schulmeisterkunststück versucht, aus einer erschütternden Tragödie des Geistes eine kalte »Erkenntnistheorie« zu exzerpieren – denn nie hat sich der leidenschaftliche Relativist aller Werte an irgendein Wort seiner Lippe, an eine Überzeugung seines Gewissens, an eine Leidenschaft seiner Seele dauernd gebunden oder gar verpflichtet erachtet. »Ein Philosoph braucht und verbraucht Überzeugungen«, antwortet er überlegen den Seßhaften, die stolz sich ihres Charakters und ihrer Überzeugungen rühmen. Jede seiner Meinungen hat er nur als Durchgang, ja sogar sein eigenes Ich, seine Haut, seinen Leib, sein geistiges Gebilde hat er immer nur als Vielzahl, als »Gesellschaftsbau vieler Seelen« empfunden: wörtlich sagt er einmal das allerkühnste Wort: »Es ist nachteilig für den Denker, an eine einzige Person gebunden zu sein. Wenn man sich selbst gefunden hat, muß man versuchen, sich von Zeit zu Zeit zu verlieren – und dann wieder zu finden.« Sein Wesen ist fortwährende Verwandlung, Selbsterkennen durch Selbstverlust, also ewiges Werden, und niemals ein starres, ruhendes Sein: »Werde, der du bist« darum der einzige Lebensimperativ, der sich in seinen ganzen Schriften findet. Nun hat ja auch Goethe ähnlich gespottet, er sei immer schon in Jena, wenn man ihn in Weimar suche, und Nietzsches Lieblingsbild von der abgestreiften Schlangenhaut steht hundert Jahre früher in einem Goethe-Brief, aber doch, wie kontradiktorisch sind Goethes besonnene Entwicklung und Nietzsches eruptive Verwandlung! Denn Goethe verbreitert sein Leben um ein fixes Zentrum, so wie ein Baum um einen verborgenen inneren Schaft jährlich Ring an Ring setzt und, während er die äußere Rinde sprengt, immer fester, wuchtender, höher und weit ausschauender wird. Seine Entwicklung geschieht durch Geduld, durch eine stetige zähe, aufzunehmende Kraft, und bei allem Fortwachsen gleichzeitig durch Resistenz der Selbstverteidigung – die Nietzsches aber immer durch Gewalt, durch stoßhafte Vehemenz des Willens. Goethe erweitert sich, ohne je einen Teil seines Selbst preiszugeben, er braucht sich nie zu verleugnen, um sich zu steigern; Nietzsche dagegen, der Wandelhafte, muß immer sich ganz zerstören, um sich ganz wieder aufzubauen. Alle seine Selbstgewinnungen und Neuentdeckungen resultieren aus mörderischen Selbstzerätzungen und Glaubensverlusten, aus Dekomposition – um höher zu kommen, muß er immer einen Teil seines Ichs wegwerfen (indes Goethe nichts preisgibt und nur chemisch verwandelt und destilliert). Nichts bleibt in seinem wandelhaften Weltbild vom Früheren, vom Vergangenen gültig und unwidersprochen: darum sind auch seine einzelnen Phasen gar nicht brüderhaft, sondern feindselig gegeneinandergestellt. Immer ist er auf dem Weg nach Damaskus; nicht bloß eine einmalige Umwendung seines Glaubens, seines Gefühls wird ihm zuteil, sondern unzählige, denn jedes neue geistige Element dringt bei ihm nicht bloß ins Geistige ein, sondern bis ins Eingeweide: moralische und intellektuelle Erkenntnisse formen sich bei ihm chemisch in andern Blutlauf, anderes Gefühl, anderes Denken um. Als verwegener Spieler setzt Nietzsche (wie Hölderlin einmal von sich fordert) »die ganze Seele der zerstörenden Macht der Wirklichkeit aus«, und von allem Anfang an haben Erfahrung und Eindrücke auf ihn diese Form vehementer und völlig vulkanischer Einbrüche. Wie er als junger Student in Leipzig Schopenhauers »Die Welt als Wille und Vorstellung« liest, kann er zehn Tage nicht schlafen, sein ganzes Wesen wird von einem Zyklon umgewühlt, der Glaube, auf den er sich stützt, stürzt schmetternd ein; und als sich der geblendete Geist allmählich aus dem Taumel ernüchtert, findet er eine vollkommen veränderte Weltanschauung, eine neue Lebensauffassung. Ebenso wird die Begegnung mit Richard Wagner zum leidenschaftlichen Liebeserlebnis, das die Spannkraft seines Gefühls ins Unendliche erweitert. Von Triebschen nach Basel zurückgekehrt, hat sein Leben einen neuen Sinn: der Philologe in ihm ist über Nacht abgestorben, die Perspektive von der Vergangenheit, die Historie, hat sich in die Zukunft verschoben. Und eben weil von dieser geistigen Liebesglut die ganze Seele durchdrungen war, reißt dann die Loslösung von Wagner eine klaffende, beinahe tödliche Wunde, die sich nie mehr schließt und die völlig vernarbt. Immer stürzt wie bei einem Erdbeben bei jeder dieser geistigen Erschütterungen der ganze Bau seiner Überzeugungen in Trümmer zusammen, immer wieder muß Nietzsche sich von Grund aus neu gestalten. Nichts wächst sanft, still und unhörbar, naturhaft organisch in ihm empor, nie dehnt und spannt sich in heimlicher Arbeit das innere Wesen zu breiterem Stand: alles, selbst die eigenen Ideen, schlagen in ihn hinein »wie Blitzschläge«, immer muß eine Welt in ihm vernichtet sein, damit sein Kosmos neu entstehe. Diese Schlagwetterkraft der Idee bei Nietzsche ist ohne Beispiel: »Ich will«, so schreibt er einmal, »von der Expansion des Gefühls erlöst sein, die solche Produktionen mit sich führen; es ist mir öfter der Gedanke gekommen, daß ich an so etwas plötzlich sterben werde.« Und tatsächlich stirbt immer etwas bei seiner geistigen Erneuerung ab, immer wird etwas im innern Gewebe zerrissen, gleichsam als ob ein stählernes Messer hineingefahren wäre, das alle früheren Verbindungen zertrennte. Nie vielleicht hat sich ein Mensch so entsetzlich qualvoll entwickelt, so aus sich selber blutig herausgeschunden. Alle seine Bücher sind darum eigentlich nichts anderes als die klinischen Berichte dieser Operationen, die Methoden seiner Vivisektionen, eine Art Geburtshelferlehre des freien Geistes. »Meine Bücher reden nur von meinen Überwindungen« – sie sind die Geschichte seiner Verwandlungen, seiner Kindbetten und Schwangerschaften, seiner Tode und Neuauferstehungen, die Geschichte der gegen das eigene Ich rücksichtslos geführten und gerichteten Kriege, Exekutionen und Züchtigungen, und in summa eine Biographie all der Menschen, die Nietzsche die zwanzig Jahre seines geistigen Lebens gewesen und geworden ist.


Das unvergleichbar Eigentümliche dieser fortwährenden Verwandlungen Nietzsches ist nun, daß seine Lebenslinie im gewissen Sinne eine rückläufige Bewegung darstellt. Nehmen wir Goethe – immer wieder ihn, die sinnfälligste aller Erscheinungen – als den Prototyp einer organischen Natur, die geheimnisvoll mit dem Weltlauf im Einklange steht, so sehen wir, daß die Formen seiner Entwicklung symbolisch die Lebensalter spiegeln. Goethe ist überschwenglich-feurig als Jüngling, besonnen-tätig als Mann, begrifflich-klar als Greis: der Rhythmus seines Denkens entspringt organisch der Lebenstemperatur seines Blutes. Sein Chaos ist im Anfang (wie immer beim Jüngling), seine Ordnung am Ende (wie immer beim Greis), er wird konservativ, nachdem er Revolutionär gewesen, wissenschaftlich aus anfänglichem Lyrismus, selbstbewahrend nach anfänglicher Selbstverschwendung. Nietzsche geht nun den umgekehrten Weg wie Goethe; strebt jener zu immer fülligerer Bindung seines Wesens, so drängt er zu immer leidenschaftlicherer Auflösung: wie alle dämonischen Charaktere wird er immer hitziger, unduldsamer, ungestümer, revolutionärer, chaotischer mit den fortschreitenden Jahren. Schon die äußere Lebenshaltung deutet den vollkommenen Rücklauf gegen gewohnte Entwicklung. Nietzsche beginnt damit, alt zu sein. Mit vierundzwanzig Jahren, während seine Kommilitonen noch Studentenulk treiben, mit den breiten Biergläsern Zerevis reiben und im Gänsemarsch auf den Straßen herummarschieren, ist Nietzsche schon wohlbestallter Professor, wirklicher Ordinarius der Philologie an der berühmten Universität Basel. Seine wahren Freunde sind damals die fünfzig- und sechzigjährigen Menschen, die großen und greisen Gelehrten, wie Jakob Burckhardt und Ritschl, sein Intimus, der ernste und erste Künstler der Zeit: Richard Wagner. Mit Gewalt unterdrückt er seine dichterischen Kräfte, den Aufstrom der Musik: wie nur irgendein verknöcherter Hofrat sitzt er gebückt über griechischen Handschriften, verfaßt Indices, begnügt sich an der Revidierung verstaubter Pandekten. Der Blick des beginnenden Nietzsche ist vollkommen nach rückwärts gewandt in die »Historie«, in Totes und Gewesenes, seine Lebensfreude vermauert in eine Alte-Männer-Manie, seine Heiterkeit, sein Übermut in eine professorale Würde, sein Blick in Bücher und gelehrte Probleme. Mit siebenundzwanzig Jahren bricht die »Geburt der Tragödie« einen ersten geheimen Stollen in die Gegenwart: noch trägt aber der Verfasser die ernste Maske der Philologie auf seinem geistigen Gesicht, und nur unterirdisch ist ein erstes Flackern darin von zukünftigen Dingen, ein erstes Entbrennen der Liebe zur Gegenwart, der Leidenschaft zur Kunst. Mit etwa dreißig Jahren, zu der Zeit, wo der normale Mensch seine bürgerliche Karriere erst inauguriert, in dem Alter, wo Goethe Staatsrat, Kant und Schiller Professoren wurden, hat Nietzsche seine Karriere bereits hinter sich geworfen und das Katheder der Philologie aufatmend verlassen. Es ist sein erster Abschluß gegen sich selbst, sein Abstoß in die eigene Welt, seine erste innere Umschaltung, und in diesem Aufhören ist des Künstlers eigentlicher Anfang. Der wahre Nietzsche beginnt mit seinem Einbruch in die Gegenwart, der tragische Nietzsche, der unzeitgemäße, mit seinem Blick in die Zukunft, mit seiner Sehnsucht nach dem neuen, dem kommenden Menschen. Dazwischen liegen ununterbrochene Schlagwetter von Verwandlungen, vollkommene Umstülpungen des innersten Wesens, der brüske Windwechsel von Philologie zur Musik, vom Ernst zur Ekstase, von sachlicher Geduld zum Tanz. Mit sechsunddreißig Jahren ist Nietzsche Prinz Vogelfrei, Immoralist, Skeptiker, Dichter und Musikant, »besser jung« als je in seiner Jugend, frei von aller Vergangenheit und eigenen Wissenschaft, frei schon von der Gegenwart und ganz Geselle des jenseitigen, des zukünftigen Menschen. Statt daß also die Jahre der Entwicklung wie bei dem normalen Künstler sein Leben stabilisieren, verwurzelter, ernster, zielhafter machen, lösen sie es nur leidenschaftlich von allen Bindungen und Beziehungen los. Ungeheuer, unvergleichbar ist das Tempo dieser Verjugendlichung. Mit vierzig Jahren hat Nietzsches Sprache, seine Gedanken, sein Wesen mehr rote Blutkörperchen, mehr frische Farbe, Verwegenheit, Leidenschaft und Musik als mit siebzehn, und der Einsame von Sils-Maria geht leichteren, beschwingteren, tanzhafteren Schrittes durch sein Werk als der frühere vierundzwanzigjährige, frühalte Professor. Bei Nietzsche intensifiziert sich also das Lebensgefühl, statt sich zu beruhigen: immer geschwinder, freier, flughafter, vielfältiger, spannkräftiger, boshafter, zynischer werden seine Verwandlungen; nirgends findet er mehr einen »Standpunkt« für seinen eilenden Geist. Kaum hat er sich wo eingewachsen, so »krümmt und bricht sich die Haut«: schließlich kommt er seinem eigenen Leben gar nicht mehr nach mit seinem Sich-selbst-Erleben, und die Veränderungen geraten allmählich in ein kinematographisches Tempo, wo das Bild ständig zittert und verflirrt. Gerade die ihn am nächsten zu kennen meinen, die Freunde seiner früheren Lebensalter, von denen fast alle festgenagelt sitzen in ihrer Wissenschaft, ihrer Meinung, ihrem System, staunen ihn immer fremder von Begegnung zu Begegnung an. Erschreckt sehen sie in seinem immer mehr verjugendlichten geistigen Gesicht neue Züge, die auf nichts Früheres zurückdeuten; und ihm selbst, dem immerzu Verwandelten, kommt es geradezu gespenstig vor, wenn er seinen eigenen Titel hört, wenn er mit jenem »Professor Friedrich Nietzsche in Basel«, dem Philologen, »verwechselt« wird, mit diesem greisen und weisen Mann, der er selbst einmal vor zwanzig Jahren gewesen zu sein sich nur mühsam erinnert! Vielleicht hat noch nie jemand mit solchem Radikalismus alles von sich weggelebt wie Nietzsche, alles aus sich herausgestoßen, was von früheren Rudimenten und Sentiments noch zurückgeblieben ist: darum auch sein furchtbares Alleinsein in den letzten Jahren. Denn alle Verbindungen mit dem Einst hat er abgerissen; und um sich Neuem zu verbinden, dazu ist das Tempo seiner letzten Jahre, seiner letzten Verwandlungen doch ein zu hitziges. Er saust an allen Menschen, an allen Erscheinungen gleichsam nur vorüber; und je näherer sich selber kommt oder zu kommen scheint, desto hitziger wird seine Gier, sich wieder zu entweichen. Immer radikaler werden die Verfremdungen seines Wesens, immer brüsker seine Sprünge vom Nein zum Ja, seine elektrischen Umschaltungen der inneren Kontakte: er verbrennt sich in unablässigen Selbstaufzehrungen, und sein Weg ist eine einzige Flamme.


Aber in dem gleichen Maße, als die Verwandlungen sich beschleunigen, werden sie auch gewaltsamer und schmerzhafter. Nietzsches erste »Überwindungen« bedeuten bloß Abschälung knabenhafter, jünglingshafter Gläubigkeiten, mitgelernter, aus der Schule übernommener Autoritätsmeinungen: sie waren leicht hinter sich geworfen wie eine abgesprungene trockene Schlangenhaut. In je tieferem Sinne er aber Psychologe wird, in um so tiefere Schicht seiner innern Substanz muß er mit dem Messer hinein: je subkutaner, durchnervter, blutdurchdrungener, je mehr vom eigenen Plasma geformter die Überzeugungen werden, um so mehr ist brutale Gewaltsamkeit, Blutverlust und Entschlossenheit vonnöten: es wird »Selbsthenkerdienst«, Shylockarbeit, Schnitt ins offene Fleisch. Schließlich kommen die Selbstbloßlegungen bis in das innerste Erdreich des Gefühls heran, sie werden gefährliche Operationen; die Amputation des Wagner-Komplexes vor allem ist ein solcher schneidendster, fast tödlicher Eingriff in das Innerste seines Leibes, hart an der Herznaht, ein Selbstmord fast, und in dem Grausam-Gewaltsamen seiner Plötzlichkeit eine Art Lustmord auch, denn in liebender Umschlingung, in der Sekunde intimster Annäherung vergewaltigt und erdrosselt sein wilder Wahrheitstrieb die ihm nächste und geliebteste Gestalt. Aber je gewaltsamer, desto lieber: je mehr Blut, je mehr Schmerz, je mehr Grausamkeit Nietzsche eine seiner »Überwindungen« kostet, um so lustvoller genießt sein Ehrgeiz die Probe auf die eigene Willenskraft. Allmählich wird der Selbstzerstörungstrieb Nietzsches geistige Passion: »Ich kenne die Lust am Vernichten in einem Grade, die meiner Kraft zum Vernichten gemäß ist.« Aus dem bloßen Sichverwandeln wächst Lust, sich zu widersprechen, sein eigener Widerpart zu sein: einzelne Aussprüche seiner Bücher schlagen einander brüsk ins Gesicht, jedem Nein setzt der leidenschaftliche Proselyt seiner Überzeugungen herrisch ein Ja, jedem Ja ein Nein entgegen – unendlich reckt er sich aus, um die Pole seines Wesens bis ins Unendliche zu spannen und die elektrische Spannung zwischen diesen beiden äußersten Enden als das wahre Leben des Geistes zu spüren. Immer sich entfliehen, immer sich erreichen – »die sich selbst entfliehende Seele, die sich im weitesten Kreise einholt« –, das treibt am Ende in eine rasende Hitzigkeit hinein, und diese Übertreibung wird sein Verhängnis. Denn gerade, wie er die Form seines Wesens bis ins Äußerste dehnt, birst die Spannung des Geistes: der feurige Kern, die dämonische Urgewalt bricht durch, und das urmächtige Element vernichtet mit einem einzigen vulkanischen Stoß die großartige Folge der Gestalten, die der bildnerische Geist sich aus seinem eigenen Blut und Leben bis hinein in die Unendlichkeit gejagt.

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Entdeckung des Südens

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Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.