Die ersten Stunden des Krieges von 1914
Jener Sommer 1914 wäre auch ohne das Verhängnis, das er über die europäische Erde brachte, uns unvergeßlich geblieben. Denn selten habe ich einen erlebt, der üppiger, schöner, und fast möchte ich sagen, sommerlicher gewesen. Seidenblau der Himmel durch Tage und Tage, weich und doch nicht schwül die Luft, duftig und warm die Wiesen, dunkel und füllig die Wälder mit ihrem jungen Grün; heute noch, wenn ich das Wort Sommer ausspreche, muß ich unwillkürlich an jene strahlenden Julitage denken, die ich damals in Baden bei Wien verbrachte. Ich hatte mich zurückgezogen, um in diesem kleinen romantischen Städtchen, das Beethoven sich so gerne zum Sommeraufenthalt wählte, diesen Monat ganz konzentriert der Arbeit zu widmen und dann den Rest des Sommers bei Verhaeren, dem verehrten Freunde, in seinem kleinen Landhaus in Belgien zu verbringen. In Baden ist es nicht nötig, das kleine Städtchen zu verlassen, um der Landschaft sich zu erfreuen. Der schöne, hügelige Wald dringt unmerklich zwischen die niederen biedermeierischen Häuser, die die Einfachheit und Anmut der Beethovenschen Zeit bewahrt haben. Man sitzt in Cafés und Restaurants überall im Freien, kann sich je nach Belieben unter das heitere Volk der Kurgäste mengen, die im Kurpark dort Korso abhalten oder sich auf den einsamen Wegen verlieren.
Schon am Vorabend jenes 29. Juni, den das katholische Land Österreich als ›Peter und Paul‹ immer feiertäglich hielt, waren viele Gäste aus Wien gekommen. In hellen Sommerkleidern, fröhlich und unbesorgt, wogte die Menge im Kurpark vor der Musik. Der Tag war lind; wolkenlos stand der Himmel über den breiten Kastanienbäumen, und es war ein rechter Tag des Glücklichseins. Nun kamen für die Menschen, die Kinder bald die Ferien, und sie nahmen mit diesem ersten sommerlichen Feiertag gleichsam schon den ganzen Sommer voraus mit seiner seligen Luft, seinem satten Grün und seinem Vergessen aller täglichen Sorgen. Ich saß damals weiter ab vom Gedränge des Kurparks und las ein Buch – ich weiß heute noch, welches es war: Mereschkowskijs ›Tolstoi und Dostojewski‹ – las es aufmerksam und gespannt. Aber doch war der Wind zwischen den Bäumen, das Gezwitscher der Vögel und die vom Kurpark herschwebende Musik gleichzeitig in meinem Bewußtsein. Ich hörte deutlich die Melodien mit, ohne dadurch gestört zu sein, denn unser Ohr ist ja so anpassungsfähig, daß ein andauerndes Geräusch, eine donnernde Straße, ein rauschender Bach nach wenigen Minuten sich völlig dem Bewußtsein eingepaßt und im Gegenteil nur ein unerwartetes Stocken im Rhythmus uns aufhorchen läßt.
So hielt ich unwillkürlich im Lesen inne, als plötzlich mitten im Takt die Musik abbrach. Ich wußte nicht, welches Musikstück es war, das die Kurkapelle gespielt hatte. Ich spürte nur, daß die Musik mit einemmal aussetzte. Instinktiv sah ich vom Buche auf. Auch die Menge, die als eine einzige flutende helle Masse zwischen den Bäumen promenierte, schien sich zu verändern; auch sie stockte plötzlich in ihrem Auf und Ab. Es mußte sich etwas ereignet haben. Ich stand auf und sah, daß die Musiker den Musikpavillon verließen. Auch dies war sonderbar, denn das Kurkonzert dauerte sonst eine Stunde oder länger. Irgend etwas mußte dieses brüske Abbrechen veranlaßt haben; nähertretend bemerkte ich, daß die Menschen sich in erregten Gruppen vor dem Musikpavillon um eine offenbar soeben angeheftete Mitteilung zusammendrängten. Es war, wie ich nach wenigen Minuten erfuhr, die Depesche, daß Seine kaiserliche Hoheit, der Thronfolger Franz Ferdinand und seine Gemahlin, die zu den Manövern nach Bosnien gefahren waren, daselbst einem politischen Meuchelmord zum Opfer gefallen seien.
Immer mehr Menschen scharten sich um diesen Anschlag. Einer sagte dem andern die unerwartete Nachricht weiter. Aber um der Wahrheit die Ehre zu geben: keine sonderliche Erschütterung oder Erbitterung war von den Gesichtern abzulesen. Denn der Thronfolger war keineswegs beliebt gewesen. Noch von meiner frühesten Kindheit erinnere ich mich an jenen andern Tag, als Kronprinz Rudolf, der einzige Sohn des Kaisers, in Mayerling erschossen aufgefunden wurde. Damals war die ganze Stadt in einem Aufruhr ergriffener Erregung gewesen, ungeheure Massen hatten sich gedrängt, um die Aufbahrung zu sehen, überwältigend sich das Mitgefühl für den Kaiser und der Schrecken geäußert, daß sein einziger Sohn und Erbe, dem man als einem fortschrittlichen und menschlich ungemein sympathischen Habsburger die größten Erwartungen entgegengebracht hatte, im besten Mannesalter dahingegangen war. Franz Ferdinand dagegen fehlte gerade das, was in Österreich für eine rechte Popularität unermeßlich wichtig war: persönliche Liebenswürdigkeit, menschlicher Charme und Umgänglichkeit der Formen. Ich hatte ihn oftmals im Theater beobachtet. Da saß er in seiner Loge, mächtig und breit, mit kalten, starren Augen, ohne einen einzigen freundlichen Blick auf das Publikum zu richten oder die Künstler durch herzlichen Beifall zu ermutigen. Nie sah man ihn lächeln, keine Photographie zeigte ihn in aufgelockerter Haltung. Er hatte keinen Sinn für Musik, keinen Sinn für Humor, und ebenso unfreundlich blickte seine Frau. Um diese beiden stand eine eisige Luft; man wußte, daß sie keine Freunde hatten, wußte, daß der alte Kaiser ihn von Herzen haßte, weil er seine Thronfolger-Ungeduld, zur Herrschaft zu kommen, nicht taktvoll zu verbergen verstand. Mein fast mystisches Vorgefühl, daß von diesem Mann mit dem Bulldoggnacken und den starren, kalten Augen irgendein Unglück ausgehen würde, war also durchaus kein persönlicher, sondern weit in der ganzen Nation verbreitet; die Nachricht von seiner Ermordung erregte deshalb keine tiefe Anteilnahme. Zwei Stunden später konnte man kein Anzeichen wirklicher Trauer mehr bemerken. Die Leute plauderten und lachten, spät abends spielte in den Lokalen wieder die Musik. Es gab viele an diesem Tag in Österreich, die im stillen heimlich aufatmeten, daß dieser Erbe des alten Kaisers zugunsten des ungleich beliebteren jungen Erzherzogs Karl erledigt war.
Am nächsten Tage brachten die Zeitungen selbstverständlich ausführliche Nekrologe und gaben der Entrüstung über das Attentat gebührenden Ausdruck. Nichts aber deutete an, daß dies Ereignis zu einer politischen Aktion gegen Serbien ausgewertet werden sollte. Für das Kaiserhaus schuf dieser Tod zunächst eine ganz andere Sorge, die des Zeremoniells seiner Beerdigung. Nach seinem Rang als Thronfolger und insbesondere, da er in Ausübung seines Dienstes für die Monarchie gestorben war, wäre sein Platz selbstverständlich in der Kapuzinergruft gewesen, der historischen Begräbnisstätte der Habsburger. Aber Franz Ferdinand hatte nach langen, erbitterten Kämpfen gegen die kaiserliche Familie eine Gräfin Chotek geheiratet, eine hohe Aristokratin zwar, aber nach dem geheimnisvollen vielhundertjährigen Hausgesetz der Habsburger ihm nicht ebenbürtig, und die Erzherzoginnen behaupteten bei den großen Zeremonien gegenüber der Thronfolgersgattin, deren Kinder nicht erbberechtigt waren, hartnäckig den Vortritt. Aber selbst gegen die Tote wandte sich noch der höfische Hochmut. Wie? – eine Gräfin Chotek in der habsburgischen Kaisergruft beisetzen? Nein, das durfte nicht geschehen! Eine mächtige Intrige begann; die Erzherzoginnen liefen Sturm bei dem alten Kaiser. Während man von dem Volk offiziell tiefe Trauer forderte, spielten in der Hofburg die Rankünen wild durcheinander, und wie gewöhnlich behielt der Tote unrecht. Die Zeremonienmeister erfanden die Behauptung, es sei der eigene Wunsch des Verstorbenen gewesen, in Artstetten, einem kleinen österreichischen Provinzort, begraben zu werden, und mit dieser pseudopietätvollen Ausflucht konnte man sich um die öffentliche Aufbahrung, den Trauerzug und alle damit verbundenen Rangstreitigkeiten sacht herumdrücken. Die Särge der beiden Ermordeten wurden still nach Artstetten gebracht und dort beigesetzt. Wien, dessen ewiger Schaulust man damit einen großen Anlaß genommen, begann bereits den tragischen Vorfall zu vergessen. Schließlich war man in Österreich durch den gewaltsamen Tod der Kaiserin Elisabeth, des Kronprinzen und die skandalöse Flucht von allerhand Mitgliedern des Kaiserhauses längst an den Gedanken gewöhnt, daß der alte Kaiser einsam und unerschütterlich sein tantalidisches Haus überleben würde. Ein paar Wochen noch, und der Name und die Gestalt Franz Ferdinands wären für immer aus der Geschichte verschwunden.
Aber da begannen nach ungefähr einer Woche plötzlich Plänkeleien in den Zeitungen, deren Crescendo zu gleichzeitig war, um ganz zufällig zu sein. Die serbische Regierung wurde des Einverständnisses beschuldigt, und es wurde mit halben Worten angedeutet, daß Österreich diesen Mord seines – angeblich so geliebten – Thronfolgers nicht ungesühnt lassen dürfe. Man konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, daß sich irgendeine Aktion publizistisch vorbereite, aber niemand dachte an Krieg. Weder Banken noch Geschäfte und Privatleute änderten ihre Dispositionen. Was ging es uns an, dieses ewige Geplänkel mit Serbien, das, wie wir alle wußten, im Grunde nur über ein paar Handelsverträge wegen serbischen Schweineexports entstanden war? Meine Koffer waren für die Reise nach Belgien zu Verhaeren gepackt, meine Arbeit in gutem Zuge, was hatte der tote Erzherzog in seinem Sarkophag zu tun mit meinem Leben? Der Sommer war schön wie nie und versprach noch schöner zu werden; sorglos blickten wir alle in die Welt. Ich erinnere mich, wie ich noch am letzten Tage in Baden mit einem Freunde durch die Weinberge ging und ein alter Weinbauer zu uns sagte: »So ein’ Sommer wie den haben wir schon lange nicht gehabt. Wenn’s so bleibt, dann kriegen wir einen Wein wie nie. An den Sommer werden die Leut’ noch denken!«
Aber er wußte nicht, der alte Mann in seinem blauen Küferrock, welch ein grauenhaft wahres Wort er damit aussprach.
Auch in Le Coq, dem kleinen Seebad nahe bei Ostende, wo ich zwei Wochen verbringen wollte, ehe ich wie alljährlich Gast in dem kleinen Landhause Verhaerens war, herrschte die gleiche Sorglosigkeit. Die Urlaubsfreudigen lagen unter ihren farbigen Zelten am Strande oder badeten, die Kinder ließen Drachen steigen, vor den Kaffeehäusern tanzten die jungen Leute auf der Digue. Alle denkbaren Nationen fanden sich friedlich zusammen, man hörte insbesondere viel deutsch sprechen, denn wie alljährlich entsandte das nahe Rheinland seine sommerlichen Feriengäste am liebsten an den belgischen Strand. Die einzige Störung kam von den Zeitungsjungen, die, um den Verkauf zu fördern, die drohenden Überschriften der Pariser Blätter laut ausbrüllten: »L’Autriche provoque la Russie«, »L’Allemagne prépare la mobilisation«. Man sah, wie sich die Gesichter der Leute, wenn sie die Zeitungen kauften, verdüsterten, aber immer bloß für ein paar Minuten. Schließlich kannten wir diese diplomatischen Konflikte schon seit Jahren; sie waren immer in letzter Stunde, bevor es ernst wurde, glücklich beigelegt worden. Warum nicht auch diesmal? Eine halbe Stunde später sah man dieselben Leute schon wieder vergnügt prustend im Wasser plätschern, die Drachen stiegen, die Möwen flatterten, und die Sonne lachte hell und warm über dem friedlichen Land.
Aber die schlimmen Nachrichten häuften sich und wurden immer bedrohlicher. Erst das Ultimatum Österreichs an Serbien, die ausweichende Antwort darauf, Telegramme zwischen den Monarchen und schließlich die kaum mehr verborgenen Mobilisationen. Es hielt mich nicht mehr länger in dem engen, abgelegenen Ort. Ich fuhr jeden Tag mit der kleinen elektrischen Bahn nach Ostende hinüber, um den Nachrichten näher zu sein; und sie wurden immer schlimmer. Noch badeten die Leute, noch waren die Hotels voll, noch drängten sich auf der Digue promenierende, lachende, schwatzende Sommergäste. Aber zum erstenmal schob sich etwas Neues dazwischen. Plötzlich sah man belgische Soldaten auftauchen, die sonst nie den Strand betraten. Maschinengewehre wurden – eine sonderbare Eigenheit der belgischen Armee – von Hunden auf kleinen Wagen gezogen.
Ich saß damals in einem Café mit einigen belgischen Freunden zusammen, einem jungen Maler und dem Dichter Crommelynck. Wir hatten den Nachmittag bei James Ensor verbracht, dem größten modernen Maler Belgiens, einem sehr sonderbaren, einsiedlerischen und verschlossenen Mann, der viel stolzer war auf die kleinen schlechten Polkas und Walzer, die er für Militärkapellen komponierte, als auf seine phantastischen, in schimmernden Farben entworfenen Gemälde. Er hatte uns seine Werke gezeigt, eigentlich ziemlich widerwillig, denn ihn bedrückte skurrilerweise der Gedanke, es möchte ihm jemand eines abkaufen. Sein Traum war eigentlich, wie mir die Freunde lachend erzählten, sie teuer zu verkaufen, aber doch zugleich dann alle behalten zu dürfen, denn er hing mit derselben Gier am Gelde wie an jedem seiner Werke. Immer, wenn er eines abgegeben, blieb er ein paar Tage verzweifelt. Mit all seinen merkwürdigen Schrullen hatte dieser geniale Harpagon uns heiter gemacht; und als gerade wieder so ein Trupp Soldaten mit dem hundebespannten Maschinengewehr vorüberzog, stand einer von uns auf und streichelte den Hund, sehr zum Ärger des begleitenden Offiziers, der befürchtete, daß durch diese Liebkosung eines kriegerischen Objekts die Würde einer militärischen Institution geschädigt werden könnte. »Wozu dieses dumme Herummarschieren?« murrte einer in unserem Kreise. Aber ein anderer antwortete erregt: »Man muß doch seine Vorkehrungen treffen. Es heißt, daß die Deutschen im Falle eines Krieges bei uns durchbrechen wollen.« »Ausgeschlossen!« sagte ich mit ehrlicher Überzeugung, denn in jener alten Welt glaubte man noch an die Heiligkeit von Verträgen. »Wenn etwas passieren sollte und Frankreich und Deutschland sich gegenseitig bis auf den letzten Mann vernichten, werdet ihr Belgier ruhig im Trockenen sitzen!« Aber unser Pessimist gab nicht nach. Das müsse einen Sinn haben, sagte er, wenn man in Belgien solche Maßnahmen anordne. Schon vor Jahren hätte man Wind von einem geheimen Plan des deutschen Generalstabs bekommen, im Falle einer Attacke auf Frankreich trotz allen beschworenen Verträgen in Belgien durchzustoßen. Aber ich gab gleichfalls nicht nach. Mir schien es völlig absurd, daß, während Tausende und Zehntausende von Deutschen hier lässig und fröhlich die Gastfreundschaft dieses kleinen, unbeteiligten Landes genossen, an der Grenze eine Armee einbruchsbereit stehen sollte. »Unsinn!« sagte ich. »Hier an dieser Laterne könnt ihr mich aufhängen, wenn die Deutschen in Belgien einmarschieren!« Ich muß meinen Freunden noch heute dankbar sein, daß sie mich später nicht beim Wort genommen haben.
Aber dann kamen die allerletzten kritischen Julitage und jede Stunde eine andere widersprechende Nachricht, die Telegramme des Kaisers Wilhelm an den Zaren, die Telegramme des Zaren an Kaiser Wilhelm, die Kriegserklärung Österreichs an Serbien, die Ermordung von Jaurès. Man spürte, es wurde ernst. Mit einemmal wehte ein kalter Wind von Angst über den Strand und fegte ihn leer. Zu Tausenden verließen die Leute die Hotels, die Züge wurden gestürmt, selbst die Gutgläubigsten begannen jetzt schleunigst ihre Koffer zu packen. Auch ich sicherte mir, kaum daß ich die Nachricht von der österreichischen Kriegserklärung an Serbien hörte, ein Billett, und es war wahrhaftig Zeit. Denn dieser Ostendeexpreß wurde der letzte Zug, der aus Belgien nach Deutschland ging. Wir standen in den Gängen, aufgeregt und voll Ungeduld, jeder sprach mit dem andern. Niemand vermochte ruhig sitzen zu bleiben oder zu lesen, an jeder Station stürzte man heraus, um neue Nachrichten zu holen, voll der geheimnisvollen Hoffnung, daß irgend eine entschlossene Hand das entfesselte Schicksal noch zurückreißen könnte. Noch immer glaubte man nicht an den Krieg und noch weniger an einen Einbruch in Belgien; man konnte es nicht glauben, weil man einen solchen Irrwitz nicht glauben wollte. Allmählich näherte der Zug sich der Grenze, wir passierten Verviers, die belgische Grenzstation. Deutsche Schaffner stiegen ein, in zehn Minuten sollten wir auf deutschem Gebiet sein.
Aber auf dem halben Wege nach Herbesthal, der ersten deutschen Station, blieb plötzlich der Zug auf freiem Felde stehen. Wir drängten in den Gängen zu den Fenstern. Was war geschehen? Und da sah ich im Dunklen einen Lastzug nach dem andern uns entgegenkommen, offene Waggons, mit Plachen bedeckt, unter denen ich undeutlich die drohenden Formen von Kanonen zu erkennen glaubte. Mir stockte das Herz. Das mußte der Vormarsch der deutschen Armee sein. Aber vielleicht, tröstete ich mich, war es doch nur eine Schutzmaßnahme, nur eine Drohung mit Mobilisation und nicht die Mobilisation selbst. Immer wird ja in den Stunden der Gefahr der Wille, noch einmal zu hoffen, riesengroß. Endlich kam das Signal ›Strecke frei‹ der Zug rollte weiter und lief in der Station Herbesthal ein. Ich sprang mit einem Ruck die Stufen hinunter, eine Zeitung zu holen und Erkundigungen einzuziehen. Aber der Bahnhof war besetzt von Militär. Als ich in den Wartesaal eintreten wollte, stand vor der verschlossenen Tür abwehrend ein Beamter, weißbärtig und streng: niemand dürfe die Bahnhofsräume betreten. Aber ich hatte schon hinter den sorgfältig verhängten Glasscheiben der Tür das leise Klirren und Klinkern von Säbeln, das harte Niederstellen von Kolben gehört. Kein Zweifel, das Ungeheuerliche war im Gang, der deutsche Einbruch in Belgien wider aller Satzung des Völkerrechts. Schaudernd stieg ich wieder in den Zug und fuhr weiter, nach Österreich zurück. Jetzt gab es keinen Zweifel mehr: ich fuhr in den Krieg.
Am nächsten Morgen in Österreich! In jeder Station klebten die Anschläge, welche die allgemeine Mobilisation angekündigt hatten. Die Züge füllten sich mit frisch eingerückten Rekruten, Fahnen wehten. Musik dröhnte, in Wien fand ich die ganze Stadt in einem Taumel. Der erste Schrecken über den Krieg, den niemand gewollt, nicht die Völker, nicht die Regierung, diesen Krieg, der den Diplomaten, die damit spielten und blufften, gegen ihre eigene Absicht aus der ungeschickten Hand gerutscht war, war umgeschlagen in einen plötzlichen Enthusiasmus. Aufzüge formten sich in den Straßen, plötzlich loderten überall Fahnen, Bänder und Musik, die jungen Rekruten marschierten im Triumph dahin, und ihre Gesichter waren hell, weil man ihnen zujubelte, ihnen, den kleinen Menschen des Alltags, die sonst niemand beachtet und gefeiert.
Um der Wahrheit die Ehre zu geben, muß ich bekennen, daß in diesem ersten Aufbruch der Massen etwas Großartiges, Hinreißendes und sogar Verführerisches lag, dem man sich schwer entziehen konnte. Und trotz allem Haß und Abscheu gegen den Krieg möchte ich die Erinnerung an diese ersten Tage in meinem Leben nicht missen: Wie nie fühlten die Tausende und Hunderttausende Menschen, was sie besser im Frieden hätten fühlen sollen: daß sie zusammengehörten. Eine Stadt von zwei Millionen, ein Land von fast fünfzig Millionen empfanden in dieser Stunde, daß sie Weltgeschichte, daß sie einen nie wiederkehrenden Augenblick miterlebten und daß jeder aufgerufen war, sein winziges Ich in diese glühende Masse zu schleudern, um sich dort von aller Eigensucht zu läutern. Alle Unterschiede der Stände, der Sprachen, der Klassen, der Religionen waren überflutet für diesen einen Augenblick von dem strömenden Gefühl der Brüderlichkeit. Fremde sprachen sich an auf der Straße, Menschen, die sich jahrelang auswichen, schüttelten einander die Hände, überall sah man belebte Gesichter. Jeder einzelne erlebte eine Steigerung seines Ichs, er war nicht mehr der isolierte Mensch von früher, er war eingetan in eine Masse, er war Volk, und seine Person, seine sonst unbeachtete Person hatte einen Sinn bekommen. Der kleine Postbeamte, der sonst von früh bis nachts Briefe sortierte, immer wieder sortierte, von Montag bis Samstag ununterbrochen sortierte, der Schreiber, der Schuster hatte plötzlich eine andere, eine romantische Möglichkeit in seinem Leben: er konnte Held werden, und jeden, der eine Uniform trug, feierten schon die Frauen, grüßten ehrfürchtig die Zurückbleibenden im voraus mit diesem romantischen Namen. Sie anerkannten die unbekannte Macht, die sie aus ihrem Alltag heraushob; selbst die Trauer der Mütter, die Angst der Frauen schämte sich in diesen Stunden des ersten Überschwangs, ihr doch allzu natürliches Gefühl zu bekunden. Vielleicht aber war in diesem Rausch noch eine tiefere, eine geheimnisvollere Macht am Werke. So gewaltig, so plötzlich brach diese Sturzwelle über die Menschheit herein, daß sie, die Oberfläche überschäumend, die dunklen, die unbewußten Urtriebe und Instinkte des Menschtiers nach oben riß, das, was Freud tiefsehend ›die Unlust an der Kultur‹ nannte, das Verlangen, einmal aus der bürgerlichen Welt der Gesetze und Paragraphen auszubrechen und die uralten Blutinstinkte auszutoben. Vielleicht hatten auch diese dunklen Mächte ihren Teil an dem wilden Rausch, in dem alles gemischt war, Opferfreude und Alkohol, Abenteuerlust und reine Gläubigkeit, die alte Magie der Fahnen und der patriotischen Worte – diesem unheimlichen, in Worten kaum zu schildernden Rausch von Millionen, der für einen Augenblick dem größten Verbrechen unserer Zeit einen wilden und fast hinreißenden Schwung gab.
Die Generation von heute, die nur den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs mitangesehen, fragt sich vielleicht: warum haben wir das nicht erlebt? Warum loderten 1939 die Massen nicht mehr in gleicher Begeisterung auf wie 1914? Warum gehorchten sie dem Anruf nur ernst und entschlossen, schweigsam und fatalistisch? Galt es nicht dasselbe, ging es eigentlich nicht noch um mehr, um Heiligeres, um Höheres in diesem unseren gegenwärtigen Kriege, der ein Krieg der Ideen war und nicht bloß einer um Grenzen und Kolonien?
Die Antwort ist einfach: weil unsere Welt von 1939 nicht mehr über so viel kindlich-naive Gläubigkeit verfügte wie jene von 1914. Damals vertraute das Volk noch unbedenklich seinen Autoritäten; niemand in Österreich hätte den Gedanken gewagt, der allverehrte Landesvater Kaiser Franz Joseph hätte in seinem vierundachtzigsten Jahr sein Volk zum Kampf aufgerufen ohne äußerste Nötigung, er hätte das Blutopfer gefordert, wenn nicht böse, tückische, verbrecherische Gegner den Frieden des Reichs bedrohten. Die Deutschen wiederum hatten die Telegramme ihres Kaisers an den Zaren gelesen, in denen er um den Frieden kämpfte; ein gewaltiger Respekt vor den ›Oberen‹, vor den Ministern, vor den Diplomaten und vor ihrer Einsicht, ihrer Ehrlichkeit beseelte noch den einfachen Mann. Wenn es zum Kriege gekommen war, dann konnte es nur gegen den Willen ihrer eigenen Staatsmänner geschehen sein; sie selbst konnten keine Schuld haben, niemand im ganzen Lande hatte die geringste Schuld. Also mußten drüben im anderen Lande die Verbrecher, die Kriegstreiber sein; es war Notwehr, daß man zur Waffe griff, Notwehr gegen einen schurkischen und tückischen Feind, der ohne den geringsten Grund das friedliche Österreich und Deutschland ›überfiel‹. 1939 dagegen war dieser fast religiöse Glaube an die Ehrlichkeit oder zumindest an die Fähigkeit der eigenen Regierung in ganz Europa schon geschwunden. Man verachtete die Diplomatie, seit man erbittert gesehen, wie sie in Versailles die Möglichkeit eines dauernden Friedens verraten; die Völker erinnerten sich zu deutlich, wie schamlos man sie um die Versprechungen der Abrüstung, der Abschaffung der Geheimdiplomatie betrogen. Im Grunde hatte man 1939 vor keinem einzigen der Staatsmänner Respekt, und niemand vertraute ihnen gläubig sein Schicksal an. Der kleinste französische Straßenarbeiter spottete über Daladier, in England war seit München – ›peace for our time!‹ – jedes Vertrauen in die Weitsicht Chamberlains geschwunden, in Italien, in Deutschland sahen die Massen voll Angst auf Mussolini und Hitler: wohin wird er uns wieder treiben? Freilich, man konnte sich nicht wehren, es ging um das Vaterland: so nahmen die Soldaten das Gewehr, so ließen die Frauen ihre Kinder ziehen, aber nicht mehr wie einst in dem unverbrüchlichen Glauben, das Opfer sei unvermeidlich gewesen. Man gehorchte, aber man jubelte nicht. Man ging an die Front, aber man träumte nicht mehr, ein Held zu sein; schon fühlten die Völker und die einzelnen, daß sie nur Opfer waren entweder irdischer, politischer Torheit oder einer unfaßbaren und böswilligen Schicksalsgewalt.
Und dann, was wußten 1914, nach fast einem halben Jahrhundert des Friedens, die großen Massen vom Kriege? Sie kannten ihn nicht, sie hatten kaum je an ihn gedacht. Er war eine Legende, und gerade die Ferne hatte ihn heroisch und romantisch gemacht. Sie sahen ihn immer noch aus der Perspektive der Schullesebücher und der Bilder in den Galerien: blendende Reiterattacken in blitzblanken Uniformen, der tödliche Schuß jeweils großmütig mitten durchs Herz, der ganze Feldzug ein schmetternder Siegesmarsch – »Weihnachten sind wir wieder zu Hause«, riefen im August 1914 die Rekruten lachend den Müttern zu. Wer in Dorf und Stadt erinnerte sich noch an den ›wirklichen‹ Krieg? Bestenfalls ein paar Greise, die 1866, gegen Preußen, den Bundesgenossen von diesmal, gekämpft, und was für ein geschwinder, unblutiger, ferner Krieg war das gewesen, ein Feldzug von drei Wochen und ohne viel Opfer zu Ende, ehe man erst Atem geholt! Ein rascher Ausflug ins Romantische, ein wildes und männliches Abenteuer – so malte sich der Krieg 1914 m der Vorstellung des einfachen Mannes, und die jungen Menschen hatten sogar ehrliche Angst, sie könnten das Wundervoll-Erregende in ihrem Leben versäumen; deshalb drängten sie ungestüm zu den Fahnen, deshalb jubelten und sangen sie in den Zügen, die sie zur Schlachtbank führten, wild und fiebernd strömte die rote Blutwelle durch die Adern des ganzen Reichs. Die Generation von 1939 aber kannte den Krieg. Sie täuschte sich nicht mehr. Sie wußte, daß er nicht romantisch war, sondern barbarisch. Sie wußte, daß er Jahre und Jahre dauern würde, unersetzliche Spanne des Lebens. Sie wußte, daß man nicht mit Eichenlaub und bunten Bändern geschmückt dem Feind entgegenstürmte, sondern verlaust und halb verdurstet wochenlang in Gräben und Quartieren lungerte, daß man zerschmettert und verstümmelt wurde aus der Ferne, ohne dem Gegner je ins Auge gesehen zu haben. Man kannte im voraus aus den Zeitungen, aus den Kinos die neuen technisch-teuflischen Vernichtungskünste, man wußte, daß die riesigen Tanks auf ihrem Weg den Verwundeten zermalmten und die Aeroplane Frauen und Kinder in ihren Betten zerschmetterten, man wußte, daß ein Weltkrieg 1939 dank seiner seelenlosen Maschinisierung tausendmal gemeiner, bestialischer, unmenschlicher sein würde als alle früheren Kriege der Menschheit. Kein einziger der Generation von 1939 glaubte mehr an eine von Gott gewollte Gerechtigkeit des Krieges, und schlimmer: man glaubte nicht einmal mehr an die Gerechtigkeit und Dauerhaftigkeit des Friedens, den er erkämpfen sollte. Denn man erinnerte sich zu deutlich noch an alle die Enttäuschungen, die der letzte gebracht: Verelendung statt Bereicherung, Verbitterung statt Befriedigung, Hungersnot, Geldentwertung, Revolten, Verlust der bürgerlichen Freiheit, Versklavung an den Staat, eine nervenzerstörende Unsicherheit, das Mißtrauen aller gegen alle.
Das schuf den Unterschied. Der Krieg von 1939 hatte einen geistigen Sinn, es ging um die Freiheit, um die Bewahrung eines moralischen Guts; und um einen Sinn zu kämpfen, macht den Menschen hart und entschlossen. Der Krieg von 1914 dagegen wußte nichts von den Wirklichkeiten, er diente noch einem Wahn, dem Traum einer besseren, einer gerechten und friedlichen Welt. Und nur der Wahn, nicht das Wissen macht glücklich. Darum gingen, darum jubelten damals die Opfer trunken der Schlachtbank entgegen, mit Blumen bekränzt und mit Eichenlaub auf den Helmen, und die Straßen dröhnten und leuchteten wie bei einem Fest.
Daß ich selbst diesem plötzlichen Rausch des Patriotismus nicht erlag, hatte ich keineswegs einer besonderen Nüchternheit oder Klarsichtigkeit zu verdanken, sondern der bisherigen Form meines Lebens. Ich war zwei Tage vorher noch im ›Feindesland‹ gewesen und hatte mich somit überzeugen können, daß die großen Massen in Belgien genau so friedlich und ahnungslos gewesen wie unsere eigenen Leute. Außerdem hatte ich zu lange kosmopolitisch gelebt, um über Nacht eine Welt plötzlich hassen zu können, die ebenso die meine war wie mein Vaterland. Ich hatte seit Jahren der Politik mißtraut und gerade in den letzten Jahren in unzähligen Gesprächen mit meinen französischen, meinen italienischen Freunden den Widersinn einer kriegerischen Möglichkeit erörtert. So war ich gewissermaßen geimpft mit Mißtrauen gegen die Infektion patriotischer Begeisterung, und vorbereitet wie ich war gegen diesen Fieberanfall der ersten Stunde, blieb ich entschlossen, meine Überzeugung von der notwendigen Einheit Europas nicht erschüttern zu lassen durch einen von ungeschickten Diplomaten und brutalen Munitionsindustriellen herbeigeführten Bruderkampf.
Innerlich war ich demzufolge vom ersten Augenblick an als Weltbürger gesichert; schwer war es, die richtige Haltung als Staatsbürger zu finden. Obwohl erst zweiunddreißig Jahre alt, hatte ich vorläufig keinerlei militärische Pflichten, da ich bei allen Assentierungen als untauglich erklärt worden war, worüber ich schon seinerzeit herzlich froh gewesen. Erstens ersparte mir diese Zurückstellung ein mit stupidem Kommißdienst vergeudetes Jahr, außerdem schien es mir ein verbrecherischer Anachronismus, im zwanzigsten Jahrhundert eingeübt zu werden in der Handhabung von Mord Werkzeugen. Die richtige Haltung für einen Mann meiner Überzeugung wäre gewesen, in einem Kriege mich als ›conscientious objector‹ zu erklären, was in Österreich (im Gegensatz zu England) mit den denkbar schwersten Strafen bedroht war und eine wirkliche Märtyrerfestigkeit der Seele forderte. Nun liegt – ich schäme mich nicht, diesen Defekt offen einzugestehen – meiner Natur das Heldische nicht. Meine natürliche Haltung in allen gefährlichen Situationen ist immer die ausweichende gewesen, und nicht nur bei diesem einen Anlaß mußte ich vielleicht mit Recht den Anwurf der Unentschiedenheit auf mich nehmen, den man meinem verehrten Meister in einem fremden Jahrhundert, Erasmus von Rotterdam, so häufig gemacht. Anderseits war es wieder unerträglich, in einer solchen Zeit als verhältnismäßig junger Mensch abzuwarten, bis man ihn herausscharrte aus seinem Dunkel und an irgendeine Stelle warf, an die er nicht gehörte. So hielt ich Umschau nach einer Tätigkeit, wo ich immerhin etwas leisten konnte, ohne hetzerisch tätig zu sein, und der Umstand, daß einer meiner Freunde, ein höherer Offizier, im Kriegsarchiv war, ermöglichte mir, dort eingestellt zu werden. Ich hatte Bibliotheksdienst zu tun, wofür ich durch meine Sprachkenntnisse nützlich war, oder stilistisch manche der für die Öffentlichkeit bestimmten Mitteilungen zu verbessern –, gewiß keine ruhmreiche Tätigkeit, wie ich willig eingestehe, aber doch eine, die mir persönlich passender erschien, als einem russischen Bauern ein Bajonett in die Gedärme zu stoßen. Jedoch das Entscheidende für mich war, daß mir Zeit blieb nach diesem nicht sehr anstrengenden Dienst für jenen Dienst, der mir der wichtigste in diesem Kriege war: der Dienst an der künftigen Verständigung.
Schwieriger als die amtliche erwies sich meine Stellung innerhalb meines Freundeskreises. Wenig europäisch geschult, ganz im deutschen Gesichtskreis lebend, meinten die meisten unserer Dichter ihr Teil am besten zu tun, indem sie die Begeisterung der Massen stärkten und die angebliche Schönheit des Krieges mit dichterischem Appell oder wissenschaftlichen Ideologien unterbauten. Fast alle deutschen Dichter, Hauptmann und Dehmel voran, glaubten sich verpflichtet, wie in urgermanischen Zeiten als Barden die vorrückenden Kämpfer mit Liedern und Runen zur Sterbebegeisterung anzufeuern. Schockweise regneten Gedichte, die Krieg auf Sieg, Not auf Tod reimten. Feierlich verschworen sich die Schriftsteller, nie mehr mit einem Franzosen, nie mehr mit einem Engländer Kulturgemeinschaft haben zu wollen, ja mehr noch: sie leugneten über Nacht, daß es je eine englische, eine französische Kultur gegeben habe. All das sei gering und wertlos gegenüber deutschem Wesen, deutscher Kunst und deutscher Art. Noch ärger trieben es die Gelehrten. Die Philosophen wußten plötzlich keine andere Weisheit, als den Krieg zu einem ›Stahlbad‹ zu erklären, das wohltätig die Kräfte der Völker vor Erschlaffung bewahre. Ihnen zur Seite traten die Ärzte, die ihre Prothesen derart überschwenglich priesen, daß man beinahe Lust hatte, sich ein Bein amputieren zu lassen, um das gesunde durch solch ein künstliches Gestell zu ersetzen. Die Priester aller Konfessionen wollten gleichfalls nicht zurückbleiben und stimmten ein in den Chor; manchmal war es, als hörte man eine Horde Besessener toben, und all diese Männer waren doch dieselben, deren Vernunft, deren formende Kraft, deren menschliche Haltung wir vor einer Woche, vor einem Monat noch bewundert.
Das Erschütterndste an diesem Wahnsinn aber war, daß die meisten dieser Menschen ehrlich waren. Die meisten, zu alt oder körperlich unfähig, militärischen Dienst zu tun, glaubten sich anständigerweise zu irgendeiner mithelfenden ›Leistung‹ verpflichtet. Was sie geschaffen hatten, das schuldeten sie der Sprache und damit dem Volk. So wollten sie ihrem Volk durch die Sprache dienen und es das hören lassen, was es hören wollte: daß das Recht einzig auf seiner Seite sei in diesem Kampf und das Unrecht auf der andern, daß Deutschland siegen werde und die Gegner schmählich unterliegen – völlig ahnungslos, daß sie damit die wahre Mission des Dichters verrieten, der Wahrer und Verteidiger des Allmenschlichen im Menschen zu sein. Manche freilich haben bald den bitteren Geschmack des Ekels vor ihrem eigenen Wort auf der Zunge gespürt, als der Fusel der ersten Begeisterung verraucht war. Aber in jenen ersten Monaten wurde am meisten gehört, wer am wildesten tobte, und so sangen und schrien sie hüben und drüben in wildem Chor.
Der typischste, der erschütterndste Fall einer solchen ehrlichen und zugleich unsinnigen Ekstase war für mich der Ernst Lissauers. Ich kannte ihn gut. Er schrieb kleine, knappe, harte Gedichte und war dabei der gutmütigste Mensch, den man sich denken konnte. Noch heute erinnere ich mich, wie ich die Lippen fest zusammenbeißen mußte, um ein Lächeln zu verstecken, als er mich das erste Mal besuchte. Unwillkürlich hatte ich mir diesen Lyriker als einen schlanken, hartknochigen jungen Mann vorgestellt nach seinen deutschen, markigen Versen, die in allem die äußerste Knappheit suchten. Herein in mein Zimmer aber schwankte, dick wie ein Faß, ein gemütliches Gesicht über einem doppelten Doppelkinn, ein behäbiges Männchen, übersprudelnd vor Eifer und Selbstgefühl, sich überstotternd im Wort, besessen vom Gedicht und durch keine Gegenwehr abzuhalten, seine Verse immer wieder zu zitieren und zu rezitieren. Mit allen seinen Lächerlichkeiten mußte man ihn doch liebgewinnen, weil er warmherzig war, kameradschaftlich, ehrlich und von einer fast dämonischen Hingabe an seine Kunst.
Er stammte aus einer vermögenden deutschen Familie, war im Friedrich-Wilhelms-Gymnasium in Berlin erzogen worden und vielleicht der preußischste oder preußisch-assimilierteste Jude, den ich kannte. Er sprach keine andere lebende Sprache, er war nie außerhalb Deutschlands gewesen. Deutschland war ihm die Welt, und je deutscher etwas war, um so mehr begeisterte es ihn. Yorck und Luther und Stein waren seine Helden, der deutsche Freiheitskrieg sein liebstes Thema, Bach sein musikalischer Gott; er spielte ihn wunderbar trotz seiner kleinen, kurzen, dicken, schwammigen Finger. Niemand kannte besser die deutsche Lyrik, niemand war verliebter, verzauberter in die deutsche Sprache – wie viele Juden, deren Familien erst spät in die deutsche Kultur getreten, war er gläubiger an Deutschland als der gläubigste Deutsche.
Als dann der Krieg ausbrach, war es sein erstes, hinzueilen in die Kaserne und sich als Freiwilliger zu melden. Und ich kann mir das Lachen der Feldwebel und Gefreiten denken, als diese dicke Masse die Treppe heraufkeuchte. Sie schickten ihn sofort weg. Lissauer war verzweifelt; aber wie die andern wollte er nun Deutschland wenigstens mit dem Gedicht dienen. Für ihn war alles verbürgteste Wahrheit, was deutsche Zeitungen und der deutsche Heeresbericht meldeten. Sein Land war überfallen worden, und der schlimmste Verbrecher, ganz wie es die Wilhelmstraße inszeniert hatte, jener perfide Lord Grey, der englische Außenminister. Diesem Gefühl, daß England der Hauptschuldige gegen Deutschland und an dem Kriege sei, gab er in einem ›Haßgesang gegen England‹ Ausdruck, einem Gedicht – ich habe es nicht vor mir –, das in harten, knappen, eindrucksvollen Versen den Haß gegen England zu dem ewigen Schwur erhob, England nie sein ›Verbrechen‹ zu verzeihen. Verhängnisvollerweise wurde bald offenbar, wie leicht es ist, mit Haß zu arbeiten (dieser feiste, verblendete kleine Jude Lissauer nahm das Beispiel Hitlers voraus). Das Gedicht fiel wie eine Bombe in ein Munitionsdepot. Nie vielleicht hat ein Gedicht in Deutschland, selbst die ›Wacht am Rhein‹ nicht, so rasch die Runde gemacht wie dieser berüchtigte ›Haßgesang gegen England‹. Der Kaiser war begeistert und verlieh Lissauer den Roten Adlerorden, man druckte das Gedicht in allen Zeitungen nach, die Lehrer lasen es in den Schulen den Kindern vor, die Offiziere traten vor die Front und rezitierten es den Soldaten, bis jeder die Haßlitanei auswendig konnte. Aber nicht genug an dem. Das kleine Gedicht wurde, in Musik gesetzt und zum Chor erweitert, in den Theatern vorgetragen; unter den siebzig Millionen Deutschen gab es bald keinen einzigen Menschen mehr, der den ›Haßgesang gegen England‹ nicht von der ersten bis zur letzten Zeile kannte, und bald kannte ihn – freilich mit weniger Begeisterung – die ganze Welt. Über Nacht hatte Ernst Lissauer den feurigsten Ruhm, den sich ein Dichter je in diesem Kriege erworben – freilich einen Ruhm, der später an ihm brannte wie ein Nessushemd. Denn kaum daß der Krieg vorüber war und die Kaufleute wieder Geschäfte machen wollten, die Politiker sich ehrlich um Verständigung bemühten, tat man alles, um dieses Gedicht zu verleugnen, das ewige Feindschaft mit England gefordert. Und um die eigene Mitschuld abzuschieben, prangerte man den armen ›Haßlitanei‹ als den einzigen Schuldigen an der irrsinnigen Haßhysterie an, die in Wirklichkeit 1914 alle vom ersten bis zum letzten geteilt. Jeder wandte sich 1919 ostentativ von ihm ab, der ihn 1914 noch gefeiert. Die Zeitungen druckten nicht mehr seine Gedichte; wenn er unter den Kameraden erschien, entstand ein betroffenes Schweigen. Aus dem Deutschland, an dem er mit allen Fasern seines Herzens hing, ist der Verlassene dann von Hitler ausgetrieben worden und vergessen gestorben, ein tragisches Opfer dieses einen Gedichts, das ihn so hoch nur emporgehoben, um ihn dann um so tiefer zu zerschmettern.
So wie Lissauer waren sie alle. Sie haben ehrlich gefühlt und meinten ehrlich zu handeln, diese Dichter, diese Professoren, diese plötzlichen Patrioten von damals, ich leugne es nicht. Aber schon nach kürzester Zeit wurde erkennbar, welches fürchterliche Unheil sie mit ihrer Lobpreisung des Krieges und ihren Haßorgien anstifteten. Alle kriegführenden Völker befanden sich 1914 ohnehin schon in einem Zustand der Überreizung; das übelste Gerücht verwandelte sich sofort in Wahrheit, die absurdeste Verleumdung wurde geglaubt. Zu Dutzenden schworen in Deutschland die Menschen, sie hätten mit eigenen Augen knapp vor Kriegsausbruch goldbeladene Automobile von Frankreich nach Rußland fahren sehen; die Märchen von den ausgestochenen Augen und abgeschnittenen Händen, die prompt in jedem Kriege am dritten oder vierten Tage einsetzen, füllten die Zeitungen. Ach, sie wußten nicht, diese Ahnungslosen, welche solche Lügen weitertrugen, daß die Technik, den feindlichen Soldaten jeder denkbaren Grausamkeit zu beschuldigen, ebenso zum Kriegsmaterial gehört wie Munition und Flugzeuge, und daß sie regelmäßig in jedem Kriege gleich in den ersten Tagen aus den Magazinen geholt wird. Krieg läßt sich mit Vernunft und gerechtem Gefühl nicht koordinieren. Er braucht einen gesteigerten Zustand des Gefühls, er braucht Enthusiasmus für die eigene Sache und Haß gegen den Gegner.
Nun liegt es in der menschlichen Natur, daß sich starke Gefühle nicht ins Unendliche prolongieren lassen, weder in einem einzelnen Individuum noch in einem Volke, und das weiß die militärische Organisation. Sie benötigt darum eine künstliche Aufstachelung, ein ständiges »doping« der Erregung, und diesen Aufpeitschungsdienst sollten – mit gutem oder schlechtem Gewissen, ehrlich oder aus fachlicher Routine – die Intellektuellen leisten, die Dichter, die Schriftsteller, die Journalisten. Sie hatten die Haßtrommel geschlagen und schlugen sie kräftig, bis jedem Unbefangenen die Ohren gellten und das Herz erschauerte. Gehorsam dienten sie fast alle in Deutschland, in Frankreich, in Italien, in Rußland, in Belgien der ›Kriegspropaganda‹ und damit dem Massenwahn und Massenhaß des Krieges, statt ihn zu bekämpfen.
Die Folgen waren verheerend. Damals, da die Propaganda sich nicht schon im Frieden abgenützt hatte, hielten die Völker trotz tausendfachen Enttäuschungen alles, was gedruckt war, noch für wahr. Und so verwandelte sich der reine, der schöne, der opfermutige Enthusiasmus der ersten Tage allmählich in eine Orgie der schlimmsten und dümmsten Gefühle. Man ›bekämpfte‹ Frankreich und England in Wien und Berlin, auf der Ringstraße und der Friedrichstraße, was bedeutend bequemer war. Die französischen, die englischen Aufschriften auf den Geschäften mußten verschwinden, sogar ein Kloster ›Zu den Englischen Fräulein‹ den Namen ändern, weil das Volk sich erregte, ahnungslos, daß ›englisch‹ die Engel und nicht angelsächsisch meinte. Auf die Briefumschläge klebten oder stempelten biedere Geschäftsleute ›Gott strafe England‹, Frauen der Gesellschaft schworen (und schrieben es den Zeitungen in Zuschriften), daß sie zeitlebens nie mehr ein Wort französisch sprechen würden. Shakespeare wurde von den deutschen Bühnen verbannt, Mozart und Wagner aus den französischen, den englischen Musiksälen, die deutschen Professoren erklärten, Dante sei ein Germane, die französischen, Beethoven sei ein Belgier gewesen, bedenkenlos requirierte man geistiges Kulturgut aus den feindlichen Ländern wie Getreide und Erz. Nicht genug, daß sich täglich wechselseitig Tausende friedliche Bürger dieser Länder an der Front töteten, beschimpfte und begeiferte man wechselseitig im Hinterland die großen Toten der feindlichen Länder, die seit Hunderten Jahren stumm in ihren Gräbern lagen. Immer absurder wurde die Geistesverwirrung. Die Köchin am Herd, die nie über ihre Stadt hinausgekommen und seit der Schulzeit keinen Atlas aufgeschlagen, glaubte, daß Österreich nicht leben könne ohne den ›Sandschak‹ (ein kleines Grenzbezirkchen irgendwo in Bosnien). Die Kutscher stritten auf der Straße, welche Kriegsentschädigung man Frankreich auferlegen solle, fünfzig Milliarden oder hundert, ohne zu wissen, wieviel eine Milliarde ist. Keine Stadt, keine Gruppe, die nicht dieser grauenhaften Hysterie des Hasses verfiel. Die Priester predigten von den Altären, die Sozialdemokraten, die einen Monat vorher den Militarismus als das größte Verbrechen gebrandmarkt, lärmten womöglich noch mehr als die andern, um nicht nach Kaiser Wilhelms Wort als ›vaterlandslose Gesellen‹ zu gelten. Es war der Krieg einer ahnungslosen Generation, und gerade die unverbrauchte Gläubigkeit der Völker an die einseitige Gerechtigkeit ihrer Sache wurde die größte Gefahr.
Allmählich wurde es in diesen ersten Kriegswochen von 1914 unmöglich, mit irgend jemandem ein vernünftiges Gespräch zu führen. Die Friedlichsten, die Gutmütigsten waren von dem Blutdunst wie betrunken. Freunde, die ich immer als entschiedene Individualisten und sogar als geistige Anarchisten gekannt, hatten sich über Nacht in fanatische Patrioten verwandelt und aus Patrioten in unersättliche Annexionisten. Jedes Gespräch endete in dummen Phrasen wie: »Wer nicht hassen kann, der kann auch nicht richtig lieben« oder in groben Verdächtigungen. Kameraden, mit denen ich seit Jahren nie einen Streit gehabt, beschuldigten mich ganz grob, ich sei kein Österreicher mehr; ich solle hinübergehen nach Frankreich oder Belgien. Ja, sie deuteten sogar vorsichtig an, daß man Ansichten wie jene, daß dieser Krieg ein Verbrechen sei, eigentlich zur Kenntnis der Behörden bringen sollte, denn ›Defaitisten‹ – das schöne Wort war eben in Frankreich erfunden worden – seien die schwersten Verbrecher am Vaterlande.
Da blieb nur eins: sich in sich selbst zurückziehen und schweigen, solange die andern fieberten und tobten. Es war nicht leicht. Denn selbst im Exil – ich habe es zur Genüge kennengelernt – ist es nicht so schlimm zu leben wie allein im Vaterlande. In Wien hatte ich meine alten Freunde mir entfremdet, neue zu suchen war jetzt nicht die Zeit. Einzig mit Rainer Maria Rilke hatte ich manchmal ein Gespräch innigen Verstehens. Es war gelungen, ihn gleichfalls für unser abgelegenes Kriegsarchiv anzufordern, denn er wäre der unmöglichste Soldat gewesen mit seiner Überzartheit der Nerven, denen Schmutz, Geruch, Lärm wirkliche physische Übelkeit schufen. Immer muß ich unwillkürlich lächeln, wenn ich mich an ihn in Uniform erinnere. Eines Tages klopfte es an meine Tür. Ein Soldat stand ziemlich zaghaft da. Im nächsten Augenblick erschrak ich: Rilke – Rainer Maria Rilke in militärischer Verkleidung! Er sah so rührend ungeschickt aus, beengt von dem Kragen, verstört von dem Gedanken, jedem Offizier die Ehrenbezeigung mit zusammengeklappten Stiefeln erweisen zu müssen. Und da er in seinem magischen Zwang zur Vollendung auch diese nichtigen Formalitäten des Reglements vorbildlich genau ausführen wollte, befand er sich in einem Zustand fortwährender Bestürztheit. »Ich habe«, sagte er mir mit seiner leisen Stimme, »dieses Militärkleid seit der Kadettenschule gehaßt. Ich glaubte, ihm für immer entkommen zu sein. Und jetzt noch einmal, mit fast vierzig Jahren!« Glücklicherweise waren hilfreiche Hände da, ihn zu schützen, und er wurde bald dank einer gütigen medizinischen Untersuchung entlassen. Noch einmal kam er, um Abschied zu nehmen – nun schon wieder im Zivilkleid in mein Zimmer, ich möchte fast sagen hereingeweht (so unbeschreiblich lautlos ging er ja immer). Er wollte mir noch danken, weil ich durch Rolland versucht hatte, seine in Paris beschlagnahmte Bibliothek zu retten. Zum erstenmal sah er nicht mehr jung aus, es war, als hätte das Denken an das Grauen ihn erschöpft. »Ins Ausland«, sagte er, »wenn man nur ins Ausland könnte! Krieg ist immer Gefängnis.« Dann ging er. Ich war nun wieder ganz allein.
Nach einigen Wochen übersiedelte ich, entschlossen, dieser gefährlichen Massenpsychose auszuweichen, in einen ländlichen Vorort, um mitten im Kriege meinen persönlichen Krieg zu beginnen: den Kampf gegen den Verrat der Vernunft an die aktuelle Massenleidenschaft.
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Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.