Eros Matutinus
Während dieser acht Jahre der höheren Schule ereignete sich für jeden von uns ein höchst persönliches Faktum: wir wurden aus zehnjährigen Kindern allmählich sechzehnjährige, siebzehnjährige, achtzehnjährige mannbare junge Menschen, und die Natur begann ihre Rechte anzumelden. Dieses Erwachen der Pubertät scheint nun ein durchaus privates Problem, das jeder heranwachsende Mensch auf seine eigene Weise mit sich auszukämpfen hat, und für den ersten Blick keineswegs zu öffentlicher Erörterung geeignet. Für unsere Generation aber wuchs jene Krise über ihre eigentliche Sphäre hinaus. Sie zeigte zugleich ein Erwachen in einem anderen Sinne, denn sie lehrte uns zum erstenmal jene gesellschaftliche Welt, in der wir aufgewachsen waren, und ihre Konventionen mit kritischerem Sinn zu beobachten. Kinder und selbst junge Leute sind im allgemeinen geneigt, sich zunächst den Gesetzen ihres Milieus respektvoll anzupassen. Aber sie unterwerfen sich den ihnen anbefohlenen Konventionen nur insolange, als sie sehen, daß diese auch von allen andern ehrlich innegehalten werden. Eine einzige Unwahrhaftigkeit bei Lehrern oder Eltern treibt den jungen Menschen unvermeidlich an, seine ganze Umwelt mit mißtrauischem und damit schärferem Blick zu betrachten. Und wir brauchten nicht lange, um zu entdecken, daß alle jene Autoritäten, denen wir bisher Vertrauen geschenkt, daß Schule, Familie und die öffentliche Moral in diesem einen Punkt der Sexualität sich merkwürdig unaufrichtig gebärdeten – und sogar mehr noch: daß sie auch von uns in diesem Belange Heimlichkeit und Hinterhältigkeit forderten.
Denn man dachte anders über die Dinge vor dreißig und vierzig Jahren als in unserer heutigen Welt. Vielleicht auf keinem Gebiete des öffentlichen Lebens hat sich durch eine Reihe von Faktoren – die Emanzipation der Frau, die Freudsche Psychoanalyse, den sportlichen Körperkult, die Verselbständigung der Jugend – innerhalb eines einzigen Menschenalters eine so totale Verwandlung vollzogen wie in den Beziehungen der Geschlechter zueinander. Versucht man den Unterschied der bürgerlichen Moral des neunzehnten Jahrhunderts, die im wesentlichen eine victorianische war, gegenüber den heute gültigen, freieren und unbefangeneren Anschauungen zu formulieren, so kommt man der Sachlage vielleicht am nächsten, wenn man sagt, daß jene Epoche dem Problem der Sexualität aus dem Gefühl der inneren Unsicherheit ängstlich auswich. Frühere, noch ehrlich religiöse Zeitalter, insbesondere die streng puritanischen, hatten es sich leichter gemacht. Durchdrungen von der redlichen Überzeugung, daß sinnliches Verlangen der Stachel des Teufels sei und körperliche Lust Unzucht und Sünde, hatten die Autoritäten des Mittelalters das Problem gerade angegangen und mit schroffem Verbot und – besonders im calvinistischen Genf – mit grausamen Strafen ihre harte Moral durchgezwungen. Unser Jahrhundert dagegen, als eine tolerante, längst nicht mehr teufelsgläubige und kaum mehr gottgläubige Epoche brachte nicht mehr den Mut auf zu einem solchen radikalen Anathema, aber es empfand die Sexualität als ein anarchisches und darum störendes Element, das sich nicht in ihre Ethik eingliedern ließ, und das man nicht am lichten Tage schalten lassen dürfe, weil jede Form einer freien, einer außerehelichen Liebe dem bürgerlichen ›Anstand‹ widersprach. In diesem Zwiespalt erfand nun jene Zeit ein sonderbares Kompromiß. Sie beschränkte ihre Moral darauf, dem jungen Menschen zwar nicht zu verbieten, seine vita sexualis auszuüben, aber sie forderte, daß er diese peinliche Angelegenheit in irgendeiner unauffälligen Weise erledigte. War die Sexualität schon nicht aus der Welt zu schaffen, so sollte sie wenigstens innerhalb ihrer Welt der Sitte nicht sichtbar sein. Es wurde also die stillschweigende Vereinbarung getroffen, den ganzen ärgerlichen Komplex weder in der Schule, noch in der Familie, noch in der Öffentlichkeit zu erörtern und alles zu unterdrücken, was an sein Vorhandensein erinnern könnte.
Für uns, die wir seit Freud wissen, daß, wer natürliche Triebe aus dem Bewußtsein zu verdrängen sucht, sie damit keineswegs beseitigt, sondern nur ins Unterbewußtsein gefährlich verschiebt, ist es leicht, heute über die Unbelehrtheit jener naiven Verheimlichungstechnik zu lächeln. Aber das ganze neunzehnte Jahrhundert war redlich in dem Wahn befangen, man könne mit rationalistischer Vernunft alle Konflikte lösen, und je mehr man das Natürliche verstecke, desto mehr temperiere man seine anarchischen Kräfte; wenn man also junge Leute durch nichts über ihr Vorhandensein aufkläre, würden sie ihre eigene Sexualität vergessen. In diesem Wahn, durch Ignorieren zu temperieren, vereinten sich alle Instanzen zu einem gemeinsamen Boykott durch hermetisches Schweigen. Schule und kirchliche Seelsorge, Salon und Justiz, Zeitung und Buch, Mode und Sitte vermieden prinzipiell jedwede Erwähnung des Problems, und schmählicherweise schloß sich sogar die Wissenschaft, deren eigentliche Aufgabe es doch sein sollte, an alle Probleme gleich unbefangen heranzutreten, diesem ›naturalia sunt turpia‹ an. Auch sie kapitulierte unter dem Vorwand, es sei unter der Würde der Wissenschaft, solche skabrösen Themen zu behandeln. Wo immer man in den Büchern jener Zeit nachblättert, in den philosophischen, juristischen und sogar in den medizinischen, wird man übereinstimmend finden, daß jeder Erörterung ängstlich aus dem Wege gegangen wird. Wenn Strafrechtsgelehrte bei Kongressen die Humanisierungsmethoden in den Gefängnissen und die moralischen Schädigungen des Zuchthauslebens diskutierten, huschten sie an dem eigentlich zentralen Problem scheu vorbei. Ebensowenig wagten Nervenärzte, obwohl sie sich in vielen Fällen über die Ätiologie mancher hysterischen Erkrankung vollkommen im klaren waren, den Sachverhalt zuzugeben, und man lese bei Freud nach, wie selbst sein verehrter Lehrer Charcot ihm privatim gestand, daß er die wahre Causa wohl kenne, nie aber öffentlich verlautbart habe. Am allerwenigsten durfte sich die – damals so benannte – ›schöne‹ Literatur an aufrichtige Darstellungen wagen, weil ihr ausschließlich das Ästhetisch-Schöne als Domäne zugewiesen war. Während in früheren Jahrhunderten der Schriftsteller sich nicht scheute, ein ehrliches und umfassendes Kulturbild seiner Zeit zu geben, während man bei Defoe, bei Abbé Prévost, bei Fielding und Rétif de la Bretonne noch unverfälschten Schilderungen der wirklichen Zustände begegnet, meinte jene Epoche nur das ›Gefühlvolle‹ und das ›Erhabene‹ zeigen zu dürfen, nicht aber auch das Peinliche und das Wahre. Von allen Fährnissen, Dunkelheiten, Verwirrungen der Großstadtjugend findet man darum in der Literatur des neunzehnten Jahrhunderts kaum einen flüchtigen Niederschlag. Selbst wenn ein Schriftsteller kühn die Prostitution erwähnte, so glaubte er sie veredeln zu müssen und parfümierte die Heldin zur ›Kameliendame‹. Wir stehen also vor der sonderbaren Tatsache, daß, wenn ein junger Mensch von heute, um zu wissen, wie die Jugend der vorigen und vorvorigen Generation sich durchs Leben kämpfte, die Romane auch der größten Meister jener Zeit aufschlägt, die Werke von Dickens und Thackeray, Gottfried Keller und Björnson, er – außer bei Tolstoi und Dostojewskij, die als Russen jenseits des europäischen Pseudo-Idealismus standen – ausschließlich sublimierte und temperierte Begebnisse dargestellt findet, weil diese ganze Generation durch den Druck der Zeit in ihrer freien Aussage gehemmt war. Und nichts zeigt deutlicher die fast schon hysterische Überreiztheit dieser Vorvätermoral und ihre heute schon unvorstellbare Atmosphäre, als daß selbst diese literarische Zurückhaltung noch nicht genügte. Denn kann man es noch fassen, daß ein so durchaus sachlicher Roman wie ›Madame Bovary‹ von einem öffentlichen französischen Gericht als unzüchtig verboten wurde? Daß in der Zeit meiner Jugend Zolas Romane als pornographisch galten oder ein so ruhiger klassizistischer Epiker wie Thomas Hardy Stürme der Entrüstung in England und Amerika erregte? So zurückhaltend sie waren, diese Bücher hatten schon zuviel verraten von den Wirklichkeiten.
Aber in dieser ungesund stickigen, mit parfümierter Schwüle durchsättigten Luft sind wir aufgewachsen. Diese unehrliche und unpsychologische Moral des Verschweigens und Versteckens war es, die wie ein Alp auf unserer Jugend gelastet hat, und da die richtigen literarischen und kulturgeschichtlichen Dokumente dank dieser solidarischen Verschweigetechnik fehlen, mag es nicht leicht sein, das schon unglaubwürdig Gewordene zu rekonstruieren. Ein gewisser Anhaltspunkt ist allerdings gegeben; man braucht bloß auf die Mode zu blicken, denn jede Mode eines Jahrhunderts verrät mit ihrer optisch gewordenen Geschmacksrichtung unwillkürlich auch seine Moral. Es kann nun wahrhaftig nicht Zufall genannt werden, daß heute, 1940, wenn im Kino Frauen und Männer der Gesellschaft von 1900 in ihren damaligen Kostümen auf der Leinwand erscheinen, das Publikum in jeder Stadt, jedem Dorf Europas oder Amerikas unisono in unaufhaltsame Heiterkeit ausbricht. Als Karikaturen belachen auch die naivsten Menschen von heute diese sonderbaren Gestalten von gestern – als unnatürlich, unbequem, unhygienisch, unpraktisch kostümierte Narren; sogar uns, die wir unsere Mütter und Tanten und Freundinnen in diesen absurden Roben noch gekannt haben, die wir selbst in unserer Knabenzeit ebenso lächerlich gewandet gingen, scheint es gespenstischer Traum, daß eine ganze Generation sich widerspruchslos solch einer stupiden Tracht unterwerfen konnte. Schon die Männermode der hohen steifen Kragen, der ›Vatermörder‹, die jede lockere Bewegung unmöglich machten, der schwarzen schweifwedelnden Bratenröcke und der an Ofenröhren erinnernden Zylinderhüte fordert zur Heiterkeit heraus, aber wie erst die ›Dame‹ von einst in ihrer mühseligen und gewaltsamen, ihrer in jeder Einzelheit die Natur vergewaltigenden Aufmachung! In der Mitte des Körpers wie eine Wespe abgeschnürt durch ein Korsett aus Fischbein, den Unterkörper wiederum weit aufgebauscht zu einer riesigen Glocke, den Hals hoch verschlossen bis an das Kinn, die Füße bedeckt bis hart an die Zehen, das Haar mit unzähligen Löckchen und Schnecken und Flechten aufgetürmt unter einem majestätisch schwankenden Hutungetüm, die Hände selbst im heißesten Sommer in Handschuhe gestülpt, wirkt dies heute längst historische Wesen ›Dame‹ trotz des Parfüms, das seine Nähe umwölkte, trotz des Schmucks, mit dem es beladen war, und der kostbarsten Spitzen, der Rüschen und Behänge als ein unseliges Wesen von bedauernswerter Hilflosigkeit. Auf den ersten Blick wird man gewahr, daß eine Frau, einmal in eine solche Toilette verpanzert wie ein Ritter in seine Rüstung, nicht mehr frei, schwunghaft und grazil sich bewegen konnte, daß jede Bewegung, jede Geste und in weiterer Auswirkung ihr ganzes Gehabe in solchem Kostüm künstlich, unnatürlich, widernatürlich werden mußte. Schon die bloße Aufmachung zur ›Dame‹ – geschweige denn die gesellschaftliche Erziehung – das Anziehen und Ausziehen dieser Roben bedeutete eine umständliche Prozedur, die ohne fremde Hilfe gar nicht möglich war. Erst mußten hinten von der Taille bis zum Hals unzählige Haken und Ösen zugemacht werden, das Korsett mit aller Kraft der bedienenden Zofe zugezogen, das lange Haar – ich erinnere junge Leute daran, daß vor dreißig Jahren außer ein paar Dutzend russischer Studentinnen jede Frau Europas ihr Haar bis zu den Hüften entrollen konnte – von einer täglich berufenen Friseuse mit einer Legion von Haarnadeln, Spangen und Kämmen unter Zuhilfenahme von Brennschere und Lockenwicklern gekräuselt, gelegt, gebürstet, gestrichen, getürmt werden, ehe man sie mit den Zwiebelschalen von Unterröcken, Kamisolen, Jacken und Jäckchen so lange umbaute und gewandete, bis der letzte Rest ihrer fraulichen und persönlichen Formen völlig verschwunden war. Aber dieser Unsinn hatte seinen geheimen Sinn. Die Körperlinie einer Frau sollte durch diese Manipulationen so völlig verheimlicht werden, daß selbst der Bräutigam beim Hochzeitsmahl nicht im entferntesten ahnen konnte, ob seine zukünftige Lebensgefährtin gerade oder krumm gewachsen war, füllig oder mager, kurzbeinig oder langbeinig; diese ›moralische‹ Zeit betrachtete es auch keineswegs als unerlaubt, zum Zwecke der Täuschung und zur Anpassung an das allgemeine Schönheitsideal künstliche Verstärkungen des Haars, des Busens oder anderer Körperteile vorzunehmen. Je mehr eine Frau als ›Dame‹ wirken sollte, um so weniger durften ihre natürlichen Formen erkennbar sein; im Grunde diente die Mode mit diesem ihrem absichtlichen Leitsatz doch nur gehorsam der allgemeinen Moraltendenz der Zeit, deren Hauptsorge das Verdecken und Verstecken war.
Aber diese weise Moral vergaß völlig, daß, wenn man dem Teufel die Tür versperrt, er sich meist durch den Rauchfang oder eine Hintertür Einlaß erzwingt. Was unserem unbefangenen Blick heutigen Tages an diesen Trachten auffällt, die verzweifelt jede Spur nackter Haut und ehrlichen Wuchses verdecken wollten, ist keineswegs ihre Sittlichkeit, sondern im Gegenteil, wie bis zur Peinlichkeit provokatorisch jene Mode die Polarität der Geschlechter herausarbeitete. Während der junge Mann und die junge Frau unserer Zeit, beide hochgewachsen und schlank, beide bartlos und kurzen Haars, schon an ihrer äußeren Erscheinung sich kameradschaftlich einander anpassen, distanzierten sich in jener Epoche die Geschlechter, so sehr sie es nur vermochten. Die Männer trugen lange Bärte zur Schau oder zwirbelten zum mindesten einen mächtigen Schnurrbart als weithin erkennbares Attribut ihrer Männlichkeit empor, während bei der Frau das Korsett das wesentlich weibliche Geschlechtsmerkmal des Busens ostentativ sichtbar machte. Überbetont war das sogenannte starke Geschlecht gegenüber dem schwachen Geschlecht auch in der Haltung, die man von ihm verlangte, der Mann forsch, ritterlich und aggressiv, die Frau scheu, schüchtern und defensiv, Jäger und Beute, statt gleich und gleich. Durch diese unnatürliche Auseinanderspannung im äußeren Habitus mußte auch die innere Spannung zwischen den Polen, die Erotik, sich verstärken, und so erreichte dank ihrer unpsychologischen Methode des Verhüllens und Verschweigens die Gesellschaft von damals genau das Gegenteil. Denn da sie in ihrer unablässigen Angst und Prüderie dem Unsittlichen in allen Formen des Lebens, Literatur, Kunst, Kleidung ständig nachspürte, um jede Anreizung zu verhüten, war sie eigentlich gezwungen, unablässig an das Unsittliche zu denken. Da sie ununterbrochen forschte, was unpassend sein könnte, befand sie sich in einem unablässigen Zustand des Aufpassens; immer schien der damaligen Welt der ›Anstand‹ in tödlicher Gefahr: bei jeder Geste, bei jedem Wort. Vielleicht wird man heute noch verstehen, daß es in jener Zeit als Verbrechen gegolten, wenn eine Frau bei Sport oder Spiel eine Hose angelegt hätte. Aber wie die hysterische Prüderie begreiflich machen, daß eine Dame das Wort ›Hose‹ damals überhaupt nicht über die Lippen bringen durfte? Sie mußte, wenn sie schon der Existenz eines so sinnengefährlichen Objekts wie einer Männerhose überhaupt Erwähnung tat, dafür das unschuldige ›Beinkleid‹ oder die eigens erfundene ausweichende Bezeichnung ›Die Unaussprechlichen‹ wählen. Daß etwa ein paar junge Leute gleichen Standes, aber verschiedenen Geschlechtes, unbewacht einen Ausflug hätten unternehmen dürfen, war völlig undenkbar – oder vielmehr, der erste Gedanke war, es könnte dabei etwas ›passieren‹. Ein solches Zusammensein wurde höchstens zulässig, wenn irgendwelche Aufsichtspersonen, Mütter oder Gouvernanten, die jungen Leute Schritt für Schritt begleiteten. Daß junge Mädchen auch im heißesten Sommer Tennis in fußfreien Kleidern oder gar mit nackten Armen spielten, hätte als skandalös gegolten, und wenn eine wohlgesittete Frau in Gesellschaft die Füße überschlug, empfand die ›Sitte‹ dies als grauenhaft anstößig, weil dadurch ihre Knöchel unter dem Kleidersaum hätten entblößt werden können. Selbst den Elementen der Natur, selbst Sonne, Wasser und Luft, war es nicht gegönnt, die nackte Haut einer Frau zu berühren. Im freien Meer quälten sie sich mühsam vorwärts in schweren Kostümen, bekleidet vom Hals bis zur Ferse, in den Pensionaten und Klöstern mußten die jungen Mädchen, um zu vergessen, daß sie einen Körper besaßen, sogar ihr häusliches Bad in langen, weißen Hemden nehmen. Es ist durchaus keine Legende oder Übertreibung, daß Frauen als alte Damen starben, von deren Körper außer dem Geburtshelfer, dem Gatten und Leichenwäscher niemand auch nur die Schulterlinie oder das Knie gesehen. All das erscheint heute nach vierzig Jahren als Märchen oder humoristische Übertreibung. Aber diese Angst vor allem Körperlichen und Natürlichen war tatsächlich von den obersten Ständen bis tief in das ganze Volk mit der Vehemenz einer wirklichen Neurose eingedrungen. Denn kann man es sich heute noch vorstellen, daß um die Jahrhundertwende, als die ersten Frauen sich auf das Fahrrad oder gar beim Reiten in den Herrensitz wagten, die Bauern mit Steinen auf die Verwegenen warfen? Daß in einer Zeit, da ich noch zur Schule ging, die Wiener Zeitungen spaltenlange Diskussionen führten über die vorgeschlagene, grauenhaft unsittliche Neuerung, die Ballerinen der Hofoper sollten ohne Trikotstrümpfe tanzen? Daß es eine Sensation ohnegleichen wurde, als Isidora Duncan in ihren doch höchst klassischen Tänzen zum erstenmal unter der weißen, glücklicherweise tief hinabwallenden Tunika statt der üblichen Seidenschühchen ihre nackten Sohlen zeigte? Und nun denke man sich junge Menschen, die in einer solchen Zeit wachen Blicks heranwuchsen, und wie lächerlich ihnen diese Ängste um den ewig bedrohten Anstand erscheinen mußten, sobald sie einmal erkannt hatten, daß das sittliche Mäntelchen, das man geheimnisvoll um diese Dinge hängen wollte, doch höchst fadenscheinig und voller Risse und Löcher war. Schließlich ließ es sich doch nicht vermeiden, daß einer von den fünfzig Gymnasiasten seinen Professor in einer jener dunklen Gassen traf, oder man im Familienkreise erlauschte, dieser oder jener, der vor uns besonders hochachtbar tat, habe verschiedene Sündenfälle auf dem Kerbholz. In Wirklichkeit steigerte und verschwülte nichts unsere Neugier dermaßen wie jene ungeschickte Technik des Verbergens; und da man dem Natürlichen nicht frei und offen seinen Lauf lassen wollte, schuf sich die Neugier in einer Großstadt ihre unterirdischen und meist nicht sehr sauberen Abflüsse. In allen Ständen spürte man durch diese Unterdrückung bei der Jugend eine unterirdische Überreizung, die sich in kindischer und hilfloser Art auswirkte. Kaum fand sich ein Zaun oder ein verschwiegenes Gelaß, das nicht mit unanständigen Worten und Zeichnungen beschmiert war, kaum ein Schwimmbad, in dem die Holzwände zum Damenbad nicht von sogenannten Astlochguckern durchbohrt waren. Ganze Industrien, die heute durch die Vernatürlichung der Sitten längst zugrunde gegangen sind, standen in heimlicher Blüte, vor allem die jener Akt- und Nacktphotographien, die in jedem Wirtshaus Hausierer unter dem Tisch den halbwüchsigen Burschen anboten. Oder die der pornographischen Literatur ›sous le manteau‹ – da die ernste Literatur zwangsweise idealistisch und vorsichtig sein mußte – Bücher allerschlimmster Sorte, auf schlechtem Papier gedruckt, in schlechter Sprache geschrieben und doch reißenden Absatz findend, sowie Zeitschriften ›pikanter Art‹, wie sie ähnlich widerlich und lüstern heute nicht mehr zu finden sind. Neben dem Hoftheater, das dem Zeitideal mit all seinem Edelsinn und seiner schneeweißen Reinheit zu dienen hatte, gab es Theater und Kabaretts, die ausschließlich der ordinärsten Zote dienten; überall schuf sich das Gehemmte Abwege, Umwege und Auswege. So war im letzten Grund jene Generation, der man jede Aufklärung und jedes unbefangene Beisammensein mit dem anderen Geschlecht prüde untersagte, tausendmal erotischer disponiert als die Jugend von heute mit ihrer höheren Liebesfreiheit. Denn nur das Versagte beschäftigt das Gelüst, nur das Verbotene irritiert das Verlangen, und je weniger die Augen zu sehen, die Ohren zu hören bekamen, um so mehr träumten die Gedanken. Je weniger Luft, Licht und Sonne man an den Körper heranließ, um so mehr verschwülten sich die Sinne. In summa hat jener gesellschaftliche Druck auf unsere Jugend statt einer höheren Sittlichkeit nur Mißtrauen und Erbitterung in uns gegen alle diese Instanzen gezeitigt. Vom ersten Tag unseres Erwachens fühlten wir instinktiv, daß mit ihrem Verschweigen und Verdecken diese unehrliche Moral uns etwas nehmen wollte, was rechtens unserem Alter zugehörte und daß sie unseren Willen zur Ehrlichkeit aufopferte einer längst unwahr gewordenen Konvention.
Diese ›gesellschaftliche Moral‹, die einerseits das Vorhandensein der Sexualität und ihren natürlichen Ablauf privatim voraussetzte, anderseits öffentlich um keinen Preis anerkennen wollte, war aber sogar doppelt verlogen. Denn während sie bei jungen Männern ein Auge zukniff und sie mit dem andern sogar zwinkernd ermutigte, ›sich die Hörner abzulaufen‹, wie man in dem gutmütig spottenden Familienjargon jener Zeit sagte, schloß sie gegenüber der Frau ängstlich beide Augen und stellte sich blind. Daß ein Mann Triebe empfinde und empfinden dürfe, mußte sogar die Konvention stillschweigend zugeben. Daß aber eine Frau gleichfalls ihnen unterworfen sein könne, daß die Schöpfung zu ihren ewigen Zwecken auch einer weiblichen Polarität bedürfe, dies ehrlich zuzugeben, hätte gegen den Begriff der ›Heiligkeit der Frau‹ verstoßen. Es wurde also in der vorfreudianischen Zeit die Vereinbarung als Axiom durchgesetzt, daß ein weibliches Wesen keinerlei körperliches Verlangen habe, solange es nicht vom Manne geweckt werde, was aber selbstverständlich offiziell nur in der Ehe erlaubt war. Da aber die Luft – besonders in Wien – auch in jenen moralischen Zeiten voll gefährlicher erotischer Infektionsstoffe war, mußte ein Mädchen aus gutem Hause von der Geburt bis zu dem Tage, da es mit seinem Gatten den Traualtar verließ, in einer völlig sterilisierten Atmosphäre leben. Um die jungen Mädchen zu schützen, ließ man sie nicht einen Augenblick allein. Sie bekamen eine Gouvernante, die dafür zu sorgen hatte, daß sie gottbewahre nicht einen Schritt unbehütet vor die Haustür traten, sie wurden zur Schule, zur Tanzstunde, zur Musikstunde gebracht und ebenso abgeholt. Jedes Buch, das sie lasen, wurde kontrolliert, und vor allem wurden die jungen Mädchen unablässig beschäftigt, um sie von möglichen gefährlichen Gedanken abzulenken. Sie mußten Klavier üben und Singen und Zeichnen und fremde Sprachen und Kunstgeschichte und Literaturgeschichte lernen, man bildete und überbildete sie. Aber während man versuchte, sie so gebildet und gesellschaftlich wohlerzogen wie nur denkbar zu machen, sorgte man gleichzeitig ängstlich dafür, daß sie über alle natürlichen Dinge in einer für uns heute unfaßbaren Ahnungslosigkeit verblieben. Ein junges Mädchen aus guter Familie durfte keinerlei Vorstellungen haben, wie der männliche Körper geformt sei, nicht wissen, wie Kinder auf die Welt kommen, denn der Engel sollte ja nicht nur körperlich unberührt, sondern auch seelisch völlig ›rein‹ in die Ehe treten. ›Gut erzogen‹ galt damals bei einem jungen Mädchen für vollkommen identisch mit lebensfremd; und diese Lebensfremdheit ist den Frauen jener Zeit manchmal für ihr ganzes Leben geblieben. Noch heute amüsiert mich die groteske Geschichte einer Tante von mir, die in ihrer Hochzeitsnacht um ein Uhr morgens plötzlich wieder in der Wohnung ihrer Eltern erschien und Sturm läutete, sie wolle den gräßlichen Menschen nie mehr sehen, mit dem man sie verheiratet habe, er sei ein Wahnsinniger und ein Unhold, denn er habe allen Ernstes versucht, sie zu entkleiden. Nur mit Mühe habe sie sich vor diesem sichtbar krankhaften Verlangen retten können.
Nun kann ich nicht verschweigen, daß diese Unwissenheit den jungen Mädchen von damals anderseits einen geheimnisvollen Reiz verlieh. Diese unflüggen Geschöpfe ahnten, daß es neben und hinter ihrer eigenen Welt eine andere gäbe, von der sie nichts wußten und nichts wissen durften, und das machte sie neugierig, sehnsüchtig, schwärmerisch und auf eine anziehende Weise verwirrt. Wenn man sie auf der Straße grüßte, erröteten sie – gibt es heute noch junge Mädchen, die erröten? Wenn sie miteinander allein waren, kicherten und tuschelten und lachten sie unablässig wie leicht Betrunkene. Voll Erwartung nach all dem Unbekannten, von dem sie ausgeschlossen waren, träumten sie sich das Leben romantisch aus, waren aber gleichzeitig voll Scham, daß jemand entdecken könnte, wie sehr ihr Körper nach Zärtlichkeiten verlangte, von denen sie nichts Deutliches wußten. Eine Art leiser Verwirrung irritierte unablässig ihr ganzes Gehaben. Sie gingen anders als die Mädchen von heute, deren Körper gestählt sind durch Sport, die sich unbefangen und leicht unter jungen Männern als ihresgleichen bewegen; schon auf tausend Schritte konnte man damals am Gang und am Gebaren ein junges Mädchen von einer Frau unterscheiden, die schon einen Mann gekannt. Sie waren mehr Mädchen, als die Mädchen es heute sind und weniger Frauen, in ihrem Wesen der exotischen Zartheit von Treibhauspflanzen ähnlich, die im Glashaus in einer künstlich überwärmten Atmosphäre und geschützt vor jedem bösen Windhauch aufgezogen werden: das kunstvoll gezüchtete Produkt einer bestimmten Erziehung und Kultur.
Aber so wollte die Gesellschaft von damals das junge Mädchen, töricht und unbelehrt, wohlerzogen und ahnungslos, neugierig und schamhaft, unsicher und unpraktisch, und durch diese lebensfremde Erziehung von vornherein bestimmt, in der Ehe dann willenlos vom Manne geformt und geführt zu werden. Die Sitte schien sie zu behüten als das Sinnbild ihres geheimsten Ideals, als das Symbol der weiblichen Sittsamkeit, der Jungfräulichkeit, der Unirdischkeit. Aber welche Tragik dann, wenn eines dieser jungen Mädchen seine Zeit versäumte, wenn es mit fünfundzwanzig, mit dreißig Jahren noch nicht verheiratet war! Denn die Konvention verlangte erbarmungslos auch von dem dreißigjährigen Mädchen, daß es diesen Zustand der Unerfahrenheit, der Unbegehrlichkeit und Naivität, der ihrem Alter längst nicht mehr gemäß war, um der ›Familie‹ und der ›Sitte‹ willen unverbrüchlich aufrechterhielt. Aber dann verwandelte sich meist das zarte Bild in eine scharfe und grausame Karikatur. Das unverheiratete Mädchen wurde zum ›sitzengebliebenen‹ Mädchen, das sitzengebliebene Mädchen zur ›alten Jungfer‹, an der sich der schale Spott der Witzblätter unablässig übte. Wer heute einen alten Jahrgang der ›Fliegenden Blätter‹ oder eines der anderen humoristischen Organe jener Zeit aufschlägt, wird mit Grauen in jedem Heft die stupidesten Verspottungen alternder Mädchen finden, die, in ihren Nerven verstört, ihr doch natürliches Liebesverlangen nicht zu verbergen wissen. Statt die Tragödie zu erkennen, die sich in diesen geopferten Existenzen vollzog, die um der Familie und ihres guten Namens willen die Forderungen der Natur, das Verlangen nach Liebe und Mutterschaft, in sich unterdrücken mußten, verhöhnte man sie mit einem Unverständnis, das uns heute degoutiert. Aber immer ist eine Gesellschaft am grausamsten gegen jene, die ihr Geheimnis verraten und offenbar machen, wo sie durch Unaufrichtigkeit gegen die Natur einen Frevel begeht.
Versuchte damals die bürgerliche Konvention krampfhaft die Fiktion aufrechtzuerhalten, daß eine Frau aus ›guten Kreisen‹ keine Sexualität besitze und besitzen dürfe, solange sie nicht verheiratet sei – alles andere machte sie zu einer ›unmoralischen Person‹, zu einem Outcast der Familie –, so war man doch immerhin genötigt, bei einem jungen Mann das Vorhandensein solcher Triebe zuzugeben. Da man mannbar gewordene junge Leute erfahrungsgemäß nicht verhindern konnte, ihre vita sexualis auszuüben, beschränkte man sich auf den bescheidenen Wunsch, sie sollten ihre unwürdigen Vergnügungen extra muros der geheiligten Sitte erledigen. Wie die Städte unter den sauber gekehrten Straßen mit ihren schönen Luxusgeschäften und eleganten Promenaden unterirdische Kanalanlagen verbergen, in denen der Schmutz der Kloaken abgeleitet wird, sollte das ganze sexuelle Leben der Jugend sich unsichtbar unter der moralischen Oberfläche der ›Gesellschaft‹ abspielen. Welche Gefahren der junge Mensch sich dabei aussetzte und in welche Sphären er geriet, war gleichgültig, und Schule wie Familie verabsäumten ängstlich, den jungen Mann in dieser Hinsicht aufzuklären. Hie und da nur gab es in den letzten Jahren gewisse vorsorgliche oder, wie man damals sagte, ›aufgeklärt denkende‹ Väter, welche, sobald ihr Sohn die ersten Zeichen sprossenden Bartwuchses trug, ihm auf den richtigen Weg helfen wollten. Dann wurde der Hausarzt gerufen, der gelegentlich den jungen Menschen in ein Zimmer bat, umständlich seine Brille putzte, ehe er einen Vortrag über die Gefährlichkeit der Geschlechtskrankheiten begann und dem jungen Mann, der gewöhnlich zu diesem Zeitpunkte längst sich selbst belehrt hatte, nahelegte, mäßig zu sein und bestimmte Vorsichtsmaßregeln nicht außer acht zu lassen. Andere Väter wandten ein noch sonderbareres Mittel an; sie engagierten für das Haus ein hübsches Dienstmädchen, dem die Aufgabe zufiel, den jungen Burschen praktisch zu belehren. Denn es schien ihnen besser, daß der junge Mensch diese lästige Sache unter ihrem eigenen Dache abtäte, wodurch nach außen hin das Dekorum gewahrt blieb und außerdem die Gefahr ausgeschaltet, daß er irgendeiner ›raffinierten Person‹ in die Hände fallen könnte. Eine Methode der Aufklärung blieb aber in allen Instanzen und Formen entschlossen verpönt: die öffentliche und aufrichtige.
Welche Möglichkeiten ergaben sich nun für einen jungen Menschen der bürgerlichen Welt? In allen anderen, in den sogenannten unteren Ständen war das Problem kein Problem. Auf dem Lande schlief der Knecht schon mit siebzehn Jahren mit einer Magd, und wenn das Verhältnis Folgen zeigte, so hatte das weiter keinen Belang; in den meisten unserer Alpendörfer überstieg die Zahl der unehelichen Kinder weitaus die der ehelichen. Im Proletariat wieder lebte der Arbeiter, ehe er heiraten konnte, mit einer Arbeiterin zusammen in ›wilder Ehe‹. Bei den orthodoxen Juden Galiziens wurde dem Siebenjährigen, also dem kaum mannbaren Jüngling, die Braut zugeführt, und mit vierzig Jahren konnte er bereits Großvater sein. Nur in unserer bürgerlichen Gesellschaft war das eigentliche Gegenmittel, die frühe Ehe, verpönt, weil kein Familienvater seine Tochter einem zweiundzwanzigjährigen oder zwanzigjährigen jungen Menschen anvertraut hätte, denn man hielt einen so ›jungen‹ Mann noch nicht für reif genug. Auch hier enthüllte sich wieder eine innere Unaufrichtigkeit, denn der bürgerliche Kalender stimmte keineswegs mit dem der Natur überein. Während für die Natur mit sechzehn oder siebzehn, wurde für die Gesellschaft ein junger Mann erst mannbar, wenn er sich eine ›soziale Position‹ geschaffen hatte, also kaum vor dem fünfundzwanzigsten oder sechsundzwanzigsten Jahr. So entstand ein künstliches Intervall von sechs, acht oder zehn Jahren zwischen der wirklichen Mannbarkeit und jener der Gesellschaft, innerhalb dessen sich der junge Mann um seine ›Gelegenheiten‹ oder ›Abenteuer‹ selber zu bekümmern hatte.
Dafür gab die damalige Zeit ihm nicht allzu viele Möglichkeiten. Nur ganz wenige, besonders reiche junge Leute konnten sich den Luxus leisten, eine Mätresse ›auszuhalten‹, das heißt, ihr eine Wohnung zu nehmen und für ihren Lebensunterhalt aufzukommen. Ebenso erfüllte sich nur einigen besonders Glücklichen das damalige literarische Liebesideal – das einzige, das in Romanen geschildert werden durfte –, das Verhältnis mit einer verheirateten Frau. Die andern halfen sich meist mit Ladenmädchen und Kellnerinnen aus, was wenig innere Befriedigung bot. Denn in jener Zeit vor der Emanzipation der Frau und ihrer tätigen selbständigen Teilnahme am öffentlichen Leben verfügten nur Mädchen aus allerärmster proletarischer Herkunft über einerseits genug Unbedenklichkeit, anderseits genug Freiheit für solche flüchtigen Beziehungen ohne ernste Heiratsabsichten. Schlecht gekleidet, abgemüdet nach einem zwölfstündigen, jämmerlich bezahlten Tagewerk, ungepflegt (ein Badezimmer war in jenen Zeiten noch das Privileg reicher Familien), und in einem engen Lebenskreise aufgewachsen, standen diese armen Wesen so tief unter dem Niveau ihrer Liebhaber, daß diese sich meist selbst scheuten, öffentlich mit ihnen gesehen zu werden. Zwar hatte für diese Peinlichkeit die vorsorgliche Konvention ihre besonderen Maßnahmen erfunden, die sogenannten Chambres Séparées, wo man mit einem Mädchen ungesehen zu Abend essen konnte, und alles andere erledigte sich in den kleinen Hotels der dunklen Seitenstraßen, die ausschließlich auf diesen Betrieb eingerichtet waren. Aber all diese Begegnungen mußten flüchtig und ohne eigentliche Schönheit bleiben, mehr Sexualität als Eros, weil immer nur hastig und heimlich wie eine verbotene Sache getan. Dann gab es allenfalls noch die Möglichkeit der Beziehung zu einem jener amphibischen Wesen, die halb außerhalb, halb innerhalb der Gesellschaft standen, Schauspielerinnen, Tänzerinnen, Künstlerinnen, den einzig ›emanzipierten‹ Frauen jener Zeit. Aber im allgemeinen blieb das Fundament des damaligen erotischen Lebens außerhalb der Ehe die Prostitution; sie stellte gewissermaßen das dunkle Kellergewölbe dar, über dem sich mit makellos blendender Fassade der Prunkbau der bürgerlichen Gesellschaft erhob.
Von der ungeheuren Ausdehnung der Prostitution in Europa bis zum Weltkriege hat die gegenwärtige Generation kaum mehr eine Vorstellung. Während heute auf den Großstadtstraßen Prostituierte so selten anzutreffen sind wie Pferde auf der Fahrbahn, waren damals die Gehsteige derart durchsprenkelt mit käuflichen Frauen, daß es schwerer hielt, ihnen auszuweichen, als sie zu finden. Dazu kamen noch die zahlreichen ›geschlossenen Häuser‹, die Nachtlokale, die Kabaretts, die Tanzdielen mit ihren Tänzerinnen und Sängerinnen, die Bars mit ihren Animiermädchen. In jeder Preislage und zu jeder Stunde war damals weibliche Ware offen ausgeboten, und es kostete einen Mann eigentlich ebensowenig Zeit und Mühe, sich eine Frau für eine Viertelstunde, eine Stunde oder Nacht zu kaufen wie ein Paket Zigaretten oder eine Zeitung. Nichts scheint mir die größere Ehrlichkeit und Natürlichkeit der gegenwärtigen Lebens- und Liebesformen so sehr zu bekräftigen, wie daß es der Jugend von heute möglich und fast selbstverständlich geworden ist, diese einst unentbehrliche Institution zu entbehren, und daß es nicht die Polizei, nicht die Gesetze gewesen, welche die Prostitution aus unserer Welt zurückgedrängt haben, sondern daß sich dieses tragische Produkt einer Pseudomoral bis auf spärliche Reste durch verminderte Nachfrage selbst erledigt hat.
Die offizielle Stellung des Staates und seiner Moral gegenüber dieser dunklen Angelegenheit war nun niemals recht behaglich. Vom sittlichen Standpunkt aus wagte man einer Frau das Recht zum Selbstverkauf nicht offen zuzuerkennen, vom hygienischen Standpunkt aus konnte man wiederum die Prostitution, da sie die lästige außereheliche Sexualität kanalisierte, nicht entbehren. So suchten sich die Autoritäten mit einer Zweideutigkeit zu helfen, indem sie eine Teilung machten zwischen geheimer Prostitution, die der Staat als unmoralisch und gefährlich bekämpfte, und einer erlaubten Prostitution, die mit einer Art Gewerbeschein versehen und vom Staate besteuert war. Ein Mädchen, das sich entschlossen hatte, Prostituierte zu werden, bekam von der Polizei eine besondere Konzession und als Berechtigungsschein ein eigenes Buch. Indem sie sich polizeilicher Kontrolle unterstellte und der Pflicht genügte, sich zweimal in der Woche ärztlich untersuchen zu lassen, hatte sie das Gewerberecht erworben, ihren Körper zu jedem ihr richtig dünkenden Preise zu vermieten. Sie war anerkannt als Beruf innerhalb aller anderen Berufe, aber – hier kam der Pferdefuß der Moral – doch nicht vollkommen anerkannt. So konnte zum Beispiel eine Prostituierte, wenn sie ihre Ware, das heißt, ihren Körper, an einen Mann verkauft hatte und er nachher die vereinbarte Bezahlung verweigerte, nicht gegen ihn Klage führen. Dann war mit einemmal ihre Forderung – ob turpem causam, wie das Gesetz motivierte – plötzlich eine unmoralische geworden, die nicht den Schutz der Obrigkeit fand.
Schon an solchen Einzelheiten spürte man die Zwiespältigkeit einer Auffassung, die einerseits diese Frauen einordnete in ein staatlich erlaubtes Gewerbe, sie aber persönlich als Outcasts außerhalb des allgemeinen Rechts stellte. Aber die eigentliche Unwahrhaftigkeit bestand in der Handhabung, daß alle diese Beschränkungen nur für die ärmeren Klassen galten. Eine Ballettänzerin, die für zweihundert Kronen in Wien ebenso zu jeder Stunde und für jeden Mann zu haben war wie das Straßenmädchen für zwei Kronen, brauchte selbstverständlich keinen Gewerbeschein; die großen Demimondaines wurden sogar in der Zeitung in dem Bericht über das Trabrennen oder Derby unter den prominenten Anwesenden genannt, weil sie eben schon selbst zur ›Gesellschaft‹ gehörten. Ebenso standen einige der vornehmsten Vermittlerinnen, die den Hof, die Aristokratie und die reiche Bürgerschaft mit Luxusware versorgten, jenseits des Gesetzes, das sonst Kuppelei mit schweren Gefängnisstrafen belegte. Die strenge Disziplin, die mitleidslose Überwachung und die soziale Ächtung hatten nur Geltung innerhalb der Armee der Tausende und Tausende, welche mit ihrem Körper und ihrer gedemütigten Seele eine alte und längst unterhöhlte Moralauffassung gegen freie und natürliche Liebesformen verteidigen sollte.
Diese ungeheure Armee der Prostitution war – ebenso wie die wirkliche Armee in einzelne Heeresteile, Kavallerie, Artillerie, Infanterie, Festungsartillerie – in einzelne Gattungen aufgeteilt. Der Festungsartillerie entsprach in der Prostitution am ehesten jene Gruppe, die bestimmte Straßen der Stadt als ihr Quartier völlig besetzt hielt. Es waren meist jene Gegenden, wo früher im Mittelalter der Galgen gestanden hatte oder ein Leprosenspital oder ein Kirchhof, wo die Freimänner, die Henker und die anderen sozial Geächteten Unterschlupf gefunden, Gegenden also, welche die Bürgerschaft schon seit Jahrhunderten als Wohnsitz lieber mied. Dort wurden von den Behörden einige Gassen als Liebesmarkt freigegeben: Tür an Tür saßen wie im Yoshiwara Japans oder am Fischmarkt in Kairo noch im zwanzigsten Jahrhundert zweihundert oder fünfhundert Frauen, eine neben der andern, an den Fenstern ihrer ebenerdigen Wohnungen zur Schau, billige Ware, die in zwei Schichten, Tagschicht und Nachtschicht, arbeitete.
Der Kavallerie oder Infanterie entsprach die ambulante Prostitution, die zahllosen käuflichen Mädchen, die sich Kunden auf der Straße suchten. In Wien wurden sie allgemein ›Strichmädchen‹ genannt, weil ihnen von der Polizei mit einem unsichtbaren Strich das Trottoir abgegrenzt war, das sie für ihre Werbezwecke benutzen durften; bei Tag und Nacht bis tief ins Morgengrauen schleppten sie eine mühsam erkaufte, falsche Eleganz auch bei Eis und Regen über die Straßen, immer wieder für jeden Vorübergehenden das schon müde gewordene, schlecht geschminkte Gesicht zu einem verlockenden Lächeln zwingend. Und alle Städte erscheinen mir heute schöner und humaner, seit diese Scharen hungriger, unfroher Frauen nicht mehr die Straßen bevölkern, die ohne Lust Lust feilboten und bei ihrem endlosen Wandern von einer Ecke zur andern schließlich doch alle denselben unvermeidlichen Weg gingen: den Weg ins Spital.
Aber auch diese Massen genügten noch nicht für den ständigen Konsum. Manche wollten es noch bequemer und diskreter haben, als auf der Straße diesen flatternden Fledermäusen oder traurigen Paradiesvögeln nachzujagen. Sie wollten die Liebe behaglicher: mit Licht und Wärme, mit Musik und Tanz und einem Schein von Luxus. Für diese Klienten gab es die ›geschlossenen Häuser‹, die Bordelle. Dort versammelten sich in einem sogenannten, mit falschem Luxus eingerichteten ›Salon‹ die Mädchen in teils damenhaften Toiletten, teils schon unzweideutigen Negligés. Ein Klavierspieler sorgte für musikalische Unterhaltung, es wurde getrunken und getanzt und geplaudert, ehe sich die Paare diskret in ein Schlafzimmer zurückzogen; in manchen der vornehmeren Häuser, besonders in Paris und in Mailand, die eine gewisse internationale Berühmtheit hatten, konnte ein naives Gemüt der Illusion anheimfallen, in ein Privathaus mit etwas übermütigen Gesellschaftsdamen eingeladen zu sein. Äußerlich hatten es die Mädchen in diesen Häusern besser im Vergleich zu den ambulanten Straßenmädchen. Sie mußten nicht in Wind und Regen durch Kot und Gassen wandern, sie saßen im warmen Raum, bekamen gute Kleider, reichlich zu essen und insbesondere reichlich zu trinken. Dafür waren sie in Wahrheit Gefangene ihrer Wirtinnen, welche die Kleider, die sie trugen, ihnen zu Wucherpreisen aufzwangen und mit dem Pensionspreis solche rechnerischen Kunststücke trieben, daß auch das fleißigste und ausdauerndste Mädchen in einer Art Schuldhaft blieb und nie nach seinem freien Willen das Haus verlassen konnte.
Die geheime Geschichte mancher dieser Häuser zu schreiben, wäre spannend und auch dokumentarisch wesentlich für die Kultur jener Zeit, denn sie bargen die sonderbarsten, den sonst so strengen Behörden selbstverständlich wohlbekannten Heimlichkeiten. Da waren Geheimtüren und eine besondere Treppe, durch die Mitglieder der allerhöchsten Gesellschaft – und wie man munkelte, selbst des Hofes Besuch machen konnten, ohne von den anderen Sterblichen gesehen zu werden. Da waren Spiegelzimmer und solche, die geheimen Zublick in nachbarliche Zimmer boten, in denen sich Paare ahnungslos vergnügten. Da waren die sonderbarsten Kostümverkleidungen, vom Nonnengewand bis zum Ballerinenkleid, in Laden und Truhen für besondere Fetischisten verschlossen. Und es war dieselbe Stadt, dieselbe Gesellschaft, dieselbe Moral, die sich entrüstete, wenn junge Mädchen Zweirad fuhren, die es als eine Schändung der Würde der Wissenschaft erklärten, wenn Freud in seiner ruhigen, klaren und durchdringenden Weise Wahrheiten feststellte, die sie nicht wahrhaben wollten. Dieselbe Welt, die so pathetisch die Reinheit der Frau verteidigte, duldete diesen grauenhaften Selbstverkauf, organisierte ihn und profitierte sogar daran.
Man lasse sich also nicht durch die sentimentalen Romane oder Novellen jener Epoche irreführen; es war für die Jugend eine schlimme Zeit, die jungen Mädchen luftdicht vom Leben abgeschlossen unter die Kontrolle der Familie gestellt, in ihrer freien körperlichen wie geistigen Entwicklung gehemmt, die jungen Männer wiederum zu Heimlichkeiten und Hinterhältigkeiten gedrängt von einer Moral, die im Grunde niemand glaubte und befolgte. Unbefangene, ehrliche Beziehungen, also gerade was der Jugend nach dem Gesetz der Natur hätte Beglückung und Beseligung bedeuten sollen, waren nur den allerwenigsten gegönnt. Und wer von jener Generation sich redlich seiner allerersten Begegnungen mit Frauen erinnern will, wird wenige Episoden finden, deren er wirklich mit ungetrübter Freude gedenken kann. Denn außer der gesellschaftlichen Bedrückung, die ständig zur Vorsicht und Verheimlichung zwang, überschattete damals noch ein anderes Element die Seele nach und selbst in den zärtlichsten Augenblicken: die Angst vor der Infektion. Auch hier war die Jugend von damals benachteiligt im Vergleich zu jener von heute, denn es darf nicht vergessen werden, daß vor vierzig Jahren die sexuellen Seuchen hundertfach mehr verbreitet waren als heute und vor allem hundertfach gefährlicher und schrecklicher sich auswirkten, weil die damalige Praxis ihnen klinisch noch nicht beizukommen wußte. Noch bestand keine wissenschaftliche Möglichkeit, sie wie heute derart rasch und radikal zu beseitigen, daß sie kaum mehr als eine Episode bilden. Während heutzutage an den Kliniken kleinerer und mittlerer Universitäten dank der Therapie Paul Ehrlichs oft Wochen vergehen, ohne daß der Ordinarius seinen Studenten einen frisch infizierten Fall von Syphilis zeigen kann, ergab damals die Statistik beim Militär und in den Großstädten, daß unter zehn jungen Leuten mindestens einer oder zwei schon Infektionen zum Opfer gefallen waren. Unablässig wurde die Jugend damals an die Gefahr gemahnt; wenn man in Wien durch die Straßen ging, konnte man an jedem sechsten oder siebenten Haus die Tafel ›Spezialarzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten‹ lesen, und zu der Angst vor der Infektion kam noch das Grauen vor der widrigen und entwürdigenden Form der damaligen Kuren, von denen gleichfalls die Welt von heute nichts mehr weiß. Durch Wochen und Wochen wurde der ganze Körper eines mit Syphilis Infizierten mit Quecksilber eingerieben, was wiederum zur Folge hatte, daß die Zähne ausfielen und sonstige Gesundheitsschädigungen eintraten; das unglückliche Opfer eines schlimmen Zufalls fühlte sich also nicht nur seelisch, sondern auch physisch beschmutzt, und selbst nach einer solchen grauenhaften Kur konnte der Betroffene lebenslang nicht gewiß sein, ob nicht jeden Augenblick der tückische Virus aus seiner Verkapselung wieder erwachen könnte, vom Rückenmark aus die Glieder lähmend, hinter der Stirn das Gehirn erweichend. Kein Wunder darum, daß damals viele junge Leute sofort, wenn bei ihnen die Diagnose gestellt wurde, zum Revolver griffen, weil sie das Gefühl, sich selbst und ihren nächsten Verwandten als unheilbar verdächtig zu sein, unerträglich fanden. Dazu kamen noch die anderen Sorgen einer immer nur heimlich ausgeübten vita sexualis. Suche ich mich redlich zu erinnern, so weiß ich kaum einen Kameraden meiner Jugendjahre, der nicht einmal blaß und verstörten Blicks gekommen wäre, der eine, weil er erkrankt war oder eine Erkrankung befürchtete, der zweite, weil er unter einer Erpressung wegen einer Abtreibung stand, der dritte, weil ihm das Geld fehlte, ohne Wissen seiner Familie eine Kur durchzumachen, der vierte, weil er nicht wußte, wie die Alimente für ein von einer Kellnerin ihm zugeschobenes Kind zu bezahlen, der fünfte, weil ihm in einem Bordell die Brieftasche gestohlen worden war und er nicht wagte, Anzeige zu machen. Viel dramatischer und anderseits unsauberer, viel spannungshafter und gleichzeitig bedrückender war also die Jugend in jener pseudo-moralischen Zeit, als sie die Romane und Theaterstücke ihrer Hofdichter schildern. Wie in Schule und Haus war auch in der Sphäre des Eros der Jugend fast nie die Freiheit und das Glück gewährt, zu dem sie ihr Lebensalter bestimmte.
All dies mußte notwendig betont werden in einem ehrlichen Bilde der Zeit. Denn oft, wenn ich mich mit jüngeren Kameraden der Nachkriegsgeneration unterhalte, muß ich sie fast gewaltsam überzeugen, daß unsere Jugend im Vergleich mit der ihren keineswegs eine bevorzugte gewesen. Gewiß, wir haben mehr Freiheit im staatsbürgerlichen Sinne genossen als das heutige Geschlecht, das zum Militärdienst, zum Arbeitsdienst, in vielen Ländern zu einer Massenideologie genötigt und eigentlich in allem der Willkür stupider Weltpolitik ausgeliefert ist. Wir konnten ungestörter unserer Kunst, unseren geistigen Neigungen uns hingeben, die private Existenz individueller, persönlicher ausformen. Wir vermochten kosmopolitischer zu leben, die ganze Welt stand uns offen. Wir konnten reisen ohne Paß und Erlaubnisschein, wohin es uns beliebte, niemand examinierte uns auf Gesinnung, auf Herkunft, Rasse und Religion. Wir hatten tatsächlich – ich leugne es keineswegs – unermeßlich mehr individuelle Freiheit und haben sie nicht nur geliebt, sondern auch genutzt. Aber wie Friedrich Hebbel einmal schön sagt: »Bald fehlt uns der Wein, bald fehlt uns der Becher.« Selten ist ein und derselben Generation beides gegeben; läßt die Sitte dem Menschen Freiheit, so zwängt ihn der Staat ein. Läßt ihm der Staat seine Freiheit, so versucht die Sitte ihn zu kneten. Wir haben besser und mehr die Welt erlebt, die Jugend von heute aber lebt mehr und erlebt bewußter ihre eigene Jugend. Sehe ich heute die jungen Menschen aus ihren Schulen, aus ihren Colleges mit heller, erhobener Stirn, mit heiteren Gesichtern kommen, sehe ich sie beisammen, Burschen und Mädchen, in freier, unbekümmerter Kameradschaft, ohne falsche Scheu und Scham in Studium, Sport und Spiel, auf Skiern über den Schnee sausend, im Schwimmbad antikisch frei miteinander wetteifernd, im Auto zu zweit durch das Land sausend, in allen Formen gesunden, unbekümmerten Lebens ohne jede innere und äußere Belastung verschwistert, dann scheint mir jedesmal, als stünden nicht vierzig, sondern tausend Jahre zwischen ihnen und uns, die wir, um Liebe zu gewähren, Liebe zu empfangen, immer Schatten suchen mußten und Versteck. Redlich erfreuten Blicks werde ich gewahr, welch ungeheure Revolution der Sitte sich zugunsten der Jugend vollzogen hat, wieviel Freiheit in Liebe und Leben sie zurückgewonnen hat und wie sehr sie körperlich und seelisch an dieser neuen Freiheit gesundet ist; die Frauen scheinen mir schöner, seit ihnen erlaubt ist, ihre Formen frei zu zeigen, ihr Gang aufrechter, ihre Augen heller, ihr Gespräch unkünstlicher. Welch eine andere Sicherheit ist dieser neuen Jugend zu eigen, die niemandem sonst Rechenschaft geben muß über ihr Tun und Lassen als sich selbst und ihrer inneren Verantwortung, die der Kontrolle sich entrungen hat von Müttern und Vätern und Tanten und Lehrern und längst nichts mehr ahnt von all den Hemmungen, Verschüchterungen und Spannungen, mit denen man unsere Entwicklung belastet hat; die nichts mehr weiß von den Umwegen und Heimlichkeiten, mit denen wir uns als ein Verbotenes erschleichen mußten, was sie mit Recht als ihr Recht empfindet. Glücklich genießt sie ihr Lebensalter mit dem Elan, der Frische, der Leichtigkeit und der Unbekümmertheit, die diesem Alter gemäß ist. Aber das schönste Glück in diesem Glück erscheint mir, daß sie nicht lügen muß vor den andern, sondern ehrlich sein darf zu sich selbst, ehrlich zu ihrem natürlichen Fühlen und Begehren. Mag sein, daß durch die Unbekümmertheit, mit der die jungen Menschen von heute durch das Leben gehen, ihnen etwas von jener Ehrfurcht vor den geistigen Dingen fehlt, die unsere Jugend beseelte. Mag sein, daß durch die Selbstverständlichkeit des leichten Nehmens und Gebens manches in der Liebe ihnen verlorengegangen ist, was uns besonders kostbar und reizvoll schien, manche geheimnisvolle Hemmung von Scheu und Scham, manche Zartheit in der Zärtlichkeit. Vielleicht sogar, daß sie gar nicht ahnen, wie gerade der Schauer des Verbotenen und Versagten den Genuß geheimnisvoll steigert. Aber all dies scheint mir gering gegenüber der einen und erlösenden Wandlung, daß die Jugend von heute frei ist von Angst und Gedrücktheit und voll genießt, was uns in jenen Jahren versagt war: das Gefühl der Unbefangenheit und Selbstsicherheit.
vorheriges Kapitel
Die Schule im vorigen Jahrhundert
nachfolgendes Kapitel
Universitas vitae
Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.