Die Lieder des Abends


Heard melodies are sweet, but those unheard
Are sweeter.


Keats.


Die Dinge, die die Abende erzählen,
Die sind so seltsam süß und wunderbar,
Weil sich in ihnen Wunsch und Wort vermählen
Und küssen, wie ein Schwesterlippenpaar.


In ihnen schläft der Schmelz der Violinen
Und träumt ein Trost, der nicht dem Tag entstammt,
Und sorglos nimmst du Süßigkeit von ihnen
Gleich einer Rose, die am Wege flammt.


Wohl müssen die Lieder im Abend sein
Und dort meines Weges warten,
Denn geh ich in seine Arme hinein,
So tönt mein Herz ganz glockenrein
Und klingt wie der Wind durch den Garten.


Ist dies der Abend, der also singt
Und den meine Lieder erlauschen,
Ist’s Mondglanz, der süß und silberbeschwingt
In die perlenden Kelche der Blüten sinkt,
Ist’s der Wälder traumraunendes Rauschen?


Ich weiß nur: ein lockender Wille drängt
Mich hin in die Abendgelände,
Und wie das Herz dort sinnt und denkt,
Fühlt es oft, wundersam beschenkt,
Eines Liedes aufpochende Hände.


Und fühlt: der Abend ist reich und rein
Und voll von rauschenden Gnaden.
Was wir uns ersingen, war alles sein
Und unser Wandern ein Weg allein
Auf seinen ferndunkelnden Pfaden.

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Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.