Bildnis des alten Casanova


Altera nunc rerum facies, me quaero, nec adsum,
Non sum, qui fueram, non putor esse: fui.


Unterschrift seines Altersbildnisses


1797, 1798 – der blutige Besen der Revolution hat Kehraus gemacht mit dem galanten Jahrhundert, die Köpfe des Allerchristlichsten Königs und der Königin liegen im Korb der Guillotine, und zehn Dutzend Fürsten und Fürstlein, mitsamt den venezianischen Herren Inquisitoren, hat ein kleiner korsischer General zum Teufel gejagt. Man liest nicht mehr die Enzyklopädie, Voltaire und Rousseau, sondern die hartgehämmerten Bulletins vom Kriegsschauplatz. Aschermittwoch staubt über Europa, die Karnevale sind zu Ende und das Rokoko, es ist vorbei mit den Reifröcken und gepuderten Perücken, den silbernen Schuhschnallen und Brüsseler Spitzen. Man trägt keine Samtröcke mehr, nur Uniform oder Bürgergewand.


Aber sonderbar, da hat einer die Zeit vergessen, ein uraltes Männchen ganz droben in Böhmens dunkelstem Winkel: wie der Herr Ritter Gluck in E. T. A. Hoffmanns Legende stapft dort am hellichten Tag ein farbiges Vogelmännchen mit Samtweste, vergoldeten Knöpfen, verschlissenem gelbem Spitzenkragen, seidenen Zwickelstrümpfen, geblümten Strumpfbändern und weißem Galafederhut vom Schloß Dux das buckelige Katzenpflaster hinab in die Stadt. Noch trägt das Kuriosum den Haarbeutel nach alter Sitte, schlecht gepudert zwar (man hat keine Bedienten mehr!), und die zittrige Hand stützt sich pompös auf einen altmodischen Rohrstock mit Goldspitze, wie man sie im Palais Royal Anno 1730 getragen. Wahrhaftig, es ist Casanova oder vielmehr seine Mumie, er lebt noch immer, trotz Armut, Ärger und Syphilis. Pergamenten die Haut, ein Hakenschnabel die Nase über dem zittrigen, speichelnden Mund, die buschigen Brauen struppig und weiß; all das muffelt schon nach Alter und Verwesung, nach Eingetrocknetsein in Galle und Bücherstaub. Einzig die pechschwarzen Augen haben die alte Unruhe noch, böse und spitz fahren sie unter den halbgeschlossenen Lidern vor. Aber er sieht nicht viel nach links und rechts, er grummelt und brummelt nur unwirsch vor sich hin, denn er ist nicht guter Laune, Casanova, nie mehr guter Laune, seit ihn das Schicksal auf diesen böhmischen Misthaufen geworfen. Wozu aufschauen, jeder Blick wäre zuviel für die dummen Gaffer, für diese breitmäuligen, deutschböhmischen Kartoffelfresser, die nie ihre Nase über ihren Dorfdreck hinaussteckten und ihn, den Chevalier de Seingalt, der seinerzeit dem Hofmarschall von Polen eine Kugel in den Bauch gejagt und vom Papst die goldenen Sporen eigenhändig empfangen, nicht einmal pflichtgemäß grüßen. Und ärgerlicher noch, auch die Frauen respektieren ihn nicht, sondern halten die Hände vor den Mund, damit nicht ein dickes dörfisches Lachen herausplatscht, und sie wissen, warum sie lachen, denn die Mägde haben’s dem Pfarrer erzählt, daß der alte Gichtbruder ihnen gern unter die Röcke greift und in seinem Kauderwelsch das dümmste Zeug in die Ohren schwatzt. Aber noch besser dieser Pöbel immerhin als zu Hause das verdammte Dienergeschmeiß, dem er ausgeliefert ist, die »Esel, deren Fußtritt er dulden muß«, Feltkirchner vor allem, der Haushofmeister, und Widerholt, sein Dienstschwengel. Die Canaillen! Mit Absicht haben sie ihm gestern wieder Salz in die Suppe geschmissen und die Makkaroni verbrannt, aus seinem Isokameron das Porträt gerissen und auf das Klosett gehängt: sie haben es gewagt, die Lumpen, die kleine schwarzgefleckte Hündin Melampyge, ihm geschenkt von der Gräfin Roggendorf, zu schlagen, nur weil das süße Tierchen ein natürliches Bedürfnis in den Zimmern verrichtet hat. Oh, wo sind die guten Zeiten, da man derlei Dienstbotenbagage einfach in den Block gesperrt und solchem Pack die Knochen zu Butter geprügelt, statt derlei Insolenzen zu dulden. Aber heute ist ja dank diesem Robespierre die Canaille obenauf, die Jakobiner haben die Zeit versaut, und man ist selbst ein alter, armer Hund mit ausgebissenen Zähnen. Was hilft da klagen und knurren und murren den ganzen Tag – am besten, man speit auf den Pöbel, geht hinauf ins Zimmer und liest seinen Horaz.


Aber heute gilt aller Ärger nicht, wie eine Marionette zuckt und tappt die Mumie hastig von Zimmer zu Zimmer. Den alten Hofrock hat sie angezogen, den Orden umgetan und sich sauber gebürstet, jedes Stäubchen weg, denn für heute haben sich der Herr Graf angesagt, hochpersönlich kommen Seine Gnaden von Teplitz herüber und bringen den Prinzen de Ligne mit und noch ein paar adelige Herren, man wird französisch bei Tisch konversieren, und die neidische Dienstbotenbande wird mit knirschenden Zähnen ihm servieren müssen, mit krummem Rücken schön die Teller hinhalten, nicht wie gestern einen verpappten und versauten Fraß wie einem Hunde seine Knochen auf den Tisch schmeißen. Ja, er wird heute mittag an der großen Tafel sitzen mit den österreichischen Kavalieren, denn die wissen noch eine soignierte Konversation zu ästimieren und respektvoll zuzuhören, wenn ein Philosoph spricht, den selbst Herr Voltaire noch geruhte zu achten, und der einmal bei Kaisern und Königen allerhand gegolten. Wahrscheinlich, sobald die Damen sich zurückgezogen haben, wird der Herr Graf und der Herr Prinz höchstpersönlich mich bitten, aus einem gewissen Manuskript vorzulesen, ja, bitten werden sie mich, Herr Feltkirchner, Sie Dreckmaul – bitten wird mich der hochgeborene Herr Graf Waldstein und der Herr Feldmarschall Prince de Ligne, daß ich aus meinen einzig interessanten Erlebnissen wieder ein Kapitelchen vorlese, und ich werde es vielleicht tun – vielleicht! denn ich bin ja nicht der Serviteur des Herrn Grafen und zu Gehorsam verpflichtet, ich gehöre nicht zum Dienstbotengeschmeiß, ich bin Gast und Bibliothekar und stehe au pair mit ihnen – nun, ihr wißt ja nicht einmal, was das heißt, ihr Jakobinergesindel. Aber ein paar Anekdoten werde ich ihnen erzählen, cospetto! – ein paar im deliziösen Genre meines Lehrers, des Herrn Crébillon, oder ein paar pfefferige von der venezianischen Sorte – nun, wir sind doch Edelleute unter uns und verstehn uns auf Nuancen. Man wird lachen und schwarzdunklen schweren Burgunder trinken wie am Hof Seiner Christlichen Majestät, wird von Krieg, Alchimie und Büchern plaudern, und vor allem von einem alten Philosophen sich etwas über Welt und Weiber erzählen lassen.


Aufgeregt huscht er durch die geöffneten Säle, der kleine, dürre, böse Vogel, die Augen funkelnd vor Medisance und Übermut. Er putzt die pierres de strass – die echten Edelsteine hat längst ein englischer Jude –, die sein Ordenskreuz einrahmen, pudert sorgfältig das Haar und übt (bei diesen Banausen vergißt man ja alle Manieren) die alte Art der Reverenzen und Verbeugungen vom Hofe Ludwigs XV. vor dem Spiegel. Freilich, der Rücken knackt schon bedenklich, nicht ungestraft hat man den alten Karren dreiundsiebzig Jahre lang auf allen Postkutschen kreuz und quer durch Europa geschleppt, und weiß Gott, wieviel Saft haben die Frauen aus einem geholt. Aber wenigstens da oben im Gehirnkasten ist der Witz noch nicht ausgeronnen, man wird die Herren noch zu amüsieren wissen und vor ihnen gelten. Mit schnörkelig gerundeter, ein wenig zittriger Schrift kopiert er noch ein Willkommgedichtchen in französischer Sprache für die Princesse de Recke auf ein rauhliches Büttenblatt, malt ferner eine pompöse Dedikation auf sein neues Lustspiel für die Liebhaberbühne: auch hier in Dux hat man nicht verlernt, was sich gehört, und weiß als Kavalier eine literarisch interessante Assemblee respektvoll zu empfangen.


Und tatsächlich, wie jetzt die Karossen angerollt kommen und er mit seinen gichtischen Füßen krumm die hohen Stufen hinabstapft, da werfen der Herr Graf und seine Gäste den Dienern lässig die Mütze hin, Mäntel und Pelze, ihn aber umarmen sie nach Edelmannsart, präsentieren ihn den mitgeladenen Herren als den zelebren Chevalier de Seingalt, rühmen seine literarischen Verdienste, und die Damen wetteifern, ihn als Tischnachbar zu haben. Noch sind nicht die Schüsseln abgeräumt und gehen die Pfeifen die Runde, so erkundigt sich schon, ganz wie er’s vorausgewußt, der Prinz nach den Fortschritten seiner unvergleichlich spannenden Lebenserzählung, und unisono bitten Herren und Damen, doch aus diesen zu zweifelloser Zelebrität bestimmten Memoiren ein Kapitel vorzulesen. Wie dem liebenswürdigsten aller Grafen, seinem gnädigen Wohltäter, einen Wunsch versagen? Eilfertig klappert der Herr Bibliothekarius hinauf in sein Zimmer und holt aus den fünfzehn Folianten denjenigen mit dem zurechtgelegten Seidenstreif: das Haupt- und Kabinettstück, eins der wenigen, das die Gegenwart von Damen nicht zu scheuen braucht, die Entweichung aus den Bleikammern von Venedig. Wie oft und wem allen hat er dieses unvergleichliche Abenteuer schon vorgetragen, dem Kurfürsten von Bayern, von Köln, dem englischen Adelskreis und dem Warschauer Hof, aber sie sollen sehen, daß ein Casanova anders erzählt als dieser lederne Preuße, der Herr von Trenck, von dem man soviel Aufhebens machte mit seinen Prisons. Denn er hat neuerdings ein paar Wendungen eingefügt, ganz großartig überraschende Komplikationen, und zum Schluß ein superb wirkendes Zitat aus dem göttlichen Dante. Stürmischer Applaus lohnt die Vorlesung, der Graf umarmt ihn und schiebt dabei mit der linken Hand eine Rolle Dukaten heimlich in seine Tasche, die er, der Teufel weiß es, gut brauchen kann, denn wenn ihn auch die ganze Welt vergißt, seine Gläubiger setzen ihm nach bis hierher in den fernsten Pontus. Sieh da, wahrhaftig, ein paar dicke Tränen laufen ihm über die Wangen, wie jetzt noch die Prinzessin ihn gütig beglückwünscht und alle ihm zutrinken auf die baldige Vollendung des illustren Meisterwerks!


Aber am nächsten Tage, o weh, klirren die Pferde schon ungeduldig ins Geschirr, die Kaleschen warten am Tor, denn die hohen Herrschaften verreisen nach Prag, und obwohl der Herr Bibliothekar dreimal zarte Andeutungen machte, er hätte daselbst allerlei dringende Geschäfte, nimmt ihn niemand mit. Er muß zurückbleiben in dem riesigen, kalten, zugigen Steinkasten von Dux, ausgeliefert dem frechen böhmischen Dienergesindel, das, kaum daß der Staub hinter den Rädern des Herrn Grafen sich duckt, schon wieder sein albernes Grinsen zwischen die Ohren steckt. Barbaren ringsum, kein Mensch mehr, der französisch und italienisch, von Ariost und Jean-Jacques zu reden wüßte, und man kann doch nicht immer Briefe schreiben an diesen eingebildeten Aktenhengst, den Herrn Opiz in Czaslau, und die paar gütigen Damen, die ihm noch die Ehre der Korrespondenz gönnen. Wie grauer Rauch, dumpf und schläfrig, liegt wieder die Langeweile über den unbehausten Zimmern, und die gestern vergessene Gicht zerrt mit verdoppelter Grimmigkeit in den Beinen. Mürrisch zieht Casanova die Hofkleider aus und seinen dickwollenen türkischen Schlafrock über die frierenden Knochen, mürrisch kriecht er hin zu dem einzigen Asyl der Erinnerungen, an den Schreibtisch: geschnittene Federn warten neben den aufgehäuften weißen Folioblättern, erwartungsvoll knistert das Papier. Und da setzt er sich stöhnend hin und schreibt mit seiner zittrigen Hand weiter und weiter – gesegnete Langeweile, die ihn treibt! – die Historia seines Lebens.


Denn hinter dieser totenschädeligen Stirn, hinter dieser mumiendürren Haut lebt frisch und blühend wie weißes Nußfleisch hinter beinerner Schale ein geniales Gedächtnis. In diesem kleinen Knochenraum zwischen Stirn und Hinterhaupt ist noch alles intakt und sauber aufgestapelt, was dieses funkelnde Auge, diese breiten, atmenden Nüstern, diese harten, gierigen Hände in tausend Abenteuern gierig an sich gerafft, und die gichtknolligen Finger, die dreizehn Stunden im Tage den Gänsekiel rennen lassen (»dreizehn Stunden, und sie vergehen mir wie dreizehn Minuten«), entsinnen sich noch all der glatten Frauenleiber, die sie jemals genießerisch überstreift. Auf dem Tisch liegen, bunt durcheinander, die halb vergilbten Briefe seiner einstigen Geliebten, Notizen, Haarlocken, Rechnungen und Angedenken, und wie über erloschener Flamme noch silbern der Rauch, so schwebt hier unsichtbare Wolke zärtlichen Dufts von den verblaßten Erinnerungen. Jede Umarmung, jeder Kuß, jede Hingabe entschwingt dieser farbigen Phantasmagorie – nein, solche Beschwörung des Vergangenen ist keine Arbeit, das ist Lust – »le plaisir de se souvenir ses plaisirs«. Die Augen glänzen dem gichtischen Greis, die Lippen zucken in Eifer und Erregung, halblaute Worte spricht er vor sich hin, neuerfundene und halberinnerte Dialoge, unwillkürlich ahmt er ihre Stimmen von einst nach und lacht selbst über die eigenen Scherze. Er vergißt Essen und Trinken, Armut, Elend, Erniedrigung und Impotenz, allen Jammer und die Scheusäligkeit des Alters, während er sich im Spiegel seiner Erinnerungen träumend verjüngt, Henriette, Babette, Therese schweben lächelnd heran, beschworene Schatten, und er genießt ihre nekromantische Gegenwart vielleicht mehr als die erlebte. Und so schreibt er und schreibt, abenteuert mit Finger und Feder, wie einst mit dem ganzen glühenden Leib, tappt auf und nieder, rezitiert, lacht und weiß von sich selber nicht mehr.


Vor der Tür stehen die Dienertölpel und grinsen sich an: »Mit wem lacht er da drinnen, der alte welsche Narr?« Feixend deuten sie, seine Verschrobenheiten zu verspotten, mit dem Finger an die Stirn, poltern die Treppe hinunter zum Wein und lassen den Alten in seinem Dachzimmer allein. Niemand weiß von ihm mehr in der Welt, die Nächsten nicht und nicht die Fernsten. Er haust, der alte zornige Habicht, da droben in seinem Turm von Dux wie auf der Spitze eines Eisberges, ungeahnt und ungekannt; und als endlich Ende Juni 1798 das alte zermürbte Herz kracht und man den elenden, von tausend Frauen einst glühend umarmten Leib einscharrt in die Erde, weiß das Kirchenbuch nicht einmal mehr seinen rechten Namen. »Casaneus, ein Venezianer« schreiben sie ein, einen falschen Namen, und »Vierundachtzig Jahre alt«, eine falsche Lebenszahl, so unbekannt ist er den Nächsten geworden. Niemand kümmert sich um sein Grabmal, niemand um seine Schriften, vergessen modert der Leib, vergessen modern die Briefe, vergessen wandern irgendwo die Bände seines Werkes in diebischen und doch gleichgültigen Händen herum; und von 1798 bis 1822, ein Vierteljahrhundert, scheint niemand so tot wie dieser Lebendigste aller Lebendigen.

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