Paris
Das achtzehnte Jahrhundert denkt und lebt kosmopolitisch. Noch stellt die Wissenschaft, die Kunst Europas eine einzige große Familie dar, noch ist für den geistigen Menschen die gegenwärtige bornierte Abschließung von Staat zu Staat nicht erfunden. Der Künstler wie der Gelehrte, der Musiker wie der Philosoph wandert damals ohne jede vaterländische Hemmung von einer Residenz zur anderen, überall zu Hause, wo er sein Talent und seihe Mission auswirken kann, allen Nationen, Völkern und Fürsten gleich williger Freund. Deshalb bedeutet es für Mesmer keinerlei besondere Entschließung, von Wien nach Paris zu übersiedeln, und von der ersten Stunde an braucht er diese Umstellung nicht zu bereuen. Seine aristokratischen Patienten aus Österreich öffnen ihm das Haus der Gesandtschaft, Marie Antoinette, auf alles Neue und Sonderbare und Unterhaltsame lebhaft eingestellt, verspricht ihm ihre Unterstützung, und Mesmers zweifellose Zugehörigkeit zu der damals allmächtigen Freimaurerei führt ihn sofort ins Zentrum der französischen Geistigkeit. Außerdem begegnet seine Lehre einem ausgezeichneten Augenblick. Denn gerade dadurch, daß Voltaire und die Enzyklopädisten mit ihrem aggressiven Skeptizismus den Kirchenglauben aus der Gesellschaft des Dix-huitième herausironisierten, hatten sie das ewig im Menschen unzerstörbare Glaubensbedürfnis statt zu Boden geschlagen (»écrasez l’infâme!«) nur auf allerhand sonderliche Abwege und in mystische Schlupfwinkel gedrängt. Nie war Paris neuerungssüchtiger und abergläubischer als in jenen Tagen der beginnenden Aufklärung. Seitdem man die Legenden der biblischen Heiligen nicht mehr glaubt, sucht man sich selbst neue und sonderbare Heilige und entdeckt sie in den scharenweis heranströmenden rosenkreuzerischen, alchimistischen und philalethischen Scharlatanen, denn alles Unwahrscheinliche, alles der offiziellen Schulwissenschaft kühn Entgegengesetzte findet in der gelangweilten und auf philosophische Mode frisierten Pariser Gesellschaft begeisterten Empfang. Bis in die höchsten Kreise dringt die Leidenschaft für Geheimwissenschaft, für weiße und schwarze Magie. Madame de Pompadour, die Staatslenkerin Frankreichs, schleicht nachts aus einer Seitentür der Tuilerien zu Madame Bontemps, um sich aus Kaffeesatz die Zukunft wahrsagen zu lassen; die Herzogin von Urfé läßt sich (man lese es bei Casanova nach) einen Baum der Diana bauen und dabei auf höchst physiologische Weise verjüngen; die Marquise de l’Hôpital wird von einem alten Weib in ein abgelegenes Lokal gelockt, wo ihr Luzifer in Person bei einer schwarzen Messe vorgestellt werden soll; aber während die gute Marquise und ihre Freundin splitternackt den angekündigten Teufel erwarten, macht sich die Gaunerin mit ihren Kleidern und ihrer Börse davon. Die angesehensten Männer Frankreichs schauern vor Ehrfurcht, wenn der sagenhafte Graf von Saint-Germain beim Souper sich höchst raffiniert verspricht und seine Tausendjährigkeit damit verrät, daß er von Jesus Christus oder Mohammed als von persönlich Bekannten redet. Gleichzeitig erfreuen sich die Wirte und Herbergsleute von Straßburg voller Stuben, weil der Prinz von Rohan den gerissenen sizilianischen Gauner Balsamo, der sich Graf von Cagliostro nennt, in einem der vornehmsten Palais der Stadt beherbergt. Mit der Postkutsche, in Sänften und auf Reitpferden kommen aus allen Richtungen Frankreichs die Aristokraten heran, um von diesem analphabetischen Quacksalber sich Tränke und Zaubermittel zu kaufen. Hofdamen und blaublütige Fräuleins, Fürstinnen und Baroninnen richten in ihren Schlössern und Stadthotels alchimistische Küchen ein, und bald wird auch das eigentliche Volk von der Epidemie des Wunderwahns ergriffen. Kaum verbreitet sich die Nachricht von mehrfachen Wunderheilungen am Grabe des Archidiakonus von Paris auf dem Friedhofe von Saint-Médard, so umlagern sofort Tausende den Kirchhof und geraten in die wildesten Zuckungen. Keine Absonderlichkeit scheint damals zu toll, kein Wunder wunderbar genug, und nirgendwann war es Schwindlern leichter gemacht als in dieser gleichzeitig vernünftlerischen und sensationsgierigen Zeit, die sich jeden Nervenkitzel kauft, jeder Narretei hastig zuschwört, jeder Zauberei gläubig-ungläubig verfällt. So hatte ein Arzt mit einer neuen Universalmethode sein Spiel eigentlich schon von vornherein gewonnen.
Aber Mesmer (immer wieder muß dies betont werden) will durchaus nicht einem Cagliostro oder Saint-Germain die goldenen Stollen im Bergwerk der menschlichen Dummheit abgraben. Graduierter Arzt, sehr stolz auf seine Theorie, Fanatiker seiner Idee, ja sogar ihr Gefangener, will und wünscht er nur eines vor allem: von der offiziellen Wissenschaft anerkannt zu werden. Er verachtet den wertvollen und einträglichen Enthusiasmus der Modemitläufer: ein zustimmendes Gutachten eines einzigen Akademikers wäre ihm wichtiger als das Geschrei von hunderttausend Narren. Aber die hochmögenden Professoren setzen sich mit ihm durchaus nicht an den Experimentiertisch. Die Berliner Akademie hat auf seine Ausführungen nur lakonisch geantwortet »er sei im Irrtum«, der Wiener medizinische Rat ihn öffentlich einen Betrüger genannt; man begreift also seine geradezu verzweifelte Leidenschaft, endlich eines redlichen Urteils gewürdigt zu werden. Sein erster Weg, kaum daß er im Februar 1778 in Paris eintrifft, geht zu Le Roy, dem Präsidenten der Akademie der Wissenschaften; durch ihn läßt er dringlichst alle Mitglieder einladen, sie möchten ihm die Ehre erweisen, seine neuartige Behandlung in seinem vorläufigen Hospital von Créteil (nahe von Paris) auf das strengste zu überprüfen. Vorschriftsmäßig bringt der Präsident den Antrag zur Debatte. Aber anscheinend hat die Wiener Fakultät schon vorgeheizt, denn die Akademie der Wissenschaften erklärt kurz und knapp ihre Abneigung, sich mit Mesmers Experimenten zu befassen.
So leicht gibt nun ein Mann nicht nach, der, leidenschaftlich durchdrungen von der Überzeugung, der Welt etwas sehr Wichtiges und Neues dargetan zu haben, eine wissenschaftliche Idee wissenschaftlich gewürdigt sehen will. Sofort wendet er sich jetzt an die neugegründete Medizinische Gesellschaft. Dort kann er als Arzt sein unbestreitbares und unumstößliches Recht fordern. Abermals erneuert er sein Angebot, in Créteil seine geheilten Patienten vorzuführen und jeder Frage willige Auskunft zu geben. Aber auch die Medizinische Gesellschaft zeigt wenig Neigung, sich in Gegensatz zu ihrer Schwestergesellschaft in Wien zu stellen. Sie weicht der unbequemen Einladung mit dem fadenscheinigen Vorwand aus, sie könne Heilungen nur in solchen Fällen beurteilen, wo sie den vorhergehenden Zustand der Patienten gekannt habe, und dies sei hier nicht der Fall.
Fünfmal hat nun Mesmer versucht, bei allen Fakultäten der Welt Anerkennung oder zumindest aufmerksame Überprüfung seines Systems zu erzwingen: unmöglich konnte man gerader, ehrlicher, wissenschaftlicher handeln. Jetzt erst, da die gelehrten Klüngel ihn durch ihr Schweigen verurteilten, ohne in die Akten und Fakten Einblick genommen zu haben, jetzt erst wendet er sich an die höchste und entscheidendste Instanz: an die Öffentlichkeit, an alle Gebildeten und Interessierten, indem er 1779 in französischer Sprache seine »Abhandlung über die Entdeckung des tierischen Magnetismus« in Druck gibt. Mit beredten und wirklich redlichen Worten bittet er um Hilfe für seine Versuche, um Anteil und Wohlwollen, ohne mit einer Silbe Wunder und Unmöglichkeiten zu versprechen: »Der tierische Magnetismus ist gar nicht, was die Ärzte unter einem geheimen Mittel sich denken. Er ist eine Wissenschaft, welche ihre Gründe, Folgen und Sätze hat. Das Ganze ist bis auf diese Stunde unbekannt, ich gebe es zu. Aber eben deswegen wäre es widersprechend, mir Leute zu Richtern geben zu wollen, welche nichts von dem verständen, was sie zu beurteilen sich unterfingen. Nicht Richter, Schüler muß ich haben. Eben darum geht meine ganze Absicht dahin, von irgendeiner Regierung öffentlich ein Haus zu erhalten, um darin Kranke in die Kur zu nehmen, und wo man mit leichter Mühe, ohne fernere Unterstellungen besorgen zu dürfen, die Wirkungen des tierischen Magnetismus vollständig beweisen könnte. Dann wollte ich es über mich nehmen, eine bestimmte Anzahl von Ärzten zu unterrichten, und es der Einsicht derselben Regierung überlassen, wie allgemein oder eingeschränkt, wie schnell oder langsam sie diese Erfindung verbreiten wollte. Sollten meine Vorschläge in Frankreich verworfen werden, so würde ich es zwar ungern verlassen, allein es wird doch gewiß geschehen. Werden sie allerorten verworfen, so hoffe ich doch immer, ein Ruheplätzchen für mich zu finden. Eingehüllt in meine Rechtschaffenheit, sicher vor allen Vorwürfen meines Gewissens, werde ich rings um mich einen kleinen Teil der Menschheit sammeln, der ich so sehr allgemeiner nützlich zu sein gewünscht habe, und dann wird es Zeit sein, niemanden als mich selbst über das, was ich zu tun habe, um Rat zu fragen. Wenn ich anders handelte, so würde der tierische Magnetismus wie eine Mode behandelt werden. Jeder würde damit zu glänzen und mehr oder weniger, als wirklich ist, darin zu finden suchen. Man würde ihn mißbrauchen, und sein Nutzen würde in ein Problem ausarten, dessen Auflösung vielleicht erst nach Jahrhunderten stattfände.«
Ist dies die Sprache eines Scharlatans, das Flunkern oder Faseln eines unredlichen Menschen? Allerdings, ein beschwingter Unterton klingt schon in dieser Verlautbarung des bisherigen Bittstellers mit: Mesmer spricht zum erstenmal die Sprache des Erfolges. Denn bereits in diesen wenigen Monaten hat seine Methode der suggestiven Behandlung von Nervenleiden wichtige Anhänger und einflußreiche Bundesgenossen gefunden, vor allem ist Charles Deslon, der Leibarzt des Grafen d’Artois, öffentlich mit einer Broschüre an seine Seite getreten. Mit ihm ist der Weg zum Hofe endgültig gebahnt, gleichzeitig wirbt eine Palastdame der Königin Maria Antoinette, durch Mesmer von einer Lähmung genesen, bei ihrer Herrin für ihren Helfer. Der hohe Adel, Madame von Lamballe, der Prinz von Condé, der Herzog von Bourbon, der Baron Montesquieu und insbesondere der Held des Tages, der junge Marquis von Lafayette, bekennen sich leidenschaftlich zu seiner Lehre. Und so beginnt trotz der feindseligen Haltung der Akademie, trotz des Mißerfolgs in Wien, auf Befehl der Königin die Regierung direkt mit Mesmer zu verhandeln, um den Urheber solcher weittragenden Ideen an Frankreich zu fesseln; der Minister Maurepas bietet ihm in höherem Auftrag ein lebenslängliches Gehalt von zwanzigtausend Livres an, ferner zehntausend Livres für Wohnung, freilich erst auszahlbar, sobald drei für den Staat ausgebildete Schüler den Nutzen der Magnetotherapie anerkennen würden. Aber Mesmer hat es satt, sich abermals und abermals mit dem engstirnigen Vorurteil der Fachgelehrten herumzuschlagen, er läßt sich auf keine Verhandlungen mit Wenn und Aber mehr ein, er nimmt keine Almosen. Stolz lehnt er ab: »Ich kann mich mit einer Regierung nie in einen Vertrag einlassen, wenn nicht zuvor die Richtigkeit meiner Entdeckung ausdrücklich auf eine unverwerfliche Art anerkannt wird.« Und so stark ist Mesmer, der aus Wien ausgewiesene, in Paris nach zwei Jahren magnetischer Kuren schon geworden, daß er als Drohung aussprechen kann, er werde Paris verlassen, und in diesem Sinn der Königin ein Ultimatum stellt: »Ausschließlich aus Respekt für Ihre Majestät biete ich Ihr die Gewißheit, meinen Aufenthalt in Frankreich bis zum 18. September zu verlängern und bis zu diesem Datum meine Kuren allen jenen Kranken angedeihen zu lassen, die mir weiterhin Vertrauen schenken. Ich suche, Majestät, eine Regierung, die die Notwendigkeit anerkennt, nicht leichtfertig in die Welt eine Wahrheit einführen zu lassen, die durch ihren Einfluß auf die menschliche Physis Veränderungen hervorbringt, welche von Anfang an durch rechtes Wissen und die rechte Kraft kontrolliert und in einem wohlwollenden Sinne gelenkt werden müssen. In einer Sache, die die ganze Menschheit angeht, darf das Geld in den Augen Ihrer Majestät nur in zweiter Linie in Betracht kommen; vierhunderttausend oder fünfhunderttausend Franks zu einem solchen Zwecke angewandt, haben nichts zu bedeuten. Meine Entdeckung und ich selbst müssen mit einer Großzügigkeit belohnt werden, die des Monarchen würdig ist, an den ich mich binde.« Dieses Ultimatum Mesmers wird nicht angenommen, wahrscheinlich infolge des Widerstandes Ludwigs des Sechzehnten, dessen normalnüchterner und sparsamer Sinn sich gegen alle phantastischen Experimente auflehnt. So macht Mesmer Ernst; er verläßt Paris und begibt sich auf deutsches Reichsgebiet, nach Spa.
Aber eine andere ist diese herausfordernde Selbstverbannung als jene aus Wien, die einer Flucht oder Ausweisung verzweifelt ähnlich sah. Wie ein Potentat, wie ein Prätendent verläßt er das Reich der Bourbonen, und ein ganzer Schwarm begeisterter Anhänger begleitet den verehrten Meister in sein freiwilliges Exil. Noch mehr aber bleiben in Paris und Frankreich zurück, um dort für ihn zu wirken. Allmählich erreicht die allgemeine Entrüstung, daß man einen solchen Mann wegen der Intrigen der Fakultät gleichgültig aus Frankreich habe ziehen lassen, wahre Fiebergrade. Dutzendweise erscheinen Schriften zu seiner Verteidigung. Zu Bordeaux predigt von der Kanzel herab der Pater Hervier in offener Kathedrale das Dogma des Magnetismus; Lafayette, knapp vor der Abreise nach Amerika, teilt Washington als Wichtigstes mit, daß er den Amerikanern außer Gewehren und Kanonen für den Unabhängigkeitskampf noch die neue Lehre Mesmers bringe (un docteur nommé Mesmer, ayant fait la plus grande découverte, a fait des élèves, parmi lesquels votre humble serviteur est appelé un des plus enthousiastes… Avant de partir, j’obtiendrai la permission de vous confier le secret de Mesmer, qui est une grande découverte philosophique). Und geschlossen stellt sich die Freimaurerei, die auch in der Wissenschaft alles Neue und Revolutionäre genau wie in der politischen Sphäre verteidigt, hinter ihren Bruder. So erzwingen gegen die Regierung, gegen den König, gegen das medizinische Kollegium, gegen die Akademie diese begeisterten Anhänger Mesmers Rückkehr nach Paris unter den von ihm gestellten Bedingungen: was der König Mesmer verweigert, bieten ihm nun Adel und Bürgerschaft aus eigener Kraft. Eine Reihe seiner Schüler, an der Spitze Bergasse, der bekannte Advokat, gründen eine Aktiengesellschaft, um dem Meister die Möglichkeit zu gewähren, eine eigene Akademie gegen die königliche zu eröffnen; hundert Anhänger zeichnen je hundert Louisdors, »pour acquitter envers Mesmer la dette de l’humanité«, wogegen sich Mesmer verpflichtet, sie in seiner Wissenschaft auszubilden. Kaum aufgelegt, sind die magnetischen Aktien schon vergriffen, in zwölf Monaten bereits 340.000 Livres gezeichnet, bedeutend mehr, als Mesmer ursprünglich verlangt hatte. Außerdem schließen sich seine Schüler in jeder Stadt zu einer sogenannten »Harmonischen Gesellschaft« zusammen (Société de l’Harmonie), und zwar je eine in Bordeaux, in Lyon, Straßburg, Ostende, eine sogar in den Kolonien, in San Domingo. Im Triumph, gebeten, beschworen, gefeiert und begrüßt, ein ungekrönter Herrscher eines unsichtbaren Geisterreichs, kehrt Mesmer wieder nach Frankreich zurück. Was ihm ein König verweigert, hat er sich aus eigener Kraft geschaffen: Freiheit der Forschung, Unabhängigkeit des Daseins. Und wird die offizielle, die akademisch eingeschworene Wissenschaft ihm den Krieg erklären, nun ist Mesmer bereit.
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Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.