Purpurne Finsternis


Zwar
Es leuchten auch im Dunkel blühende Bilder.


Die großen orphischen Gedichte, die der geistig Geblendete in jenen Jahren der Dämmerung und der Dunkelheit schafft, seine »Nachtgesänge«, gehören zu den unerhörtesten Gebilden der Weltliteratur, vergleichbar in ihrer und aller Zeit vielleicht nur jenen prophetischen Büchern William Blakes, jenes anderen Himmelskindes und Gottvertrauten, den seine Zeitgenossen gleichfalls einen »unfortunate lunatic« nannten, »whose personal inoffensiveness secures him from confinement«. Hier wie dort ist Schaffen ein magisches Bilden nach dämonischem Diktat, hier wie dort horcht ein kindlich unklarer Sinn über die offenbare Bedeutung des Wortes nach dem orphischen Urlaut. Dichtung (und bei Blake auch Zeichnung) wird im Dämmerzustand des Herzens zur Pythik: wie die Priesterin, trunken von unerhörten Gesichten über den gestaltenden Dämpfen der delphischen Schlucht, Worte jener Tiefe in zuckenden Krämpfen stammelt, so wirft hier der gestaltende Dämon aus einem erloschenen Krater des Geistes feurige Lava und funkelndes Gestein. In diesen dämonischen Gedichten Hölderlins redet nicht die irdische Verständigung, die Nutzsprache, die Menschenrede mehr. In eine apokalyptische Sphäre ist der Seher gestellt:


Tal und Ströme sind
Weit offen um prophetische Berge,
Daß schauen mag bis in den Orient
Der Mann und ihn von dort der Wandlungen viele bewegen.
Vom Äther aber fällt
Das treue Bild, und Göttersprüche regnen
Unzählbar von ihm, und es tönt im innersten Haine.


Aus Traumrede ist melodisches Verkünden geworden, »Tönen vom innersten Haine«, Stimme vom Jenseits, Wille über dem eigenen Willen: nicht mehr Sprecher und Täter ist hier der Dichter, sondern nur unbewußter Bote der Urworte. Der Dämon, der Urwille hat übergewaltig dem müd gewordenen Geist das Wort und den Willen entrissen. Der wache Mensch, der einstige Friedrich Hölderlin, ist fort, »nicht mehr dabei«: gleich einer leeren Larve bedient sich der Dämon seiner unwissenden Gestalt.


Denn diese Nachtgesänge, diese abgerissenen seherisch-improvisatorischen Fragmente des Halbwahnsinnigen, sie stammen nicht mehr aus der irdisch umleuchteten Sphäre der Kunst, aus dem Kommensurablen: sie sind meteorisches Metall und voll der magischen Mächte ihres außerirdischen Ursprungs. Jedes wahre Gedicht stellt sonst gleichsam ein Gewebe aus unbewußtem und bewußtem Kunstverstande dar, bald ist der eine Einschlag, bald der andere stärker durchwoben: durchaus typisch ergibt sich im normalen Wesensgang (etwa bei Goethe) die Erscheinung, daß im Alter der Reife der technische Einschuß, der irdische also, den inspirativen überwiegt, daß sich Kunst, ursprünglich ein wissendes Ahnen, in eine weise Meisterschaft verwandelt. Bei dem Hölderlinschen Gedicht dagegen verstärkt sich im Gegenteil immer der inspirative, der dämonische, der genial improvisierende Einschlag, indes die intellektuelle, die kunstfertige, die planende Webkette vollkommen abreißt. Die Zeilen fluten quer übereinander, einzig dem Klange nachrauschend; jeder Damm, jede Zäsur, jede Form wird überströmt von dem Schwall der Musik. Denn der Rhythmus ist schon selbstherrlich geworden, die Urmacht strömt ins Unendliche zurück. Manchmal spürt man noch bei Hölderlin, dem von sich selbst Hinweggezogenen, eine Art Gegenwehr gegen diese Übermacht, man merkt, wie er sich müht, einen einzelnen dichterischen Einfall festzuhalten, ihn gesteigert fortzubilden. Aber immer reißt ihm die bildernde Woge das Halbgestaltete fort, und er stöhnt:


Ach, wir kennen uns wenig,
Denn es waltet ein Gott in uns.


Immer mehr verliert der Unmächtige das Steuer seiner Dichtung. »Wie Bäche reißt das Ende von Etwas mich hinweg, das sich wie Asien ausdehnt«, sagt er von der Übermacht, die ihn von sich selbst wegzieht – es ist, als sei alle Griffkraft seines Gehirns erlahmt, und lose fallen die Gedanken ins Leere: immer endet als tragisches Stammeln, was als herrliches, kühn aufgeschwungenes Pathos sich erhoben. Der Faden der Rede verknäult sich, ohne daß Anfang und Ende zusammenzufinden sind: oft entfällt dem leicht Ermüdbaren in plötzlicher Gedankenohnmacht der begonnene Gedanke. Mit gleichsam zitternder, offenbar ungeschickter Hand kleistert er dann die hilflosen Übergänge mit einem flachen »nämlich« oder »es ist aber« zusammen oder macht ermattet vorzeitigen Schluß seiner Rede mit einem resignierten »Vieles wäre zu sagen davon«.


Aber diese scheinbar stammelnden Laute, denen oft die äußerliche Kohärenz des Gedankens fehlt; sind magisch gebunden durch einen höheren Sinn. Einzelheiten vermag der von dem Gerank des zufälligen Einfalls »wie mit üppigem Kraut überwucherte« Geist nicht mehr zu vernieten, aber Hölderlin erreicht in seinem rhythmischen Taumel oft einen Tiefsinn der Rede, wie sie ihm das Wachsein niemals gegeben – »Göttersprüche regnen nieder, und es tönt im innersten Haine«. Was sein neues Gedicht, sein Hymnus an morgendlicher Klarheit, an Reinheit des Umrisses in der erhabenen Verwirrung verliert, ersetzt ihm dämonische Inspiration durch jähe Blitze des Geistes. Denn durchaus gewitterhaft, durchaus blitzhaft sind von nun ab Hölderlins dichterische Erleuchtungen: sie dauern nur kurz und brechen unvermutet aus dem finster rauschenden Gewölk seiner breithinrollenden Oden hervor, aber sie erhellen unendlichen Horizont. Und in diesem wunderbaren Wandeln ins Weglose hinein begibt sich da knapp vor dem Ende, knapp vor dem Absturz in den Abgrund noch das einzige Wunder: im tiefsten Labyrinth des Weges ertastet Hölderlin, was er einst bewußt mit wachen Sinnen vergeblich gesucht: das griechische Geheimnis. Auf allen Straßen der Kindheit hatte der Jüngling sein Hellas gesucht, vergebens Hyperion ausgesandt, es an allen Gestaden der Zeit und der Vergangenheit zu finden. Er hatte Empedokles beschworen von den Schatten und die Bücher der Weisen durchforscht, das »Studium der Griechen« hatte ihm »statt Freundesumgang gedient«; nur darum war er so fremd geworden seinem Vaterland, seiner Zeit, weil er ewig auf dem Wege nach diesem Traumgriechenland unterwegs gewesen war: und selbst erstaunend über diese Verzauberung seiner Sinne hatte er sich oft gefragt:


Was ist es, das
An die alten seligen Küsten
Mich fesselt, daß ich mehr noch
Sie liebe als mein Vaterland?
Denn wie in himmlische
Gefangenschaft verkauft
Dort bin ich, wo Apollo ging.


Und da, mitten im Chaos der Sinne, in der tiefsten Verklüftung des Geistes glänzt es ihm plötzlich glühend entgegen, das griechische Geheimnis. Wie Virgil den Dante, so führt Pindar den großen Verirrten der letzten Trunkenheit der hymnischen Rede entgegen. In den dröhnenden Gesängen, in den blockhaft chaotischen, felsig getürmten Übertragungen Pindars und Sophokles’, erhebt sich Hölderlins Sprache über das bloß Hellenistische, bloß apollonisch Klare seines Anfangs: ungeheure Blöcke mykenischen Gesteins, eines mythischen Urgriechentums, ragen diese Transpositionen des tragischen Rhythmus in unsere laue, künstlich durchwärmte Sprachwelt. Nicht das Wort eines Dichters, nicht der nüchterne Sinn eines Verses ist da hinübergerettet von einem Ufer der Sprache zum anderen, sondern der feurige Kern der bildenden Leidenschaft noch einmal urmächtig entzündet. So wie im Organischen Geblendete deutlicher, gleichsam wacher hören, und wie ein abgestorbener Sinn die anderen sinnlicher, empfänglicher macht, so ist der Geist des Künstlers Hölderlin, seit sich ihm das klare Licht des nüchternen Verstandes verschlossen hat, unendlich offener für die rhythmischen Gewalten der Tiefe: in unbändiger Kühnheit preßt er die Sprache zusammen, bis ihr das melodische Blut aus allen Poren quillt, er bricht die Knochen des Satzbaus, daß sie geschmeidiger werden, und härtet wieder mit klirrendem Rhythmenschlag ihre tönende Spannung. Wie Michelangelo in seinen halbgestalteten Blöcken, so ist Hölderlin in seinen chaotischen Fragmenten vollendeter als die Vollendung selbst, die immer ein Ende ist: das Chaos, die Urmacht und nicht mehr eine einzelne dichterische Stimme wird in ihnen tönend und großer Gesang.


So herrlich, in purpurner Finsternis sinkt Hölderlins Geist in die Nacht. Wie sein Genius, der schwärmerische, so ist auch sein Dämon, der schwermütig-wilde, von göttlicher Gestalt. Wenn sonst bei dichterischen Gestalten das Dämonische durchbricht, ist die Flamme meist dunkel getrübt vom Fusel des Alkohols (Grabbe, Günther, Verlaine, Marlowe) oder vermengt mit dem schwelenden Weihrauch der Selbstbetäubung (Byron, Lenau): Hölderlins Trunkenheit aber ist rein und sein Hingang darum nicht Untergang, sondern heroische Rückflut in Unendlichkeit. Hölderlins Sprache vergeht im Rhythmus, sein Geist in großer Vision: er löst sich auf in sein eigenstes urtümliches Element. Noch sein Sinken ist Musik, sein Vergehen Gesang: gleich dem Euphorion, dem Symbol der Dichtung im »Faust«, dem tragischen Sohn deutschen und griechischen Geistes, stürzt nur das Zerstörbare, das Körperliche seines Wesens hinab ins Dunkel der Vernichtung. Die Leier aber schwebt silbern empor und steigt zu den Sternen.

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Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.