Verwandlung in Offenbarung


Der Grundstein des Systems ist gelegt, nun kann sich der schöpferische Bau erheben, die neue Kirche, der ragende Turm mit den weithin hallenden Glocken. Aber in welchen liliputanischen Dimensionen, inmitten welcher lächerlichen Provinzquengeleien spielen sich die ersten formbildenden Jahre der jungen Lehre ab! Für den ungetreuen Kennedy ist ein Dutzend anderer Schüler eingesprungen, Uhrmachergehilfe der eine, Fabrikarbeiter der andere, dazu ein paar Spinsters, unverheiratete ältliche Mädchen, die mit ihrem Leben und ihrer Zeit nichts anzufangen wissen. Angestrengt sitzen sie vor den Pulten, die breitschultrigen, massigen Burschen und schreiben wie in einer Dorfschule mit schwerfälligen schwieligen Fingern die Leitsätze der »Science«, die ihnen die straffe, gebietende Frau von ihrem Holztisch her in die Feder diktiert; bewundernd lauschen sie, die Augen erhoben, den Mund halb offen, jeden Nerv vom Willen des Verstehens gespannt, ihrer heiß und zuckend von den Lippen fließenden Rede. Groteske Szenerie und rührend zugleich: in einer engen muffigen Stube, die nach abgetragenen Kleidern, nach grauer Mühsal und Armut riecht, in einem niedern ungeistigen Kreise gibt Mary Baker ihr »Geheimnis« zum erstenmal an die Menschheit weiter, und ein paar abgehalfterte proletarische Existenzen, die nichts wollen, als ihren zermürbenden Maschinendienst mit einem einträglicheren, bequemeren Beruf vertauschen, sie bilden die ersten Jünger, die noch ganz in Dunkel eingefaltete Keimzelle einer der mächtigsten Geistesbewegungen unserer neuzeitlichen Welt.


Dreihundert Dollar haben die simplen Jungen für ihre Lehrzeit zu zahlen, zwölf Lektionen zu nehmen, dann können sie ihren Hut über die Ohren stülpen und ihn Doktorhut nennen. Nach dieser Promotion könnte sich jeder seine Doktorei aufmachen und brauchte sich nicht länger um Mary Baker zu kümmern. Aber ein Unerwartetes ereignet sich: die Schüler kommen von ihrer Lehrerin nicht mehr los. Zum erstenmal offenbart sich die großartige Ausstrahlung, die von dieser Seelenaufrüttlerin, von dieser Seelenvergewaltigerin ausgeht, zum erstenmal die geheimnisvolle Magie, auch die beschränktesten und schwerblütigsten Naturen zu geistigen Leistungen aufzureißen, immer und überall Leidenschaft zu erwecken, grenzenlose Bewunderung oder erbitterten Haß. Ein paar Wochen nur, und ihre Schüler verfallen ihr mit Haut und Haar. Sie können nicht mehr reden, nicht mehr denken, nicht mehr handeln ohne ihre Seelenverwalterin, sie erhorchen Offenbarung aus jedem ihrer Worte, sie denken aus ihrem Willen. Allen Menschen, denen Mary Baker begegnet – dies ihre unerhörte Macht!–, ändert sie das Leben, immer und überall treibt sie aus der Überkraft ihres Daseins ein ungeahntes Spannungsübermaß in fremde Existenzen hinein, Anziehung oder Abstoßung, immer aber Intensität. Bald beginnt ein Wetteifern unter ihren Schülern, ihr mit der untersten Quellkraft der Seele zu dienen, ein Furioso der Willenshingabe an ihren Willen. Nicht nur Lehrerin der Wissenschaft soll sie ihnen sein, wünschen diese hingerissenen Seelen, sondern Leiterin ihres ganzen Lebens, – nicht nur die geistige, sondern auch die geistliche Führung drängen sie ihr zu. So geschieht es, daß am 6. Juni 1875 ihre Schüler zusammentreten und nachfolgende Entschließung dokumentarisch festlegen:


»Nachdem vor kurzem die unserer Zeit neue und allen anderen Verfahren weit überlegene Wissenschaft des Heilens durch ihre Entdeckerin Mary Baker-Glover in der Stadt Lynn eingeführt worden ist,


Und nachdem viele Freunde die gute Botschaft in der ganzen Stadt verbreitet und das Lebens- und Wahrheitsbanner, das vielen mit Krankheits- und Irrtumsketten Gefesselten die Freiheit erklärte, hochgehalten haben,


Und nachdem durch den boshaften und vorsätzlichen Ungehorsam eines einzelnen, der in der Liebe der Weisheit und der Wahrheit keinen Namen hat, das Licht durch Mißdeutungswolken und Geheimnisnebel verdunkelt und das Wort Gottes vor der Welt verborgen und auf den Straßen verlacht worden ist, so haben wir Schüler und Verteidiger dieser Philosophie, der Wissenschaft des Lebens, mit Mary Baker-Glover vereinbart, daß sie uns jede Woche am Sonntag predige und unsere Versammlungen leite. Und wir geloben einander hierdurch und erklären und geben bekannt, daß wir übereingekommen sind, für die Dauer eines Jahres die hinter unsere Namen gesetzte Summe zu bezahlen, vorausgesetzt jedoch, daß die von uns bezahlten Beiträge zu keinem andern Zweck verwendet werden als zur Unterstützung der genannten Mary Baker-Glover, unserer Lehrerin und Unterweiserin, ferner für die Miete eines geeigneten Saales.«


Nun folgen die Zeichnungen der acht Schüler: Elisabeth M. Newhall zeichnet 1,50 Dollar, Daniel H. Spofford 2 Dollar, andere meist nur 1 Dollar oder 50 Cent. Von dieser Summe werden wöchentlich 5 Dollar Mary Baker-Glover für ihre Predigten gezahlt.


Eine Stammtischrunde, wäre man versucht, lächelnd zu sagen, angesichts derart winziger Beträge. Aber dieser 6. Juni 1875 bildet einen Markstein in der Geschichte der Mary Baker, in der Historie der Christian Science; von diesem Tage an hat die Umfärbung einer persönlichen Weltanschauung in Religion begonnen. Aus Moral Science ist über Nacht Christian Science geworden, aus einer Schule eine Gemeinschaft, aus einer herumziehenden Heildoktorin eine göttliche Verkünderin. Sie ist von nun ab nicht mehr eine in Lynn zufällig etablierte Naturheilerin, sondern eine durch göttliche Fügung zur Erleuchtung der Seelen Gesandte. Abermals hat Mary Baker einen ungeheuren Schritt weiter nach vorwärts getan, indem sie ihre bisher bloß geistige Macht in eine geistliche verwandelt. Äußerlich geschieht zunächst ein kaum Wahrnehmbares: jeden Sonntag hält Mary Baker-Glover in einem gemieteten Zimmer Predigt für ihre Studenten, eine Stunde, zwei Stunden lang, dann wird auf dem Harmonium ein frommes Lied gespielt. Damit ist die fromme Morgenfeier zu Ende. Es scheint sich also kaum anderes ereignet zu haben, als daß zu den tausend und aber tausend winzigen Sekten Amerikas eine neue hinzugekommen ist. In Wahrheit bedingt aber diese Umfärbung einer ärztlichen Heilmethode in einen religiösen Glaubenskult eine völlige Verwandlung aller Voraussetzungen: ein Prozeß vollzieht sich am lichten Tage und in wenigen Monaten, der sonst bei allen Religionen Jahrzehnte und Jahrhunderte brauchte, nämlich ein irdischer Glaube setzt sich selbst als göttliches und darum unwiderlegliches Dogma ein? ein Mensch verwandelt sich bei lebendigem Leibe in Mythos, in prophetisch-überweltliche Gestalt. Denn vom Augenblicke an, da sich die bloße Mind Cure, die Heilung durch Suggestion mit Kirchendienst bindet, da Mary Baker aus einem »practitioner«, aus einem Arzt am Leibe gleichzeitig zu einer Seelenpriesterin wird, Heilhandlung zu Kulthandlung, von diesem Augenblick an muß alles Irdische und Rationale in der Entstehung der Christian Science bewußt verschattet werden. Niemals darf eine Religion ihren Gläubigen als erfunden gelten von einem einzelnen irdischen Gehirn, immer muß sie von oberen, von unsichtbaren Welten niedergeschwebt, also »verkündet« worden sein; um des Glaubens willen muß sie behaupten, daß der von der Gemeinde Erwählte in Wahrheit ein von Gott selbst Erwählter sei. Die Kristallisation einer Kirche, die morphologische Verwandlung eines ursprünglich bloß hygienisch gedachten Gesetzes in göttliches Gebot, vollzieht sich hier so offen wie im chemischen Laboratorium. Zug um Zug können wir mitansehen, wie Legende die dokumentarische Geschichte der Mary Baker verdrängt, wie sich die Christian Science ihren Horeb der Verkündigung dichtet, ihren Tag von Damaskus, ihr Bethlehem und Jerusalem. Vor unsern Augen wird die »Entdeckung« der Science durch Mary Baker zu einer »Inspiration«, das von ihr verfaßte Buch zu einem heiligen, ihr atmendes Leben zu einem neuen Heilandswandel auf Erden.


Eine solche plötzliche Vergöttlichung erfordert selbstverständlich vor den Gläubigen einige nicht geringfügige Überarbeitungen in Mary Bakers Lebensbild: zunächst wird die Kindheit der zukünftigen Heiligen durch ein paar rührende Züge im Stil der Legenda aurea zielbewußt untermalt. Was muß eine echte und rechte Gottberufene schon als Kind gehört haben? Sie muß Stimmen gehört haben, wie Jeanne d’Arc und wie Maria die Botschaft des Engels. Mary Baker hat sie selbstverständlich (gemäß ihrer Selbstbiographie) vernommen, und zwar in ihrem achten Jahr. Nachts ertönt ihr der geheimnisvolle Anruf ihres Namens aus dem Weltall, und sie antwortet – die Achtjährige! – mit den Worten Samuels »Rede Herr, denn dein Knecht hört«. Eine zweite Analogie wird eingebaut zu Christi Gespräch mit den Schriftgelehrten: im zwölften Jahr vom Pastor geprüft, erschüttert das blonde, blasse Kind die ganze Gemeinde durch ihre frühe Weisheit. So vorsichtig präludiert, kann dann die bisherige »Entdeckung« der Wissenschaft leicht in eine »Erleuchtung« umgedichtet werden. Lange hat Mary Baker geschwankt, auf welches Datum sie den Augenblick der Begnadung ansetzen soll, bis sie sich endgültig entschließt, diese »Erleuchtung« auf das Jahr 1866 (vorsichtigerweise nach dem Ableben Quimbys) festzulegen. »Im Jahre 1866 entdeckte ich die Christus-Wissenschaft oder die göttlichen Gesetze des Lebens, der Wahrheit und der Liebe, und nannte meine Entdeckung Christian Science. Gott hatte mich viele Jahre hindurch gnädig für die Empfängnis dieser endgültigen Offenbarung des absoluten göttlichen Prinzips wissenschaftlich mentalen Heilens vorbereitet.« Die »Erleuchtung« geschieht nun nach der neu eingebauten nachträglichen Version folgendermaßen: Am 3. Februar 1866 gleitet Mary Baker (damals noch Patterson) in Lynn auf dem Pflaster aus, fällt hin und wird bewußtlos aufgehoben. Man bringt sie in die Wohnung, der Arzt erklärt (angeblich) ihren Fall für verzweifelt. Am dritten Tage, sobald der Arzt weggegangen ist, lehnt sie die Arznei ab und erhebt (nach ihren eigenen Worten) »ihr Herz zu Gott«. Es ist ein Sonntag, sie schickt die im Zimmer Anwesenden hinaus, nimmt die Bibel und schlägt sie auf, ihr Blick fällt auf die Heilung des Gichtbrüchigen durch Jesus. Sofort empfindet sie »den verlorenen Klang der Wahrheit aus der göttlichen Harmonie«, ehrfurchtsvoll erkennt sie das Prinzip seines christlichen Beispiels am Kreuze, als er ablehnte, den Essig und die Galle zu trinken, um die Qualen der Kreuzigung zu lindern. Sie erkennt Gott von Angesicht zu Angesicht, sie »berührt und handhabt ungesehene Dinge«, sie versteht diesen ihren Zustand als Kind Gottes, sie hört, wie er ihr zuspricht: »Meine Tochter, stehe auf!« Und sofort steht Mary Baker auf, kleidet sich an, tritt in das Wohnzimmer, wo ein Geistlicher und einige Freunde warten, schon tragisch bereit, ihr den letzten Trost auf Erden zu bringen. Nun stehen sie bestürzt vor dem auferstandenen Lazarus. Erst an diesem selbsterlebten Wunder habe sie, Mary Baker, in blitzhafter Inspiration das Universalprinzip des schöpferischen Glaubens erkannt.


Dieser schönen Legende widerspricht leider das eidlich beim Amte beschworene Zeugnis des Arztes, und noch drastischer erledigt sie ein handschriftlicher Brief Mary Baker-Eddys aus dem Frühjahr 1866, in dem sie noch Wochen später dem Nachfolger Quimbys, Dr. Dresser, verzweifelt von jenem Sturz und den schrecklichen Folgen für ihre Nerven schreibt und in dem sie (die angeblich längst Geheilte) ihn stürmisch anfleht, ihr nach der Quimby-Methode zu helfen. Aber Quimby? Wer ist denn Quimby? Dieser Name ist seit der Umfabrikation der Christian-Science-Entdeckung in eine überirdische Sendung mit einmal verschwunden. In der ersten Ausgabe von »Science and Health« gilt ihrem Wohltäter und Lehrer noch eine matte zufällige Zeile, dann aber leugnet mit verbissenen Zähnen Mary Baker bis zum letzten Atemzug, jemals von Quimby irgendeine Anregung empfangen zu haben. Vergebens, daß man ihr mit ihren eigenen hymnischen Artikeln aus dem »Portland Courier« auf den Leib rückt, vergebens, daß man ihre Dankbriefe veröffentlicht und mit photographischen Proben nachweist, ihre ersten Lehrmanuskripte seien nichts als glatte Kopieen seiner Texte, – auf eine Frau, die unsere ganze Tatsachenwelt als »error« erklärt, macht kein Dokument Eindruck. Zuerst leugnet sie, überhaupt jemals seine Manuskripte verwertet zu haben. Und schließlich, in die Enge gedrängt, stellt sie die Tatsachen kühn auf den Kopf und behauptet, nicht Quimby habe sie, sondern sie habe Quimby über die neue Wissenschaft aufgeklärt. Nur Gott, nur seiner Gnade allein dankte sie ihre Entdeckung. Und kein Gläubiger verdiene diesen Namen, der an diesem Dogma zu zweifeln wage.


Ein Jahr, zwei Jahre, und die verblüffendste Verwandlung hat sich vollzogen: aus einer Laienmethode, der ihre »Entdeckerin« noch vor wenigen Monaten naiv ehrlich nachrühmte, daß man »mit ihr in kurzer Zeit sich ein gutes Einkommen schaffen könne«, ist im Handumdrehen göttliche Botschaft geworden, aus der fünfzigprozentigen Teilhaberin des Kartonagedoktors Kennedy eine inspirierte Prophetin. Mary Bakers unersättliches Selbstgefühl stellt sich von nun ab hinter einen unangreifbaren Wall, indem sie fürderhin jeden ihrer Wünsche einfach als göttliches Diktat ausgibt und auch für das verwegenste Verlangen Gehorsam im Namen ihrer himmlischen Sendung fordert. Jetzt heißt es zum Beispiel nicht mehr, ein Lehrkurs bei ihr koste dreihundert Dollar in guten marktgängigen Banknoten, sondern (wörtlich!!) schreibt sie: »Als Gott mich veranlaßte, einen Preis für meinen Unterricht im christlich-wissenschaftlichen Gemütsheilen festzusetzen«, habe »eine seltsame Vorsehung sie dazu geführt, diese Gebühr anzunehmen«. Ihr Buch (dessen Autorrechte sie grimmig genau einfordert) dankt sie nicht ihrem eigenen irdischen Verstande, sondern göttlicher Eingebung. »Nie würde ich wagen, zu behaupten, ich hätte jenes Werk geschrieben.« Widerstand gegen ihre Person bedeutet folgerichtig von nun ab Auflehnung gegen das »Göttliche Prinzip«, das sie auserwählt. Durch diesen Machtzuwachs ist über Nacht die Wirkung ihrer Persönlichkeit unermeßlich gesteigert: riesenhaft kann sich nun ihre Autorität aufrecken. Berauscht von dem neuen Gefühl ihrer Sendung, berauscht sie immer heißer ihre Hörer. Weil sie an sich selbst als ein Wunder glaubt, schafft sie sich Glauben: ein knappes Jahrzehnt noch, und Hunderttausende werden ihrem Willen gewonnen sein.

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Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.