Die Welt der Sicherheit


Still und ruhig auferzogen
Wirft man uns auf einmal in die Welt,
Und umspülen hunderttausend Wogen,
Alles reizt uns, mancherlei gefällt,
Mancherlei verdrießt uns und von Stund zu Stunden
Schwankt das leicht unruhige Gefühl,
Wir empfinden, und was wir empfunden
Spült hinweg das bunte Weltgefühl.


Goethe


Wenn ich versuche, für die Zeit vor dem Ersten Weltkriege, in der ich aufgewachsen bin, eine handliche Formel zu finden, so hoffe ich am prägnantesten zu sein, wenn ich sage: es war das goldene Zeitalter der Sicherheit. Alles in unserer fast tausendjährigen österreichischen Monarchie schien auf Dauer gegründet und der Staat selbst der oberste Garant dieser Beständigkeit. Die Rechte, die er seinen Bürgern gewährte, waren verbrieft vom Parlament, der frei gewählten Vertretung des Volkes, und jede Pflicht genau begrenzt. Unsere Währung, die österreichische Krone, lief in blanken Goldstücken um und verbürgte damit ihre Unwandelbarkeit. Jeder wußte, wieviel er besaß oder wieviel ihm zukam, was erlaubt und was verboten war. Alles hatte seine Norm, sein bestimmtes Maß und Gewicht. Wer ein Vermögen besaß, konnte genau errechnen, wieviel an Zinsen es alljährlich zubrachte, der Beamte, der Offizier wiederum fand im Kalender verläßlich das Jahr, in dem er avancieren werde und in dem er in Pension gehen würde. Jede Familie hatte ihr bestimmtes Budget, sie wußte, wieviel sie zu verbrauchen hatte für Wohnen und Essen, für Sommerreise und Repräsentation, außerdem war unweigerlich ein kleiner Betrag sorgsam für Unvorhergesehenes, für Krankheit und Arzt bereitgestellt. Wer ein Haus besaß, betrachtete es als sichere Heimstatt für Kinder und Enkel, Hof und Geschäft vererbte sich von Geschlecht zu Geschlecht; während ein Säugling noch in der Wiege lag, legte man in der Sparbüchse oder der Sparkasse bereits einen ersten Obolus für den Lebensweg zurecht, eine kleine ›Reserve‹ für die Zukunft. Alles stand in diesem weiten Reiche fest und unverrückbar an seiner Stelle und an der höchsten der greise Kaiser; aber sollte er sterben, so wußte man (oder meinte man), würde ein anderer kommen und nichts sich ändern in der wohlberechneten Ordnung. Niemand glaubte an Kriege, an Revolutionen und Umstürze. Alles Radikale, alles Gewaltsame schien bereits unmöglich in einem Zeitalter der Vernunft.


Dieses Gefühl der Sicherheit war der erstrebenswerteste Besitz von Millionen, das gemeinsame Lebensideal. Nur mit dieser Sicherheit galt das Leben als lebenswert, und immer weitere Kreise begehrten ihren Teil an diesem kostbaren Gut. Erst waren es nur die Besitzenden, die sich dieses Vorzugs erfreuten, allmählich aber drängten die breiten Massen heran; das Jahrhundert der Sicherheit wurde das goldene Zeitalter des Versicherungswesens. Man assekurierte sein Haus gegen Feuer und Einbruch, sein Feld gegen Hagel und Wetterschaden, seinen Körper gegen Unfall und Krankheit, man kaufte sich Leibrenten für das Alter und legte den Mädchen eine Police in die Wiege für die künftige Mitgift. Schließlich organisierten sich sogar die Arbeiter, eroberten sich einen normalisierten Lohn und Krankenkassen, Dienstboten sparten sich eine Altersversicherung und zahlten im voraus ein in die Sterbekasse für ihr eigenes Begräbnis. Nur wer sorglos in die Zukunft blicken konnte, genoß mit gutem Gefühl die Gegenwart.


In diesem rührenden Vertrauen, sein Leben bis auf die letzte Lücke verpalisadieren zu können gegen jeden Einbruch des Schicksals, lag trotz aller Solidität und Bescheidenheit der Lebensauffassung eine große und gefährliche Hoffart. Das neunzehnte Jahrhundert war in seinem liberalistischen Idealismus ehrlich überzeugt, auf dem geraden und unfehlbaren Weg zur ›besten aller Welten‹ zu sein. Mit Verachtung blickte man auf die früheren Epochen mit ihren Kriegen, Hungersnöten und Revolten herab als auf eine Zeit, da die Menschheit eben noch unmündig und nicht genug aufgeklärt gewesen. Jetzt aber war es doch nur eine Angelegenheit von Jahrzehnten, bis das letzte Böse und Gewalttätige endgültig überwunden sein würde, und dieser Glaube an den ununterbrochenen, unaufhaltsamen ›Fortschritt‹ hatte für jenes Zeitalter wahrhaftig die Kraft einer Religion; man glaubte an diesen ›Fortschritt‹ schon mehr als an die Bibel, und sein Evangelium schien unumstößlich bewiesen durch die täglich neuen Wunder der Wissenschaft und der Technik. In der Tat wurde ein allgemeiner Aufstieg zu Ende dieses friedlichen Jahrhunderts immer sichtbarer, immer geschwinder, immer vielfältiger. Auf den Straßen flammten des Nachts statt der trüben Lichter elektrische Lampen, die Geschäfte trugen von den Hauptstraßen ihren verführerischen neuen Glanz bis in die Vorstädte, schon konnte dank des Telephons der Mensch zum Menschen in die Ferne sprechen, schon flog er dahin im pferdelosen Wagen mit neuen Geschwindigkeiten, schon schwang er sich empor in die Lüfte im erfüllten Ikarustraum. Der Komfort drang aus den vornehmen Häusern in die bürgerlichen, nicht mehr mußte das Wasser vom Brunnen oder Gang geholt werden, nicht mehr mühsam am Herd das Feuer entzündet, die Hygiene verbreitete sich, der Schmutz verschwand. Die Menschen wurden schöner, kräftiger, gesünder, seit der Sport ihnen die Körper stählte, immer seltener sah man Verkrüppelte, Kropfige, Verstümmelte auf den Straßen, und alle diese Wunder hatte die Wissenschaft vollbracht, dieser Erzengel des Fortschritts. Auch im Sozialen ging es voran; von Jahr zu Jahr wurden dem Individuum neue Rechte gegeben, die Justiz linder und humaner gehandhabt, und selbst das Problem der Probleme, die Armut der großen Massen, schien nicht mehr unüberwindlich. Immer weiteren Kreisen gewährte man das Wahlrecht und damit die Möglichkeit, legal ihre Interessen zu verteidigen, Soziologen und Professoren wetteiferten, die Lebenshaltung des Proletariats gesünder und sogar glücklicher zu gestalten – was Wunder darum, wenn dieses Jahrhundert sich an seiner eigenen Leistung sonnte und jedes beendete Jahrzehnt nur als die Vorstufe eines besseren empfand? An barbarische Rückfälle, wie Kriege zwischen den Völkern Europas, glaubte man so wenig wie an Hexen und Gespenster; beharrlich waren unsere Väter durchdrungen von dem Vertrauen auf die unfehlbar bindende Kraft von Toleranz und Konzilianz. Redlich meinten sie, die Grenzen von Divergenzen zwischen den Nationen und Konfessionen würden allmählich zerfließen ins gemeinsame Humane und damit Friede und Sicherheit, diese höchsten Güter, der ganzen Menschheit zugeteilt sein.


Es ist billig für uns heute, die wir das Wort ›Sicherheit‹ längst als ein Phantom aus unserem Vokabular gestrichen haben, den optimistischen Wahn jener idealistisch verblendeten Generation zu belächeln, der technische Fortschritt der Menschheit müsse unbedingterweise einen gleich rapiden moralischen Aufstieg zur Folge haben. Wir, die wir im neuen Jahrhundert gelernt haben, von keinem Ausbruch kollektiver Bestialität uns mehr überraschen zu lassen, wir, die wir von jedem kommenden Tag noch Ruchloseres erwarteten als von dem vergangenen, sind bedeutend skeptischer hinsichtlich einer moralischen Erziehbarkeit der Menschen. Wir mußten Freud recht geben, wenn er in unserer Kultur, unserer Zivilisation nur eine dünne Schicht sah, die jeden Augenblick von den destruktiven Kräften der Unterwelt durchstoßen werden kann, wir haben allmählich uns gewöhnen müssen, ohne Boden unter unseren Füßen zu leben, ohne Recht, ohne Freiheit, ohne Sicherheit. Längst haben wir für unsere eigene Existenz der Religion unserer Väter, ihrem Glauben an einen raschen und andauernden Aufstieg der Humanität abgesagt; banal scheint uns grausam Belehrten jener voreilige Optimismus angesichts einer Katastrophe, die mit einem einzigen Stoß uns um tausend Jahre humaner Bemühungen zurückgeworfen hat. Aber wenn auch nur Wahn, so war es doch ein wundervoller und edler Wahn, dem unsere Väter dienten, menschlicher und fruchtbarer als die Parolen von heute. Und etwas in mir kann sich geheimnisvollerweise trotz aller Erkenntnis und Enttäuschung nicht ganz von ihm loslösen. Was ein Mensch in seiner Kindheit aus der Luft der Zeit in sein Blut genommen, bleibt unausscheidbar. Und trotz allem und allem, was jeder Tag mir in die Ohren schmettert, was ich selbst und unzählige Schicksalsgenossen an Erniedrigung und Prüfungen erfahren haben, ich vermag den Glauben meiner Jugend nicht ganz zu verleugnen, daß es wieder einmal aufwärts gehen wird trotz allem und allem. Selbst aus dem Abgrund des Grauens, in dem wir heute halb blind herumtasten mit verstörter und zerbrochener Seele, blicke ich immer wieder auf zu jenen alten Sternbildern, die über meiner Kindheit glänzten, und tröste mich mit dem ererbten Vertrauen, daß dieser Rückfall dereinst nur als ein Intervall erscheinen wird in dem ewigen Rhythmus des Voran und Voran.


Heute, da das große Gewitter sie längst zerschmettert hat, wissen wir endgültig, daß jene Welt der Sicherheit ein Traumschloß gewesen. Aber doch, meine Eltern haben darin gewohnt wie in einem steinernen Haus. Kein einziges Mal ist ein Sturm oder eine scharfe Zugluft in ihre warme, behagliche Existenz eingebrochen; freilich hatten sie noch einen besonderen Windschutz: sie waren vermögende Leute, die allmählich reich und sogar sehr reich wurden, und das polsterte in jenen Zeiten verläßlich Fenster und Wand. Ihre Lebensform scheint mir dermaßen typisch für das sogenannte ›gute jüdische Bürgertum‹, das der Wiener Kultur so wesentliche Werte gegeben hat und zum Dank dafür völlig ausgerottet wurde, daß ich mit dem Bericht ihres gemächlichen und lautlosen Daseins eigentlich etwas Unpersönliches erzähle: so wie meine Eltern haben zehntausend oder zwanzigtausend Familien in Wien gelebt in jenem Jahrhundert der gesicherten Werte.


Die Familie meines Vaters stammte aus Mähren. In kleinen ländlichen Orten lebten dort die jüdischen Gemeinden in bestem Einvernehmen mit der Bauernschaft und dem Kleinbürgertum; so fehlte ihnen völlig die Gedrücktheit und andererseits die geschmeidig vordrängende Ungeduld der galizischen, der östlichen Juden. Stark und kräftig durch das Leben auf dem Lande, schritten sie sicher und ruhig ihren Weg wie die Bauern ihrer Heimat über das Feld. Früh vom orthodox Religiösen emanzipiert, waren sie leidenschaftliche Anhänger der Zeitreligion des ›Fortschritts‹ und stellten in der politischen Ära des Liberalismus die geachtetsten Abgeordneten im Parlament. Wenn sie aus ihrer Heimat nach Wien übersiedelten, paßten sie sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit der höheren Kultursphäre an, und ihr persönlicher Aufstieg verband sich organisch dem allgemeinen Aufschwung der Zeit. Auch in dieser Form des Übergangs war unsere Familie durchaus typisch. Mein Großvater väterlicherseits hatte Manufakturwaren vertrieben. Dann begann in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts die industrielle Konjunktur in Österreich. Die aus England importierten mechanischen Webstühle und Spinnmaschinen brachten durch Rationalisierung eine ungeheure Verbilligung gegenüber der altgeübten Handweberei, und mit ihrer kommerziellen Beobachtungsgabe, ihrem internationalen Überblick waren es die jüdischen Kaufleute, die als erste in Österreich die Notwendigkeit und Ergiebigkeit einer Umstellung auf industrielle Produktion erkannten. Sie gründeten mit meist geringem Kapital jene rasch improvisierten, zunächst nur mit Wasserkraft betriebenen Fabriken, die sich allmählich zur mächtigen, ganz Österreich und den Balkan beherrschenden böhmischen Textilindustrie erweiterten. Während also mein Großvater als typischer Vertreter der früheren Epoche nur dem Zwischenhandel mit Fertigprodukten gedient, ging mein Vater schon entschlossen hinüber in die neue Zeit, indem er in Nordböhmen in seinem dreiunddreißigsten Lebensjahr eine kleine Weberei begründete, die er dann im Laufe der Jahre langsam und vorsichtig zu einem stattlichen Unternehmen ausbaute.


Solche vorsichtige Art der Erweiterung trotz einer verlockend günstigen Konjunktur lag durchaus im Sinne der Zeit. Sie entsprach außerdem noch besonders der zurückhaltenden und durchaus ungierigen Natur meines Vaters. Er hatte das Credo seiner Epoche ›Safety first‹ in sich aufgenommen; es war ihm wesentlicher, ein ›solides‹ – auch dies ein Lieblingswort jener Zeit – Unternehmen mit eigener Kapitalkraft zu besitzen, als es durch Bankkredite oder Hypotheken ins Großdimensionale auszubauen. Daß zeitlebens nie jemand seinen Namen auf einem Schuldschein, einem Wechsel gesehen hatte und er nur immer auf der Habenseite seiner Bank – selbstverständlich der solidesten, der Rothschildbank, der Kreditanstalt – gestanden, war sein einziger Lebensstolz. Jeglicher Verdienst mit auch nur dem leisesten Schatten eines Risikos war ihm zuwider, und durch all seine Jahre beteiligte er sich niemals an einem fremden Geschäft. Wenn er dennoch allmählich reich und immer reicher wurde, hatte er dies keineswegs verwegenen Spekulationen oder besonders weitsichtigen Operationen zu danken, sondern der Anpassung an die allgemeine Methode jener vorsichtigen Zeit, immer nur einen bescheidenen Teil des Einkommens zu verbrauchen und demzufolge von Jahr zu Jahr einen immer beträchtlicheren Betrag dem Kapital zuzulegen. Wie die meisten seiner Generation hätte mein Vater jemanden schon als bedenklichen Verschwender betrachtet, der unbesorgt die Hälfte seiner Einkünfte aufzehrte, ohne – auch dies ein ständiges Wort aus jenem Zeitalter der Sicherheit – ›an die Zukunft zu denken‹. Dank diesem ständigen Zurücklegen der Gewinne bedeutete in jener Epoche steigender Prosperität, wo überdies der Staat nicht daran dachte, auch von den stattlichsten Einkommen mehr als ein paar Prozent an Steuern abzuknappen und andererseits die Staats- und Industriewerte hohe Verzinsung brachten, für den Vermögenden das Immer-reicher-Werden eigentlich nur eine passive Leistung. Und sie lohnte sich; noch wurde nicht wie in den Zeiten der Inflation der Sparsame bestohlen, der Solide geprellt, und gerade die Geduldigsten, die Nichtspekulanten hatten den besten Gewinn. Dank dieser Anpassung an das allgemeine System seiner Zeit konnte mein Vater schon in seinem fünfzigsten Jahre auch nach internationalen Begriffen als sehr vermögender Mann gelten. Aber nur sehr zögernd folgte die Lebenshaltung unserer Familie dem immer rascheren Anstieg des Vermögens nach. Man legte sich allmählich kleine Bequemlichkeiten zu, wir übersiedelten aus einer kleinen Wohnung in eine größere, man hielt sich im Frühjahr für die Nachmittage einen Mietswagen, reiste zweiter Klasse mit Schlafwagen, aber erst in seinem fünfzigsten Jahr gönnte sich mein Vater zum erstenmal den Luxus, mit meiner Mutter für einen Monat im Winter nach Nizza zu fahren. Im ganzen blieb die Grundhaltung, Reichtum zu genießen, indem man ihn hatte und nicht indem man ihn zeigte, völlig unverändert; noch als Millionär hat mein Vater noch nie eine Importe geraucht, sondern – wie Kaiser Franz Joseph seine billige Virginia – die einfache ärarische Trabuco, und wenn er Karten spielte, geschah es immer nur um kleine Einsätze. Unbeugsam hielt er an seiner Zurückhaltung, seinem behaglichen, aber diskreten Leben fest. Obwohl ungleich repräsentabler und gebildeter als die meisten seiner Kollegen – er spielte ausgezeichnet Klavier, schrieb klar und gut, sprach Französisch und Englisch – hat er beharrlich sich jeder Ehre und jedem Ehrenamt verweigert, zeitlebens keinen Titel, keine Würde angestrebt oder angenommen, wie sie ihm oft in seiner Stellung als Großindustrieller angeboten wurde. Niemals jemanden um etwas gebeten zu haben, niemals zu ›bitte‹ oder ›danke‹ verpflichtet gewesen zu sein, dieser geheime Stolz bedeutete ihm mehr als jede Äußerlichkeit.


Nun kommt im Leben eines jedweden unweigerlich die Zeit, da er im Bilde seines Wesens dem eigenen Vater wiederbegegnet. Jener Wesenszug zum Privaten, zum Anonymen der Lebenshaltung beginnt sich in mir jetzt von Jahr zu Jahr stärker zu entwickeln, so sehr er eigentlich im Widerspruch steht zu meinem Beruf, der Name und Person gewissermaßen zwanghaft publik macht. Aber aus dem gleichen geheimen Stolz habe ich seit je jede Form äußerer Ehrung abgelehnt, keinen Orden, keinen Titel, keine Präsidentschaft in irgendeinem Vereine angenommen, nie einer Akademie, einem Vorstand, einer Jury angehört; selbst an einer festlichen Tafel zu sitzen ist mir eine Qual, und schon der Gedanke, jemanden um etwas anzusprechen, trocknet mir – selbst wenn meine Bitte einem Dritten gelten soll – die Lippe schon vor dem ersten Wort. Ich weiß, wie unzeitgemäß derlei Hemmungen sind in einer Welt, wo man nur frei bleiben kann durch List und Flucht, und wo, wie Vater Goethe weise sagte, ›Orden und Titel manchen Puff abhalten im Gedränge‹. Aber es ist mein Vater in mir und sein heimlicher Stolz, der mich zurückzwingt, und ich darf ihm nicht Widerstand leisten; denn ihm danke ich, was ich vielleicht als meinen einzig sicheren Besitz empfinde: das Gefühl der inneren Freiheit.


Meine Mutter, die mit ihrem Mädchennamen Brettauer hieß, war von einer anderen, einer internationalen Herkunft. Sie war in Ancona, im südlichen Italien geboren und Italienisch ebenso ihre Kindheitssprache wie Deutsch; immer wenn sie mit meiner Großmutter oder ihrer Schwester etwas besprach, was die Dienstboten nicht verstehen sollten, schaltete sie auf Italienisch um. Risotto und die damals noch seltenen Artischocken sowie die andern Besonderheiten der südlichen Küche waren mir schon von frühester Jugend an vertraut, und wann immer ich später nach Italien kam, fühlte ich mich von der ersten Stunde zu Hause. Aber die Familie meiner Mutter war keineswegs italienisch, sondern bewußt international; die Brettauers, die ursprünglich ein Bankgeschäft besaßen, hatten sich – nach dem Vorbild der großen jüdischen Bankiersfamilien, aber natürlich in viel winzigeren Dimensionen – von Hohenems, einem kleinen Ort an der Schweizer Grenze, frühzeitig über die Welt verteilt. Die einen gingen nach St. Gallen, die andern nach Wien und Paris, mein Großvater nach Italien, ein Onkel nach New York, und dieser internationale Kontakt verlieh ihnen besseren Schliff, größeren Ausblick und dazu einen gewissen Familienhochmut. Es gab in dieser Familie keine kleinen Kaufleute, keine Makler mehr, sondern nur Bankiers, Direktoren, Professoren, Advokaten und Ärzte, jeder sprach mehrere Sprachen, und ich erinnere mich, mit welcher Selbstverständlichkeit man bei meiner Tante in Paris bei Tisch von der einen zur andern hinüberwechselte. Es war eine Familie, die sorgsam ›auf sich hielt‹, und wenn ein junges Mädchen aus der ärmeren Verwandtschaft heiratsreif wurde, steuerte die ganze Familie eine stattliche Mitgift zusammen, nur um zu verhindern, daß sie ›nach unten‹ heirate. Mein Vater wurde als Großindustrieller zwar respektiert, aber meine Mutter, obwohl in der glücklichsten Ehe mit ihm verbunden, hätte nie geduldet, daß sich seine Verwandten mit den ihren auf eine Linie gestellt hätten. Dieser Stolz, aus einer ›guten‹ Familie zu stammen, war bei allen Brettauers unausrottbar, und wenn in späteren Jahren einer von ihnen mir sein besonderes Wohlwollen bezeigen wollte, äußerte er herablassend: »Du bist doch eigentlich ein rechter Brettauer«, als ob er damit anerkennend sagen wollte: »Du bist doch auf die rechte Seite gefallen.«


Diese Art Adel, den sich manche jüdische Familie aus eigener Machtvollkommenheit zulegte, hat mich und meinen Bruder schon als Kinder bald amüsiert und bald verärgert. Immer bekamen wir zu hören, daß dies ›feine‹ Leute seien und jene ›unfeine‹, bei jedem Freunde wurde nachgeforscht, ob er aus ›guter‹ Familie sei und bis ins letzte Glied Herkunft sowohl der Verwandtschaft als des Vermögens überprüft. Dieses ständige Klassifizieren, das eigentlich den Hauptgegenstand jedes familiären und gesellschaftlichen Gesprächs bildete, schien uns damals höchst lächerlich und snobistisch, weil es sich doch schließlich bei allen jüdischen Familien nur um einen Unterschied von fünfzig oder hundert Jahren dreht, um die sie früher aus demselben jüdischen Ghetto gekommen sind. Erst viel später ist es mir klar geworden, daß dieser Begriff der ›guten‹ Familie, der uns Knaben als eine parodistische Farce einer künstlichen Pseudoaristokratie erschien, eine der innersten und geheimnisvollsten Tendenzen des jüdischen Wesens ausdrückt. Im allgemeinen wird angenommen, reich zu werden sei das eigentliche und typische Lebensziel eines jüdischen Menschen. Nichts ist falscher. Reich zu werden bedeutet für ihn nur eine Zwischenstufe, ein Mittel zum wahren Zweck und keineswegs das innere Ziel. Der eigentliche Wille des Juden, sein immanentes Ideal ist der Aufstieg ins Geistige, in eine höhere kulturelle Schicht. Schon im östlichen orthodoxen Judentum, wo sich die Schwächen ebenso wie die Vorzüge der ganzen Rasse intensiver abzeichnen, findet diese Suprematie des Willens zum Geistigen über das bloß Materielle plastischen Ausdruck: der Fromme, der Bibelgelehrte, gilt tausendmal mehr innerhalb der Gemeinde als der Reiche; selbst der Vermögendste wird seine Tochter lieber einem bettelarmen Geistesmenschen zur Gattin geben als einem Kaufmann. Diese Überordnung des Geistigen geht bei den Juden einheitlich durch alle Stände; auch der ärmste Hausierer, der seine Packen durch Wind und Wetter schleppt, wird versuchen, wenigstens einen Sohn unter den schwersten Opfern studieren zu lassen, und es wird als Ehrentitel für die ganze Familie betrachtet, jemanden in ihrer Mitte zu haben, der sichtbar im Geistigen gilt, einen Professor, einen Gelehrten, einen Musiker, als ob er durch seine Leistung sie alle adelte. Unbewußt sucht etwas in dem jüdischen Menschen, dem moralisch Dubiosen, dem Widrigen, Kleinlichen und Ungeistigen, das allem Handel, allem bloß Geschäftlichen anhaftet, zu entrinnen und sich in die reinere, die geldlose Sphäre des Geistigen zu erheben, als wollte er – wagnerisch gesprochen – sich und seine ganze Rasse vom Fluch des Geldes erlösen. Darum ist auch fast immer im Judentum der Drang nach Reichtum in zwei, höchstens drei Generationen innerhalb einer Familie erschöpft, und gerade die mächtigsten Dynastien finden ihre Söhne unwillig, die Banken, die Fabriken, die ausgebauten und warmen Geschäfte ihrer Väter zu übernehmen. Es ist kein Zufall, daß ein Lord Rothschild Ornithologe, ein Warburg Kunsthistoriker, ein Cassirer Philosoph, ein Sassoon Dichter wurde; sie alle gehorchten dem gleichen, unbewußten Trieb, sich von dem frei zu machen, was das Judentum eng gemacht, vom bloßen kalten Geldverdienen, und vielleicht drückt sich darin sogar die geheime Sehnsucht aus, durch Flucht ins Geistige sich aus dem bloß Jüdischen ins allgemein Menschliche aufzulösen. Eine ›gute‹ Familie meint also mehr als das bloß Gesellschaftliche, das sie selbst mit dieser Bezeichnung sich zubilligt; sie meint ein Judentum, das sich von allen Defekten und Engheiten und Kleinlichkeiten, die das Ghetto ihm aufgezwungen, durch Anpassung an eine andere Kultur und womöglich eine universale Kultur befreit hat oder zu befreien beginnt. Daß diese Flucht ins Geistige durch eine unproportionierte Überfüllung der intellektuellen Berufe dem Judentum dann ebenso verhängnisvoll geworden ist wie vordem seine Einschränkung ins Materielle, gehört freilich zu den ewigen Paradoxien des jüdischen Schicksals.


In kaum einer Stadt Europas war nun der Drang zum Kulturellen so leidenschaftlich wie in Wien. Gerade weil die Monarchie, weil Österreich seit Jahrhunderten weder politisch ambitioniert noch in seinen militärischen Aktionen besonders erfolgreich gewesen, hatte sich der heimatliche Stolz am stärksten dem Wunsche einer künstlerischen Vorherrschaft zugewandt. Von dem alten Habsburgerreich, das einmal Europa beherrscht, waren längst wichtigste und wertvollste Provinzen abgefallen, deutsche und italienische, flandrische und wallonische; unversehrt in ihrem alten Glanz war die Hauptstadt geblieben, der Hort des Hofes, die Wahrerin einer tausendjährigen Tradition. Die Römer hatten die ersten Steine dieser Stadt aufgerichtet, als ein Castrum, als vorgeschobenen Posten, um die lateinische Zivilisation zu schützen gegen die Barbaren, und mehr als tausend Jahre später war der Ansturm der Osmanen gegen das Abendland an diesen Mauern zerschellt. Hier waren die Nibelungen gefahren, hier hat das unsterbliche Siebengestirn der Musik über die Welt geleuchtet, Gluck, Haydn und Mozart, Beethoven, Schubert, Brahms und Johann Strauß, hier waren alle Ströme europäischer Kultur zusammengeflossen; am Hof, im Adel, im Volk war das Deutsche dem Slavischen, dem Ungarischen, dem Spanischen, dem Italienischen, dem Französischen, dem Flandrischen im Blute verbunden, und es war das eigentliche Genie dieser Stadt der Musik, alle diese Kontraste harmonisch aufzulösen in ein Neues und Eigenartiges, in das Österreichische, in das Wienerische. Aufnahmewillig und mit einem besonderen Sinn für Empfänglichkeit begabt, zog diese Stadt die disparatesten Kräfte an sich, entspannte, lockerte, begütigte sie; es war lind, hier zu leben, in dieser Atmosphäre geistiger Konzilianz, und unbewußt wurde jeder Bürger dieser Stadt zum Übernationalen, zum Kosmopolitischen, zum Weltbürger erzogen.


Diese Kunst der Angleichung, der zarten und musikalischen Übergänge, sie ward schon offenbar im äußern Gebilde der Stadt. In Jahrhunderten langsam gewachsen, aus innerem Kreise organisch entfaltet, war sie volkreich genug mit ihren zwei Millionen, um allen Luxus und alle Vielfalt einer Großstadt zu gewähren, und doch nicht so überdimensional, um abgelöst zu sein von der Natur wie London oder New York. Die letzten Häuser der Stadt spiegelten sich im mächtigen Strome der Donau oder sahen hinaus über die weite Ebene oder lösten sich auf in Gärten und Felder oder klommen in sachten Hügeln die letzten grün umwaldeten Ausläufer der Alpen hinauf; man fühlte kaum, wo die Natur, wo die Stadt begann, eines löste sich ins andere ohne Widerstand und Widerspruch. Innen wiederum spürte man, daß wie ein Baum, der Ring an Ring ansetzt, die Stadt gewachsen war; und statt der alten Festungswälle umschloß den innersten, den kostbarsten Kern die Ringstraße mit ihren festlichen Häusern. Innen sprachen die alten Paläste des Hofs und des Adels versteinerte Geschichte; hier bei den Lichnowskys hatte Beethoven gespielt, hier bei den Esterhêzys war Haydn zu Gast gewesen, da in der alten Universität war Haydns ›Schöpfung‹ zum erstenmal erklungen, die Hofburg hatte Generationen von Kaisern, Schönbrunn Napoleon gesehen, im Stefansdom hatten die vereinigten Fürsten der Christenheit im Dankgebet für die Errettung vor den Türken gekniet, die Universität hatte unzählige der Leuchten der Wissenschaft in ihren Mauern gesehen. Dazwischen erhob sich stolz und prunkvoll mit blinkenden Avenuen und blitzenden Geschäften die neue Architektur. Aber das Alte haderte hier so wenig mit dem Neuen wie der gehämmerte Stein mit der unberührten Natur. Es war wundervoll hier zu leben, in dieser Stadt, die gastfrei alles Fremde aufnahm und gerne sich gab, es war in ihrer leichten, wie in Paris mit Heiterkeit beschwingten Luft natürlicher das Leben zu genießen. Wien war, man weiß es, eine genießerische Stadt, aber was bedeutet Kultur anderes, als der groben Materie des Lebens ihr Feinstes, ihr Zartestes, ihr Subtilstes durch Kunst und Liebe zu entschmeicheln? Feinschmeckerisch im kulinarischen Sinne, sehr um einen guten Wein, ein herbes frisches Bier, üppige Mehlspeisen und Torten bekümmert, war man in dieser Stadt anspruchsvoll auch in subtileren Genüssen. Musik machen, tanzen, Theater spielen, konversieren, sich geschmackvoll und gefällig benehmen wurde hier gepflegt als eine besondere Kunst. Nicht das Militärische, nicht das Politische, nicht das Kommerzielle hatte im Leben des einzelnen wie in dem der Gesamtheit das Übergewicht; der erste Blick eines Wiener Durchschnittsbürgers in die Zeitung galt allmorgendlich nicht den Diskussionen im Parlament oder den Weltgeschehnissen, sondern dem Repertoire des Theaters, das eine für andere Städte kaum begreifliche Wichtigkeit im öffentlichen Leben einnahm. Denn das kaiserliche Theater, das Burgtheater war für den Wiener, für den Österreicher mehr als eine bloße Bühne, auf der Schauspieler Theaterstücke spielten; es war der Mikrokosmos, der den Makrokosmos spiegelte, der bunte Widerschein, in dem sich die Gesellschaft selbst betrachtete, der einzig richtige ›cortigiano‹ des guten Geschmacks. An dem Hofschauspieler sah der Zuschauer vorbildlich, wie man sich kleidete, wie man in ein Zimmer trat, wie man konversierte, welche Worte man als Mann von gutem Geschmack gebrauchen durfte, und welche man zu vermeiden hatte; die Bühne war statt einer bloßen Stätte der Unterhaltung ein gesprochener und plastischer Leitfaden des guten Benehmens, der richtigen Aussprache, und ein Nimbus des Respekts umwölkte wie ein Heiligenschein alles, was mit dem Hoftheater auch nur in entferntester Beziehung stand. Der Ministerpräsident, der reichste Magnat konnte in Wien durch die Straßen gehen, ohne daß jemand sich umwandte; aber ein Hofschauspieler, eine Opernsängerin erkannte jede Verkäuferin und jeder Fiaker; stolz erzählten wir Knaben es uns einander, wenn wir einen von ihnen (deren Bilder, deren Autographen jeder sammelte) im Vorübergehen gesehen, und dieser fast religiöse Personenkult ging so weit, daß er sich sogar auf seine Umwelt übertrug; der Friseur Sonnenthals, der Fiaker von Josef Kainz waren Respektspersonen, die man heimlich beneidete; junge Elegants waren stolz, von demselben Schneider gekleidet zu sein. Jedes Jubiläum, jedes Begräbnis eines großen Schauspielers wurde zum Ereignis, das alle politischen Geschehnisse überschattete. Im Burgtheater gespielt zu werden, war der höchste Traum jedes Wiener Schriftstellers, weil es eine Art lebenslangen Adels bedeutete und eine Reihe von Ehrungen in sich schloß, wie Freikarten auf Lebenszeit, Einladung zu allen offiziellen Veranstaltungen; man war eben Gast in einem kaiserlichen Hause geworden, und ich erinnere mich noch an die feierliche Art, mit der meine eigene Einbeziehung geschah. Am Vormittag hatte mich der Direktor des Burgtheaters zu sich ins Büro gebeten, um mir – nach zuvorigem Glückwunsch – mitzuteilen, daß mein Drama vom Burgtheater akzeptiert worden sei; als ich abends nach Hause kam, fand ich seine Visitenkarte in meiner Wohnung. Er hatte mir, dem Sechsundzwanzigjährigen, einen formellen Gegenbesuch gemacht, ich war als Autor der kaiserlichen Bühne schon durch die bloße Annahme ein ›gentleman‹ geworden, den ein Direktor des kaiserlichen Instituts au pair zu behandeln hatte. Und was im Theater geschah, betraf indirekt jeden einzelnen, sogar den, der damit gar keinen direkten Zusammenhang hatte. Ich erinnere mich zum Beispiel aus meiner frühesten Jugend, daß unsere Köchin eines Tages mit Tränen in den Augen in das Zimmer stürzte: eben habe man ihr erzählt, Charlotte Wolter – die berühmteste Schauspielerin des Burgtheaters – sei gestorben. Das Groteske dieser wilden Trauer bestand selbstverständlich darin, daß diese alte, halb analphabetische Köchin nicht ein einziges Mal selbst im vornehmen Burgtheater gewesen war und die Wolter nie auf der Bühne oder im Leben gesehen hatte; aber eine große nationale Schauspielerin gehörte in Wien so sehr zum Kollektivbesitz der ganzen Stadt, daß selbst der Unbeteiligte ihren Tod als eine Katastrophe empfand. Jeder Verlust, das Weggehen eines beliebten Sängers oder Künstlers verwandelte sich unaufhaltsam in Nationaltrauer. Als das ›alte‹ Burgtheater, in dem Mozarts ›Hochzeit des Figaro‹ zum erstenmal erklungen, demoliert wurde, war die ganze Wiener Gesellschaft wie bei einem Begräbnis feierlich und ergriffen in den Räumen versammelt; kaum war der Vorhang gefallen, stürzte jeder auf die Bühne, um wenigstens einen Splitter von den Brettern, auf denen ihre geliebten Künstler gewirkt, als Reliquie nach Hause zu bringen, und in Dutzenden von Bürgerhäusern sah man noch nach Jahrzehnten diese unscheinbaren Holzsplitter in kostbarer Kassette bewahrt, wie in den Kirchen die Splitter des heiligen Kreuzes. Wir selbst handelten nicht viel vernünftiger, als der sogenannte Bösendorfer Saal niedergerissen wurde.


An sich war dieser kleine Konzertsaal, der ausschließlich der Kammermusik vorbehalten war, ein ganz unbedeutendes, unkünstlerisches Bauwerk, die frühere Reitschule des Fürsten Liechtenstein, und nur durch eine Holzverschalung völlig prunklos zu musikalischen Zwecken adaptiert. Aber er hatte die Resonanz einer alten Violine, er war den Liebhabern der Musik geheiligte Stätte, weil Chopin und Brahms, Liszt und Rubinstein darin konzertiert, weil viele der berühmten Quartette hier zum ersten Male erklungen. Und nun sollte er einem neuen Zweckbau weichen; es war unfaßbar für uns, die hier unvergeßliche Stunden erlebt. Als die letzten Takte Beethovens verklangen, vom Roséquartett herrlicher als jemals gespielt, verließ keiner seinen Platz. Wir lärmten und applaudierten, einige Frauen schluchzten vor Erregung, niemand wollte es wahrhaben, daß es ein Abschied war. Man verlöschte im Saal die Lichter, um uns zu verjagen. Keiner von den vier- oder fünfhundert der Fanatiker wich von seinem Platz. Eine halbe Stunde, eine Stunde blieben wir, als ob wir es erzwingen könnten durch unsere Gegenwart, daß der alte geheiligte Raum gerettet würde. Und wie haben wir als Studenten mit Petitionen, mit Demonstrationen, mit Aufsätzen darum gekämpft, daß Beethovens Sterbehaus nicht demoliert würde! Jedes dieser historischen Häuser in Wien war wie ein Stück Seele, das man uns aus dem Leibe riß.


Dieser Fanatismus für die Kunst und insbesondere für die theatralische Kunst ging in Wien durch alle Stände. An sich war Wien durch seine hundertjährige Tradition eigentlich eine deutlich geschichtete und zugleich – wie ich einmal schrieb – wunderbar orchestrierte Stadt. Das Pult gehörte noch immer dem Kaiserhaus. Die kaiserliche Burg war das Zentrum nicht nur im räumlichen Sinn, sondern auch im kulturellen der Übernationalität der Monarchie. Um diese Burg bildeten die Palais des österreichischen, polnischen, tschechischen, ungarischen Hochadels gewissermaßen den zweiten Wall. Dann kam die ›gute Gesellschaft‹, bestehend aus dem kleineren Adel, der hohen Beamtenschaft, der Industrie und den ›alten Familien‹, darunter dann das Kleinbürgertum und das Proletariat. Alle diese Schichten lebten in ihrem eigenen Kreise und sogar in eigenen Bezirken, der Hochadel in seinen Palästen im Kern der Stadt, die Diplomatie im dritten Bezirk, die Industrie und die Kaufmannschaft in der Nähe der Ringstraße, das Kleinbürgertum in den inneren Bezirken, dem zweiten bis neunten, das Proletariat in dem äußeren Kreis; alles aber kommunizierte im Theater und bei den großen Festlichkeiten wie etwa dem Blumenkorso im Prater, wo dreimal hunderttausend Menschen die ›oberen Zehntausend‹ begeistert in ihren wunderbar geschmückten Wagen akklamierten. In Wien wurde alles zum festlichen Anlaß, was Farbe oder Musik entäußerte, die religiösen Umzüge wie das Fronleichnamsfest, die Militärparaden, die ›Burgmusik‹; selbst die Begräbnisse fanden begeisterten Zulauf, und es war der Ehrgeiz jedes rechten Wieners, eine ›schöne Leich‹ mit prunkvollem Aufzug und vielen Begleitern zu haben; sogar seinen Tod verwandelte ein richtiger Wiener noch in eine Schaufreude für die andern. In dieser Empfänglichkeit für alles Farbige, Klingende, Festliche, in dieser Lust am Schauspielhaften als Spiel- und Spiegelform des Lebens, gleichgültig ob auf der Bühne oder im realen Raum, war die ganze Stadt einig.


Über diese ›Theatromanie‹ der Wiener, die wirklich mit ihrer Nachspürerei nach den winzigsten Lebensumständen ihrer Lieblinge manchmal ins Groteske ausartete, war zu spotten keineswegs schwer, und unsere österreichische Indolenz im Politischen, das Zurückbleiben im Wirtschaftlichen gegenüber dem resoluten deutschen Nachbarreich mag tatsächlich zum Teil dieser genießerischen Überschätzung zuzuschreiben sein. Aber kulturell hat diese Überwertung der künstlerischen Geschehnisse etwas Einzigartiges gezeitigt – eine ungemeine Ehrfurcht vorerst vor jeder künstlerischen Leistung, dann in ihrer jahrhundertelangen Übung ein Kennertum ohnegleichen und dank dieses Kennertums wiederum schließlich ein überragendes Niveau auf allen kulturellen Gebieten. Immer fühlt sich der Künstler dort am wohlsten und zugleich am angeregtesten, wo er geschätzt und sogar überschätzt wird. Immer erreicht Kunst dort ihren Gipfel, wo sie Lebensangelegenheit eines ganzen Volkes wird. Und so wie Florenz, wie Rom in der Renaissance die Maler an sich heranzog und zur Größe erzog, weil jeder fühlte, daß er in einem ständigen Wettstreit vor der ganzen Bürgerschaft die andern und sich selbst ununterbrochen übertreffen mußte, so wußten auch die Musiker, die Schauspieler in Wien um ihre Wichtigkeit in der Stadt. In der Wiener Oper, im Wiener Burgtheater wurde nichts übersehen; jede falsche Note wurde sofort bemerkt, jeder unrichtige Einsatz, jede Kürzung gerügt, und diese Kontrolle nicht etwa nur bei den Premieren durch die professionellen Kritiker geübt, sondern Tag für Tag durch das wachsame und durch ständiges Vergleichen geschärfte Ohr des ganzen Publikums. Während im Politischen, im Administrativen, in den Sitten alles ziemlich gemütlich zuging, und man gutmütig gleichgültig war gegen jede ›Schlamperei‹ und nachsichtig gegen jeden Verstoß, gab es in künstlerischen Dingen keinen Pardon; hier war die Ehre der Stadt im Spiel. Jeder Sänger, jeder Schauspieler, jeder Musiker mußte ununterbrochen sein Äußerstes geben, sonst war er verloren. Es war herrlich, in Wien ein Liebling zu sein, aber es war nicht leicht, Liebling zu bleiben; ein Nachlassen wurde nicht verziehen. Und dieses Wissen um das ständige und mitleidlose Überwachtsein zwang jedem Künstler in Wien sein Äußerstes ab und gab dem Ganzen das wunderbare Niveau. Jeder von uns hat von diesen Jugendjahren ein strenges, ein unerbittliches Maß für künstlerische Darbietung in sein Leben mitgenommen. Wer in der Oper unter Gustav Mahler eisernste Disziplin bis ins kleinste Detail, bei den Philharmonikern Schwungkraft mit Akribie als selbstverständlich verbunden gekannt, der ist eben heute selten von einer theatralischen oder musikalischen Aufführung voll befriedigt. Aber damit haben wir gelernt, auch gegen uns selbst bei jeder Kunstdarbietung streng zu sein; ein Niveau war und blieb uns vorbildlich, wie es in wenigen Städten der Welt dem werdenden Künstler anerzogen wurde. Aber auch tief in das Volk hinab ging dieses Wissen um richtigen Rhythmus und Schwung, denn selbst der kleinste Bürger, der beim ›Heurigen‹ saß, verlangte von der Kapelle ebenso gute Musik wie vom Wirt guten Wein; im Prater wiederum wußte das Volk genau, welche Militärkapelle den meisten ›Schmiß‹ hatte, ob die ›Deutschmeister‹ oder die ›Ungarn‹; wer in Wien lebte, bekam gleichsam aus der Luft das Gefühl für Rhythmus in sich. Und so wie diese Musikalität sich bei uns Schriftstellern in einer besonders gepflegten Prosa ausdrückte, drang das Taktgefühl bei den andern in die gesellschaftliche Haltung und in das tägliche Leben ein. Ein Wiener ohne Kunstsinn und Formfreude war undenkbar in der sogenannten ›guten‹ Gesellschaft, aber selbst in den unteren Ständen nahm der Ärmste einen gewissen Instinkt für Schönheit schon aus der Landschaft, aus der menschlich heiteren Sphäre in sein Leben mit; man war kein wirklicher Wiener ohne diese Liebe zur Kultur, ohne diesen gleichzeitig genießenden und prüfenden Sinn für diese heiligste Überflüssigkeit des Lebens.


Nun ist Anpassung an das Milieu des Volkes oder des Landes, inmitten dessen sie wohnen, für Juden nicht nur eine äußere Schutzmaßnahme, sondern ein tief innerliches Bedürfnis. Ihr Verlangen nach Heimat, nach Ruhe, nach Rast, nach Sicherheit, nach Unfremdheit drängt sie, sich der Kultur ihrer Umwelt leidenschaftlich zu verbinden. Und kaum verwirklichte sich – außer in Spanien im fünfzehnten Jahrhundert – eine solche Bindung glücklicher und fruchtbarer als in Österreich. Seit mehr als zweihundert Jahren eingesessen in der Kaiserstadt, begegneten die Juden hier einem leichtlebigen, zur Konzilianz geneigten Volke, dem unter dieser scheinbar lockeren Form derselbe tiefe Instinkt für geistige und ästhetische Werte, wie sie ihnen selbst so wichtig waren, innewohnte. Und sie begegneten sogar noch mehr in Wien; sie fanden hier eine persönliche Aufgabe. In dem letzten Jahrhundert hatte die Kunstpflege in Österreich ihre alten traditionellen Hüter und Protektoren verloren: das Kaiserhaus und die Aristokratie. Während im achtzehnten Jahrhundert Maria Theresia ihre Töchter von Gluck in Musik unterweisen ließ, Joseph II. mit Mozart dessen Opern als Kenner diskutierte, Leopold III. selbst komponierte, hatten die späteren Kaiser Franz II. und Ferdinand keinerlei Interessen an künstlerischen Dingen mehr, und unser Kaiser Franz Joseph, der in seinen achtzig Jahren nie ein Buch außer dem Armeeschematismus gelesen oder auch nur in die Hand genommen, bezeigte sogar eine ausgesprochene Antipathie gegen Musik. Ebenso hatte der Hochadel seine einstige Protektorstellung aufgegeben; vorbei waren die glorreichen Zeiten, da die Esterhêzys einen Haydn beherbergten, die Lobkowitz und Kinskys und Waldsteins wetteiferten, in ihren Palästen die Erstaufführung Beethovens zu haben, wo eine Gräfin Thun sich vor dem großen Dämon auf die Knie warf, er möge den ›Fidelio‹ nicht von der Oper zurückziehen. Schon Wagner, Brahms und Johann Strauß oder Hugo Wolf fanden bei ihnen nicht mehr die geringste Stütze; um die philharmonischen Konzerte auf der alten Höhe zu erhalten, den Malern, den Bildhauern eine Existenz zu ermöglichen, mußte das Bürgertum in die Bresche springen, und es war der Stolz, der Ehrgeiz gerade des jüdischen Bürgertums, daß sie hier in erster Reihe mittun konnten, den Ruhm der Wiener Kultur im alten Glanz aufrechtzuerhalten. Sie liebten von je diese Stadt und hatten sich mit innerster Seele hier eingewohnt, aber erst durch die Liebe zur Wiener Kunst fühlten sie sich voll heimatberechtigt und wahrhaft Wiener geworden. Im öffentlichen Leben übten sie sonst eigentlich nur geringen Einfluß aus; der Glanz des kaiserlichen Hauses stellte jeden privaten Reichtum in den Schatten, die hohen Stellungen in der Staatsführung waren in ererbten Händen, die Diplomatie der Aristokratie, die Armee und hohe Beamtenschaft den alten Familien vorbehalten, und die Juden versuchten auch gar nicht, in diese privilegierten Kreise ehrgeizig vorzudringen. Mit Taktgefühl respektierten sie diese traditionellen Vorrechte als selbstverständliche; ich erinnere mich zum Beispiel, daß mein Vater es sein ganzes Leben lang vermied, bei Sacher zu speisen, und zwar nicht aus Sparsamkeit – denn die Differenz gegenüber den anderen großen Hotels war lächerlich gering –, sondern aus jenem natürlichen Distanzgefühl: es wäre ihm peinlich oder ungehörig erschienen, neben einem Prinzen Schwarzenberg oder Lobkowitz Tisch an Tisch zu sitzen. Einzig gegenüber der Kunst fühlten in Wien alle ein gleiches Recht, weil Liebe und Kunst in Wien als gemeinsame Pflicht galt, und unermeßlich ist der Anteil, den die jüdische Bourgeoisie durch ihre mithelfende und fördernde Art an der Wiener Kultur genommen. Sie waren das eigentliche Publikum, sie füllten die Theater, die Konzerte, sie kauften die Bücher, die Bilder, sie besuchten die Ausstellungen und wurden mit ihrem beweglicheren, von Tradition weniger belasteten Verständnis überall die Förderer und Vorkämpfer alles Neuen. Fast alle großen Kunstsammlungen des neunzehnten Jahrhunderts waren von ihnen geformt, fast alle künstlerischen Versuche nur durch sie ermöglicht; ohne das unablässige stimulierende Interesse der jüdischen Bourgeoisie wäre Wien dank der Indolenz des Hofes, der Aristokratie und der christlichen Millionäre, die sich lieber Rennställe und Jagden hielten, als die Kunst zu fördern, in gleichem Maße künstlerisch hinter Berlin zurückgeblieben wie Österreich politisch hinter dem Deutschen Reich. Wer in Wien etwas Neues durchsetzen wollte, wer als Gast von außen in Wien Verständnis und ein Publikum suchte, war auf diese jüdische Bourgeoisie angewiesen; als ein einziges Mal in der antisemitischen Zeit versucht wurde, ein sogenanntes ›nationales‹ Theater zu begründen, fanden sich weder die Autoren ein, noch die Schauspieler, noch ein Publikum; nach wenigen Monaten brach das ›nationale Theater‹ jämmerlich zusammen, und gerade an diesem Exempel wurde zum ersten Male offenbar: neun Zehntel von dem, was die Welt als Wiener Kultur des neunzehnten Jahrhunderts feierte, war eine vom Wiener Judentum geförderte, genährte, oder sogar schon selbstgeschaffene Kultur.


Denn gerade in den letzten Jahren war – ähnlich wie in Spanien vor dem gleich tragischen Untergang – das Wiener Judentum künstlerisch produktiv geworden, allerdings keineswegs in einer spezifischen jüdischen Weise, sondern indem es durch ein Wunder der Einfühlung dem Österreichischen, dem Wienerischen den intensivsten Ausdruck gab. Goldmark, Gustav Mahler und Schönberg wurden in der schöpferischen Musik internationale Gestalten, Oscar Straus, Leo Fall, Kêlmên brachten die Tradition des Walzers und der Operette zu einer neuen Blüte, Hofmannsthal, Arthur Schnitzler, Beer-Hofmann, Peter Altenberg gaben der Wiener Literatur einen europäischen Rang, wie sie ihn nicht einmal unter Grillparzer und Stifter besessen, Sonnenthal, Max Reinhardt erneuerten den Ruhm der Theaterstadt über die ganze Erde, Freud und die großen Kapazitäten der Wissenschaft lenkten die Blicke auf die altberühmte Universität – überall, als Gelehrte, als Virtuosen, als Maler, als Regisseure und Architekten, als Journalisten behaupteten sie im geistigen Leben Wiens unbestritten hohe und höchste Stellen. Durch ihre leidenschaftliche Liebe zu dieser Stadt, durch ihren Willen zur Angleichung hatten sie sich vollkommen angepaßt und waren glücklich, dem Ruhme Österreichs zu dienen; sie fühlten ihr Österreichertum als eine Mission vor der Welt, und – man muß es um der Ehrlichkeit willen wiederholen – ein Gutteil, wenn nicht das Großteil all dessen, was Europa, was Amerika als den Ausdruck einer neu aufgelebten österreichischen Kultur heute bewundert in der Musik, in der Literatur, im Theater, im Kunstgewerbe ist aus dem Wiener Judentum geschaffen gewesen, das selbst wieder in dieser Entäußerung eine höchste Leistung seines jahrtausendalten geistigen Triebes erreichte. Eine durch Jahrhunderte weglose intellektuelle Energie verband sich hier einer schon etwas müde gewordenen Tradition, nährte, belebte, steigerte, erfrischte sie mit neuer Kraft und durch unermüdliche Regsamkeit; erst die nächsten Jahrzehnte werden erweisen, welches Verbrechen an Wien begangen wurde, indem man diese Stadt, deren Sinn und Kultur gerade in der Begegnung der heterogensten Elemente, in ihrer geistigen Übernationalität bestand, gewalttätig zu nationalisieren und zu provinzialisieren suchte. Denn das Genie Wiens – ein spezifisch musikalisches – war von je gewesen, daß es alle volkhaften, alle sprachlichen Gegensätze in sich harmonisierte, seine Kultur eine Synthese aller abendländischen Kulturen; wer dort lebte und wirkte, fühlte sich frei von Enge und Vorurteil. Nirgends war es leichter, Europäer zu sein, und ich weiß, daß ich es zum Teil dieser Stadt zu danken habe, die schon zu Marc Aurels Zeiten den römischen, den universalen Geist verteidigt, daß ich frühzeitig gelernt, die Idee der Gemeinschaft als die höchste meines Herzens zu lieben.


Man lebte gut, man lebte leicht und unbesorgt in jenem alten Wien, und die Deutschen im Norden sahen etwas ärgerlich und verächtlich auf uns Nachbarn an der Donau herab, die, statt ›tüchtig‹ zu sein und straffe Ordnung zu halten, sich genießerisch leben ließen, gut aßen, sich an Festen und Theatern freuten und dazu vortreffliche Musik machten. Statt der deutschen ›Tüchtigkeit‹, die schließlich allen andern Völkern die Existenz verbittert und verstört hat, statt dieses gierigen Allen-andern-vorankommen-Wollens und Vorwärtsjagens liebte man in Wien gemütlich zu plaudern, pflegte ein behagliches Zusammensein und ließ in einer gutmütigen und vielleicht laxen Konzilianz jedem ohne Mißgunst seinen Teil. ›Leben und leben lassen‹ war der berühmte Wiener Grundsatz, ein Grundsatz, der mir noch heute humaner erscheint als alle kategorischen Imperative, und er setzte sich unwiderstehlich in allen Kreisen durch. Arm und reich, Tschechen und Deutsche, Juden und Christen wohnten trotz gelegentlicher Hänseleien friedlich beisammen, und selbst die politischen und sozialen Bewegungen entbehrten jener grauenhaften Gehässigkeit, die erst als giftiger Rückstand vom ersten Weltkrieg in den Blutkreislauf der Zeit eingedrungen ist. Man bekämpfte sich im alten Österreich chevaleresk, man beschimpfte sich zwar in den Zeitungen, im Parlament, aber dann saßen nach ihren ciceronianischen Tiraden dieselben Abgeordneten freundschaftlich beisammen beim Bier oder Kaffee und duzten einander; selbst als Lueger als Führer der antisemitischen Partei Bürgermeister der Stadt wurde, änderte sich im privaten Verkehr nicht das mindeste, und ich persönlich muß bekennen, weder in der Schule, noch auf der Universität, noch in der Literatur jemals die geringste Hemmung oder Mißachtung als Jude erfahren zu haben. Der Haß von Land zu Land, von Volk zu Volk, von Tisch zu Tisch sprang einen noch nicht täglich aus der Zeitung an, er sonderte nicht Menschen von Menschen und Nationen von Nationen; noch war jenes Herden- und Massengefühl nicht so widerwärtig mächtig im öffentlichen Leben wie heute; Freiheit im privaten Tun und Lassen galt als eine – heute kaum mehr vorstellbare – Selbstverständlichkeit; man sah auf Duldsamkeit nicht wie heute als eine Weichlichkeit und Schwächlichkeit herab, sondern rühmte sie als eine ethische Kraft.


Denn es war kein Jahrhundert der Leidenschaft, in dem ich geboren und erzogen wurde. Es war eine geordnete Welt mit klaren Schichtungen und gelassenen Übergängen, eine Welt ohne Hast. Der Rhythmus der neuen Geschwindigkeiten hatte sich noch nicht von den Maschinen, von dem Auto, dem Telephon, dem Radio, dem Flugzeug auf den Menschen übertragen, Zeit und Alter hatten ein anderes Maß. Man lebte gemächlicher, und wenn ich versuche, mir bildhaft die Figuren der Erwachsenen zu erwecken, die um meine Kindheit standen, so fällt mir auf, wie viele unter ihnen frühzeitig korpulent waren. Mein Vater, mein Onkel, meine Lehrer, die Verkäufer in den Geschäften, die Philharmoniker an ihren Pulten waren mit vierzig Jahren alle schon beleibte, ›würdige‹ Männer. Sie gingen langsam, sie sprachen gemessen und strichen im Gespräch sich die wohlgepflegten, oft schon angegrauten Bärte. Aber graues Haar war nur ein neues Zeichen für Würde, und ein ›gesetzter‹ Mann vermied bewußt die Gesten und den Übermut der Jugend als etwas Ungehöriges. Selbst in meiner frühesten Kindheit, als mein Vater noch nicht vierzig Jahre alt war, kann ich mich nicht entsinnen, ihn je eine Treppe hastig hinauf- oder hinunterlaufen gesehen zu haben oder überhaupt etwas in sichtbarer Form hastig tun. Eile galt nicht nur als unfein, sie war in der Tat überflüssig, denn in dieser bürgerlich stabilisierten Welt mit ihren unzähligen kleinen Sicherungen und Rückendeckungen geschah niemals etwas Plötzliches; was von Katastrophen sich allenfalls draußen an der Weltperipherie ereignete, drang nicht durch die gut gefütterte Wand des ›gesicherten‹ Lebens. Der Burenkrieg, der japanisch-russische Krieg, selbst der Balkankrieg reichten nicht einen Zoll tief in die Existenz meiner Eltern hinein. Sie überschlugen alle Schlachtberichte in der Zeitung ebenso gleichgültig wie die Sportrubrik. Und wirklich, was ging sie das an, was außerhalb Österreichs geschah, was veränderte es in ihrem Leben? In ihrem Österreich gab es in jener windstillen Epoche keine Staatsumwälzung, keine jähen Wertzerstörungen; wenn einmal an der Börse die Papiere vier oder fünf Prozent verloren, nannte man es schon einen ›Krach‹ und sprach mit gefalteter Stirn über die ›Katastrophe‹. Man klagte mehr aus Gewohnheit als aus wirklicher Überzeugung über die ›hohen‹ Steuern, die de facto im Vergleich zu denen des Nachkriegs nur eine Art kleinen Trinkgelds an den Staat bedeuteten. Man stipulierte noch in den Testamenten auf das genaueste, wie man Enkel und Urenkel vor jedem Vermögensverlust schützen könnte, als sei durch einen unsichtbaren Schuldschein Sicherheit von den ewigen Mächten garantiert, und dazwischen lebte man behaglich und streichelte seine kleinen Sorgen wie gute, gehorsame Haustiere, vor denen man sich im Grunde nicht fürchtete. Immer darum, wenn mir der Zufall eine alte Zeitung aus jenen Tagen in die Hände spielt und ich die aufgeregten Artikel lese über eine kleine Gemeinderatswahl, wenn ich die Burgtheaterstücke mit ihren winzigen Problemchen mir zurückzuerinnern suche oder die unproportionierte Erregung unserer jugendlichen Diskussionen über im Grund belanglose Dinge, muß ich unwillkürlich lächeln. Wie liliputanisch waren alle diese Sorgen, wie windstill jene Zeit! Sie hat es besser getroffen, jene Generation meiner Eltern und Großeltern, sie hat still, gerade und klar ihr Leben von einem bis zum andern Ende gelebt. Aber dennoch, ich weiß nicht, ob ich sie darum beneide. Denn wie jenseits haben sie damit von allen wahrhaften Bitternissen, von den Tücken und Mächten des Schicksals dahingedämmert, wie vorbeigelebt an all jenen Krisen und Problemen, die das Herz zerdrücken, aber zugleich großartig erweitern! Wie wenig haben sie gewußt durch ihr Verhaspeltsein in Sicherheit und Besitz und Behaglichkeit, daß Leben auch Übermaß und Spannung sein kann, ein ewiges Überraschtsein und aus allen Angeln Gehobensein; wie wenig in ihrem rührenden Liberalismus und Optimismus haben sie geahnt, daß jeder nächste Tag, der vor dem Fenster graut, unser Leben zerschmettern kann. Selbst in ihren schwärzesten Nächten vermochten sie sich nicht auszuträumen, wie gefährlich der Mensch werden kann, aber ebensowenig auch, wieviel Kraft er hat, Gefahren zu überstehen und Prüfungen zu überwinden. Wir, gejagt durch alle Stromschnellen des Lebens, wir, gerissen aus allen Wurzeln unseres Verbundenseins, wir, immer neu beginnend, wo wir an ein Ende getrieben werden, wir, Opfer und doch auch willige Diener unbekannter mystischer Mächte, wir, für die Behaglichkeit eine Sage geworden ist und Sicherheit ein kindlicher Traum, – wir haben die Spannung von Pol zu Pol und den Schauer des ewig Neuen bis in jede Faser unseres Leibes gefühlt. Jede Stunde unserer Jahre war dem Weltgeschick verbunden. Leidend und lustvoll haben wir weit über unsere kleine Existenz hinaus Zeit und Geschichte gelebt, während jene sich in sich selber begrenzten. Jeder einzelne darum von uns, auch der Geringste unseres Geschlechts, weiß heute tausendmal mehr von den Wirklichkeiten als die Weisesten unserer Ahnen. Aber nichts war uns geschenkt; wir haben voll und gültig den Preis dafür gezahlt.

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Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.