Ein Ich und die Welt


Il ne pouvait plaire, il était trop différent


Die schöpferische Zwiespältigkeit ist in Henri Beyle bereits von den Eltern hineingeboren; schon in ihnen passen zwei ungleichartige Hälften schlecht zusammen. Chérubin Beyle – man denke bei diesem Vornamen nicht an Mozart, beileibe nicht! – der Vater oder der »bâtard«, wie ihn Henri, sein erbitterter Sohn und Feind, immer boshafterweise nennt, repräsentiert vollumfänglich den zähen, geizigen, hartklugen, ganz zu Geld versteinerten Provinzbourgeois, wie ihn Flaubert und Balzac mit zorniger Faust an die Wand der Literatur geschleudert haben: von ihm erbt Henri Beyle nicht nur die Statur, die massig-fettleibige, sondern auch die egoistische Selbstbesessenheit in Hirn und Blut. Henriette Gagnon, die Mutter dagegen, kommt vom romanischen Süden her und auch psychologisch betrachtet aus Romanen. Sie könnte von Lamartine gedichtet sein oder von Jean-Jacques Rousseau sentimentalisiert: eine zärtlich-musikalische, gefühlsschwelgerische, südsinnliche Natur. Ihr, der Frühverstorbenen, dankt Henri Beyle seine Leidenschaft im Eros, den Überschwang im Gefühl, die schmerzliche und fast weibische Sensibilität der Nerven. Von diesen beiden widersetzlichen Strömungen im Blut unablässig hin und her gerissen, schwankt dies sonderbare Erzeugnis zwiespältiger Charaktere ein Leben lang zwischen Vatererbe und Muttererbe, zwischen Realismus und Romantik: immer wird er darum zwiefältig sein und doppelweltig, der künftige Dichter Henri Beyle.


Sympathetisch entscheidet sich der kleine Henri schon früh: er liebt die Mutter (ja sogar, wie er selbst zugibt, mit gefährlich passionierter Frühreife leidenschaftlicher Art), er haßt eifersüchtig und verächtlich den »father« mit einem spanisch kalten, zynisch verschlossenen, inquisitorisch nachspürenden Haß: kaum irgendwo findet die Psychoanalyse einen tadelloseren Ödipuskomplex literarisch hingelegt als in den ersten Seiten von Stendhals Selbstbiographie, im »Henri Brulard«. Aber diese vorzeitige Spannung wird jählings durchgerissen, denn die Mutter stirbt dem Siebenjährigen weg, und den Vater betrachtet der Knabe innerlich als gestorben, sobald er, sechzehnjährig, mit der Postkutsche Grenoble verläßt: von diesem Tage an meint er ihn mit Schweigen, mit Haß und Verachtung in sich erledigt und begraben. Jedoch selbst mit Lauge überschüttet, mit Löschkalk von Geringschätzung übergossen, bleibt der zähe, rechenkalte, sachliche Bürgervater Beyle noch fünfzig Jahre lang unter Henry Beyles Haut lebendig und geistert weiter in seinem Blut; fünfzig Jahre schlagen sich die Ahnen seiner beiden Seelenrassen, die Beyles und die Gagnons, der sachliche Geist und der romantische, noch unaufhörlich in ihm herum, ohne daß einer vermöchte, den andern vollkommen unterzukriegen. In einer Minute ist Stendhal seiner Mutter rechter Sohn, in der nächsten, oft in derselben noch, Sohn seines Vaters, bald schüchtern-timid, bald steinhart-ironisch, bald schwärmerisch-romantisch, bald wieder mißtrauisch-rechnerisch – sogar in dem flitzenden Intervall von Sekunde zu Sekunde schießen Heiß und Kalt zischend ineinander. Gefühl überschwemmt die Vernunft, Intellekt wieder staut brüsk die Empfindung. Niemals gehört dieses Gegensatzprodukt ganz der einen, nie ganz der andern Sphäre; und selten sind im ewigen Kriege zwischen Geist und Gefühl schönere Schlachten geschlagen worden als die große psychologische Bataille, die wir Stendhal nennen.


Gleich vorausgenommen aber sei: keine Entscheidungsschlacht, keine Vernichtungsschlacht. Stendhal ist nicht besiegt worden, nicht zerrissen von seinen Gegensätzen: vor jedem wahrhaft tragischen Schicksal schützt diese epikureische Natur eine gewisse ethische Indolenz, eine kalt beobachtende wachsame Neugierde. Ein Leben lang weicht dieser wache wesentliche Geist allen zerstörenden, allen dämonischen Mächten vorsichtig aus, denn das erste Gebot seiner Klugheit heißt Selbsterhaltung, und so wie er im faktischen, im Napoleonischen Kriege allezeit verstand, in der Nachhut zu bleiben, abseits vom Schuß, so wählt auch in seiner Seelenschlacht Stendhal lieber den gesicherten Standpunkt des Beobachters als den entschlossenen des Auf-Tod-und-Leben-Kämpfers. Ihm fehlt vollkommen jene letzte moralische Selbstpreisgabe eines Pascal, eines Nietzsche, eines Kleist, die jeden ihrer Konflikte zwanghaft zur Lebensentscheidung erhoben; er, Stendhal, begnügt sich, während er seinen Zwiespalt gefühlsmäßig erleidet, ihn von seiner geistigen Sicherung her als ästhetisches Schauspiel zu genießen. Darum wird sein Wesen von seinen Gegensätzen niemals vollkommen durchrüttelt, und er haßt nicht einmal ernstlich diese seine Zweiheit, ja er liebt sie sogar. Er liebt seinen diamantschneidenden, präzisen Intellekt als etwas sehr Kostbares, weil er ihm die Welt verständlich macht. Aber andererseits liebt Stendhal auch den Überschwang seines Gefühls, seine Hypersensibilität, weil sie ihn absondert von der Dumpfheit und Stumpfheit des gemeinen Alltags. Ebenso kennt er auch von beiden Wesensenden die verbundene Gefahr, jene des Intellekts, gerade die erhabensten Augenblicke zu erkälten, zu ernüchtern, und jene des Gefühls, zu weit ins Verschwommene und Unwahrhaftige zu verlocken und damit die Klarheit zu zerstören, die ihm Lebensbedingnis ist. So möchte er am liebsten jeder der beiden Seelenarten die Eigenschaft der andern zulernen: unablässig bemüht sich Stendhal, sein Gefühl intelligenzhaft klarzumachen, die Vernunft wiederum zu verleidenschaftlichen – ein ganzes Leben lang romantischer Intellektualist und intellektueller Romantiker in ebenderselben gespannten und empfindlichen Haut.


Jede Formel Stendhals ergibt also immer eine zweistellige Zahl, niemals runde Einheit: nur in dieser Doppelweltigkeit erfüllt er sich ganz. Immer dankt er seine stärksten Augenblicke dem Ineinander und Nebeneinander seines urtümlichen Gegensatzes. »Lorsqu’il n’avait pas d’émotion, il était sans esprit«, sagt er einmal von sich, das heißt: er kann nicht gut denken, ohne gefühlsmäßig erregt zu sein, aber er kann wiederum nicht exakt fühlen, ohne den eigenen erregten Herzschlag sofort zu messen. Er vergöttert einerseits die Träumerei als die kostbarste Bedingung seines Lebensgefühls (»ce que j’ai le plus aimé, était la rêverie«) und kann doch nicht leben ohne ihr Gegenspiel, ohne die Wachheit (»Si je ne vois pas clair, tout mon monde est anéanti«). Genau wie Goethe einmal von sich bekennt, daß das, was man gemeinhin Genuß nenne, »für ihn immer zwischen Sinnlichkeit und Verstand schwebe«, so empfindet Stendhal nur dank der feurigen Durchmischung von Geist und Blut die sinnvolle Schönheit der Welt. Er weiß, daß nur der ständigen Reibung seiner Kontraste die seelische Elektrizität entstammt, jenes Prickeln und Funkeln in den Nervenbahnen, jene knisternde, spannende und aufstachelnde Lebendigkeit, die wir heute noch spüren, kaum daß wir ein Buch, ein Blatt Stendhals berühren; nur dank dieses Überspringens der Vitalität von Pol zu Pol genießt er die Kraftwärme, die schöpferische und lichtschaffende seines Wesens, und sein immer wacher Selbststeigerungsinstinkt setzt alle Leidenschaft daran, sich diese Weitspannung zu erhalten. Unter seinen zahlreichen außerordentlichen Beobachtungen in psychologicis äußert er einmal die vortreffliche, ebenso wie unsere Körpermuskeln ständiger Gymnastik bedürfen, um nicht zu erschlaffen, müßten auch die psychischen Kräfte unablässig geübt, gesteigert und durchgebildet werden: diese Vervollkommnungsarbeit hat Stendhal mit beharrlicherer Konsequenz als irgendein anderer geübt. Er hegt und pflegt beide Enden seines Wesens unablässig für den Erkenntniskampf mit der gleichen Liebe wie ein Künstler sein Instrument, wie ein Soldat seine Waffe; unablässig ist er mit dem Training seines seelischen Ichs beschäftigt. Um die Hochspannung des Gefühls, den »érectisme morale«, latent zu erhalten, heizt er seine Expansionsfähigkeit allabendlich in der Oper durch Musik an und agitiert sich noch als älterer Herr gewaltsam in immer neue Verliebtheiten hinein. Um seinem Gedächtnis, bei dem er Spuren von Schwäche wahrnimmt, zur Exaktheit zu verhelfen, legt er sich besondere Exerzitien auf, er schleift, wie jeden Morgen sein Rasiermesser, am Strange der Selbstbeobachtung seine Wahrnehmungsfähigkeit. Er sorgt mit Büchern und Gesprächen alltäglich für Zufuhr von »ein paar Kuben neuer Ideen«, er füllt, er erregt, er spannt und zügelt sich zu immer subtilerer Intensität; unablässig schärft er seinen Verstand, unablässig schmeidigt er sein Gefühl.


Dank dieser wissenden und raffinierten Technik der Selbstvervollkommnung erreicht Stendhal intellektuell sowohl als sensuell einen ganz ungewöhnlichen Grad seelischer Feinfühligkeit. Man muß schon jahrzehnteweit in der Weltliteratur zurückwandern, um ein ähnlich zartempfindliches und zugleich scharfgeistiges Sensorium zu finden, eine so dünnhäutige, nervenbebende Sinnlichkeit bei so wasserklarem und wasserkaltem Verstand. Aber freilich, nicht ungestraft hat man seine Nervenspitzen derart zart und vibrierend, dermaßen wissend und wollüstig knapp unter der Haut; Feinheit bedingt immer leichte Verletzlichkeit, und was für die Kunst Gnade, wird für die Künstler fast immer zur Lebensnot. Wie leidet dieses überorganisierte Wesen Stendhal an seiner Umwelt, wie steht er fremd und verdrossen inmitten einer larmoyanten und pathetischen Zeit! Ein solches intellektuelles Taktgefühl muß jede Ungeistigkeit als Beleidigung, eine so romantische Seele die Dickhäuterei, die ethische Trägheit des Durchschnitts als einen Alpdruck empfinden; wie die Prinzessin im Märchen unter hundert Daunen und Decken die Erbse, so spürt Stendhal schmerzhaft jedes falsche Wort, jede verlogene Geste. Alles falsch Romantische, alles plump Übertreibliche, alles feig Verschwommene wirkt auf seinen wissenden Instinkt wie kaltes Wasser auf einen kranken Zahn. Denn sein Gefühl für Aufrichtigkeit und Natürlichkeit, sein geistiges Kennertum leidet gleicherweise am Zuviel und Zuwenig in jeder fremden Empfindung – »mes bêtes d’aversion, ce sont le vulgaire et l’affecté« – an dem Banalen ebenso wie am Preziösen. Eine einzige Phrase, zu übersüßt mit Gefühl oder aufgequollen in pathetischer Hefe, kann ihm ein Buch verderben, eine ungeschickte Bewegung das schönste erotische Abenteuer. Einmal betrachtet er ergriffen eine Napoleonische Schlacht: das mörderische Durcheinander, durchschüttert vom Donner der Kanonen, überglüht vom unverhofften Farbenspiel eines Sonnenunterganges in blutigen Wolken, wirkt auf seine künstlerische Seele unwiderstehlich wie ein Nervenrausch. Er steht da und zittert erregt in mitfühlenden Schauern. Da fällt es unglückseligerweise einem General neben ihm ein, dieses überwältigende Schauspiel mit einem großspurigen Wort zu bezeichnen »Eine Gigantenschlacht!« sagt er wohlgefällig zu seinem Nachbar, und sofort zerschmettert dieses eine plumppathetische Wort für Stendhal jede Möglichkeit der Mitempfindung. Hastig eilt er weg, den Tölpel verfluchend, erbittert, enttäuscht, beraubt; immer, wenn sein hyperempfindlicher Gaumen den geringsten Beigeschmack von Phrase oder Verlogenheit im Ausdruck eines Gefühls spürt, revoltiert sein Taktgefühl. Unklares Denken, überschwengliche Rede, jedes Affichieren und Auswalzen der Empfindung verursacht diesem Sensibilitätsgenie sofort ästhetischen Brechreiz: darum kann er auch so wenig von aller Zeitgenossenkunst goutieren, weil sie damals besonders süß-romantisch (Chateaubriand) und pseudoheroisch (Victor Hugo) drapiert ist, darum erträgt und verträgt er so wenig Menschen. Aber diese exzessive Überempfindlichkeit wendet sich nicht minder gegen ihn selbst. Überall, wo er sich bei der winzigsten Empfindungsabweichung, bei einem unnötigen Crescendo, bei einem Hinüber ins Sentimentale oder bei einer feigen Verschwommenheit und Unehrlichkeit ertappt, schlägt er sich selbst wie ein strenger Schullehrer auf die Finger. Sein immer wacher und unerbittlicher Verstand schleicht ihm nach bis in die abseitigsten Träumereien und reißt ihm rücksichtslos alle Schamhüllen fort. Selten hat sich ein Künstler derart gründlich zur Ehrlichkeit erzogen, selten ein Seelenbeobachter so grausam seine geheimsten Abwege und Labyrinthe überwacht.


Weil er sich dermaßen kennt, weiß Stendhal selbst besser als jeder andere, daß diese übermäßige Sensibilität in Nerven und Geist sein Genie, seine Tugend ist und seine Gefahr. »Ce que ne fait qu’effleurer les autres me blesse jusqu’au sang«: was die anderen nur leise anstreift, das verletzt ihn, den Überempfindlichen bis aufs Blut. Und darum empfindet Stendhal die »Andern«, »les autres«, instinkthaft von Jugend an als den polaren Gegensatz zu seinem Ich, als Angehörige einer fremden Seelenrasse. Dieses Anderssein hat schon ganz früh der kleine linkische Knabe in Grenoble an sich gespürt, wenn er seine Mitschüler in gedankenloser Froheit herumpoltern sah, und noch schmerzlicher hat dies später der frischgebackene Unteroffizier Henri Beyle in Italien erfahren, der, neidisch und hilflos, sie nachzuahmen, die andern Offiziere bewunderte, wie sie die Mailänder Weiber kirre zu machen und großsprecherisch selbstbewußt ihre Säbel zu rasseln verstanden. Aber damals hatte er sich seines Zarterseins, seiner Verlegenheit und Feinfühligkeiten noch als eines männlichen Defektes, als einer kläglichen Minderwertigkeit geschämt. Jahrelang hat er versucht – höchst lächerlich und vergeblich! –, seine Natur zu vergewaltigen, dem lauten Pöbel laut nachzuprahlen, nur um diesen grobschlächtigen Gesellen ähnlich zu scheinen und ihnen zu imponieren. Erst allmählich, sehr mühsam, sehr schmerzhaft, entdeckt der Emotive in seinem unheilbaren Anderssein einen melancholischen Reiz: der Psychologe erwacht. Stendhal ist allmählich auf sich neugierig geworden und beginnt sich zu entdecken. Zunächst konstatiert er nur, daß er anders ist als die meisten, feiner organisiert, empfindlicher, hellhöriger. Keiner ringsum fühlt so leidenschaftlich, keiner denkt so klar, keiner ist so sonderbar gemischt, daß er fähig ist, allorts das Feinste zu fühlen und trotzdem nicht das geringste im Praktischen zu erreichen. Zweifellos, es muß noch andere Menschen dieser merkwürdigen Spezies »être supérieur« geben, denn wie könnte er sonst Montaigne verstehen, diesen herben, grundklugen und für alles Breite, Grobe verächtlichen Geist, wenn es nicht seiner Art gemäß wäre, wie Mozart zu fühlen, wenn nicht gleiche Leichtigkeit der Seele in ihm waltete. So beginnt etwa mit dreißig Jahren Stendhal erstmalig zu ahnen, er sei nicht ein mißglücktes Exemplar Mensch, vielmehr ein besonderes, zugehörig jener seltenen, sehr edlen Rasse der »êtres privilégiés«, die da und dort eingesprengt in den verschiedensten Nationen, Rassen und Vaterländern ihr Vorkommen haben wie Edelsteine in gemeinen Konglomeraten. Er fühlt sich bei ihnen beheimatet (nicht bei den Franzosen, er wirft diese Zugehörigkeit weg wie ein zu eng gewordenes Kleid), in einem andern, unsichtbaren Vaterlande, bei Menschen mit viel feineren Seelenorganen und klügeren Nerven, die niemals sich zusammenrotten zu plumpen Haufen und geschäftigen Klüngeln, sondern nur ab und zu einen Boten in die Zeit senden. Ihnen allein, diesen »happy few«, diesen hellhörigen und feinäugigen, diesen geschwinden Verstehern, die lesen können ohne Unterstreichungen und jeden Wink und Augenblick aus Instinkt des Herzens verstehen – ihnen allein schreibt er, über sein eigenes Jahrhundert hinweg, seine Bücher zu, ihnen allein verrät er in Spiegelschrift die Geheimnisse seines Gefühls. Was schert ihn, seit er endlich verachten gelernt, der grobe lautsprecherische Pöbel ringsum, dem nur dick aufgetragene, grelle Plakatschrift in die Augen fällt, dem nur scharf Überwürztes und schmalzig Gekochtes mundet? »Que m’importent les autres?«, was liegt mir an den andern, läßt er stolz seinen Julien sagen. Nein, sich nicht schämen, daß man in einer derart entcanaillierten, einer so vulgären Welt keinen Erfolg hat; »l’égalité est la grande loi pour plaire«, man muß über den gleichen Leisten gespannt sein, um diesem Pack sich anzupassen, aber Gott sei Dank, man ist ein »être extraordinaire«, ein »être supérieur«, ein einzelner, ein Sonderfall, ein Individuum, ein differenziertes Wesen und kein Herdenhammel. Alle die äußeren Erniedrigungen, das Zurückbleiben in der Karriere, die Blamagen bei den Frauen, die vollständige Erfolglosigkeit in der Literatur, das genießt Stendhal seit der Entdeckung seiner Sonderheit als Beweis seiner Überlegenheit. Sieghaft schlägt sein Minderwertigkeitsgefühl um in hellen Hochmut, jenen herrlich, heiteren und sorglosen Hochmut Stendhals. Mit Absicht hält er sich jetzt immer weiter weg von jeder Gemeinschaft und kennt nur noch eine Sorge, »de travailler son caractère«, seinen Charakter, seine seelische Physiognomie markanter herauszuarbeiten. Nur Besonderheit hat Wert in einer so amerikanisierten, einer solchen Taylor-System-Welt, »il n’y a pas d’intéressant que ce qui est un peu extraordinaire«: also seien wir besonders, beharren, bestärken wir gerade das Korn Seltsamkeit in uns! Kein holländischer Tulpennarr hat jemals eine Kreuzung kostbarster Art behutsamer gezüchtet als Stendhal seine Zwiespältigkeit und Sonderheit; er konserviert sie in einer eigenen geistigen Essenz, die er den »Beylismus« nennt, einer Philosophie, die nichts anderes meint als die Kunst, den Henri Beyle im Henri Beyle unverändert zu erhalten. Nur um sich stärker zu isolieren von allen andern, tritt er in bewußte Opposition zu seiner Zeit und lebt wie sein Julien: »en guerre avec toute la société«. Als Dichter verachtet er die schöne Form und proklamiert das Bürgerliche Gesetzbuch zur wahren ars poetica, als Soldat höhnt er den Krieg, als Politiker ironisiert er die Geschichte, als Franzose verspottet er die Franzosen: überall zieht er Gräben und Stacheldrähte zwischen sich und die Menschen, nur damit sie nicht nahe an ihn herankommen können. Selbstverständlich bringt er sich damit um jede Karriere, er versäumt als Soldat, als Diplomat, als Literat jeden Erfolg, aber das mehrt nur seinen Stolz; »Ich bin kein Herdenvieh, also bin ich nichts«; nein, nur nichts sein für diese Pöbelgeister, ein Nichts bleiben vor diesen Nichtsen. Er ist glücklich, nirgends hineinzupassen, in keine ihrer Klassen, ihrer Rassen, ihrer Stände und Vaterländer, begeistert, als zweibeiniges Paradox auf seinen eigenen Füßen seinen eigenen Weg zu wandern, statt inmitten dieser servilen Diensthammel die breite Straße zum Erfolg zu trotten. Lieber zurückbleiben, lieber außen stehen, allein stehen. Aber frei bleiben. Und dieses Freibleiben, Sich-frei-Machen von allen Zwängen und Beeinflussungen hat Stendhal genial verstanden. Muß er ab und zu aus Notdurft einen Beruf annehmen, eine Uniform tragen, so gibt er von sich nur genau das her, was unumgänglich nötig ist, um nicht von der Krippe gejagt zu werden, und keinen Zoll und kein Quentchen mehr. Wirft ihm sein Vetter den Husarenrock um, er fühlt sich deswegen keineswegs als Soldat; schreibt er Romane, so verschreibt er sich darum noch nicht der fachmännischen Schriftstellerei; muß er die gestickte Borte des Diplomaten tragen, so setzt er innerhalb der Amtsstunden irgendeinen Herrn Beyle an den Schreibtisch, der mit dem wirklichen Stendhal nur die Haut, den runden Bauch und die Knochen gemein hat. Aber weder an die Kunst noch an die Wissenschaft und am wenigsten an das Amt gibt er jemals einen Teil seines wirklichen Wesens her, und tatsächlich hat zeitlebens nie einer seiner Dienstkameraden geahnt, daß er in der gleichen Kompanie mit dem größten Dichter Frankreichs exerzierte oder am gleichen Schreibtisch Akten schob. Und selbst seine illustren Kollegen der Literatur (außer Balzac) sahen in ihm nichts als einen amüsanten Causeur, einen Exoffizier, der gelegentliche Sonntagsritte über ihre Äcker unternahm. Vielleicht hat nur Schopenhauer von all seinen Zeitgenossen in einer ähnlich hermetisch geistigen Isoliertheit gewirkt und gelebt wie sein großer Bruder in psychologicis, Stendhal.


Ein letzter Teil jener einzigartigen Substanz Stendhals bleibt also immer abseits, und dieses merkwürdige Element chemisch zu ergründen, bedeutet Stendhals einzig wirkliche und intensive Betätigung. Niemals hat er das Eigensüchtige, das Autoerotische solcher introvertierten Lebenseinstellung geleugnet, im Gegenteil, er rühmt sich seiner Selbstischkeit und tauft sie demonstrativ mit einem neuen herausfordernden Namen: Egotismus. Egotismus – kein Druckfehler dies und beileibe nicht zu verwechseln mit seinem plebejischen, derbfäustigen Bastardbruder, dem Egoismus. Denn Egoismus will grob alles an sich raffen, was andern gehört, er hat gierige Hände und die verzerrte Fratze des Neids. Er ist mißgünstig, ungroßmütig, unersättlich, und selbst die Beimischung geistiger Triebe vermag ihn nicht zu erlösen von seiner phantasielosen Gefühlsbrutalität. Stendhals Egotismus dagegen will niemandem etwas nehmen, er läßt mit einer aristokratischen Hochmütigkeit den Geldraffern ihr Geld, den Ehrgeizigen ihre Ämter, den Strebern ihre Orden und Fähnchen, den Literaten die Seifenblasen ihres Ruhms – mögen sie damit glücklich sein! Er lächelt ihnen von oben herab verächtlich zu, wie sie um Katzengold ihre Hälse recken und servil ihre Rücken biegen, sich mit Titeln behängen und mit Würden bespicken, wie sie sich zusammenplustern zu Gruppen und Grüppchen und vermeinen, die Welt zu regieren – habeant! habeant! lächelt er ironisch ihnen zu, ohne Neid, ohne Habgier: mögen sie sich die Taschen vollsacken und die Bäuche füllen! Stendhals Egotismus ist nur leidenschaftliche Defensive, er betritt niemandes Revier, aber läßt auch niemanden über die eigene Schwelle, er hat einzig den Ehrgeiz, innerhalb des Menschen Henri Beyle einen vollkommen isolierten Raum zu schaffen, eine Brutzelle, in der die tropisch seltene Pflanze der Individualität sich ungehemmt entfalten kann. Denn Stendhal will seine Ansichten, seine Neigungen, seine Entzückungen einzig nur aus sich selber züchten und einzig für sich allein; ihm erscheint völlig gleichgültig und gewichtslos, wieviel ein Buch, ein Geschehnis allen andern gilt; er ignoriert hochmütig, wie sich ein Faktum auswirkt ins Zeitgenössische, Welthistorische oder gar in die Ewigkeit: schön nennt er ausschließlich, was ihm gefällt, richtig, was er augenblicklich als zugemessen erachtet, verächtlich, was er verachtet; und ihn beunruhigt keineswegs, mit dieser seiner Meinung vollkommen vereinzelt zu stehen, im Gegenteil, Einsamkeit beglückt und bestärkt sein Selbstgefühl: »Que m’importent les autres!« Die Devise Juliens gilt auch in aestheticis für den echten und gelernten Egoisten.


»Aber«, unterbricht hier vielleicht ein unbedachter Einwand – »wozu ein so pompöses Wort Egotismus für diese Selbstverständlichkeit aller Selbstverständlichkeiten? Das ist doch das Allernatürlichste, daß man schön nennt, was man für schön befindet, und sein Leben einzig nach seinem persönlichen Gutdünken zurechtmacht!« Gewiß, so möchte man meinen, aber genau gesehen, wem gelingt es, restlos unabhängig zu fühlen, unabhängig zu denken? Und wer selbst von jenen, die ihre Meinung über ein Buch, ein Bild, ein Ereignis aus scheinbar eigener Wertung formen, hat dann noch den Mut, sie konsequent zu wagen gegen eine ganze Zeit, gegen eine ganze Welt? Wir sind alle in höherem Maße unbewußt beeindruckt, als wir uns zugestehen: die Luft der Zeit steckt in unseren Lungen, in der Herzkammer selbst, unsere Urteile und Ansichten reiben sich an unzählig viel gleichzeitigen und schleifen an ihnen unmerklich ihre Spitzen und Schärfen ab, durch die Atmosphäre schwingen unsichtbar wie Radiowellen die Suggestionen der Massenmeinung. Der natürliche Reflex des Menschen ist also keineswegs die Selbstbehauptung, sondern die Anpassung der eigenen an die Zeitmeinung, Kapitulation an das Majoritätsgefühl. Wäre die Mehrheit, die überwältigende, der Menschheit nicht pflaumenweich anpasserisch, verzichteten ihre Millionen nicht aus Instinkt oder Trägheit auf private, persönliche Anschauung, längst stände die gigantische Maschinerie still. So bedarf es jedesmal ganz besonderer Energien, eines empörerisch emporgestrafften Mutes – und wie wenige kennen ihn! –, um diesem geistigen Druck von Millionen Atmosphären seinen isolierten Willen entgegenzustemmen. Ganz seltene und wohlgeprobte Kräfte müssen schon in einem Individuum zusammenwirken, damit es sich seiner Eigenheit erwehre: eine sichere Weltkenntnis, eine rapide Scharfsichtigkeit des Geistes, eine souveräne Verachtung aller Rudel und Rotten, eine kühne und amoralische Unbedenklichkeit und vor allem Mut, dreimal Mut, eine unerschütterliche, fest im Sattel sitzende Courage zur eigenen Überzeugung.


Diesen Mut hat Stendhal gehabt, der Egotist aller Egotisten: es tut der Seele wohl, zu sehen, wie kühn er vorprellt gegen seine Zeit, einer gegen alle, wie er mit flirrenden Finten und brüsken Attacken ohne andern Panzer als seinen blitzenden Hochmut sich durch ein halbes Jahrhundert schlägt, oft verletzt, aus vielen heimlichen Wunden blutend, aber aufrecht bis zum letzten Augenblick, und ohne ein Zollbreit Eigenheit und Eigenwilligkeit preiszugeben. Opposition ist sein Element, Selbständigkeit seine Wollust. Man lese nur an hundert Beispielen nach, wie verwegen, wie frech dieser unentwegte Frondeur der allgemeinen Meinung Paroli bietet, wie kühn er sie herausfordert. In einer Epoche, da alles von Schlachten schwärmt, da man in Frankreich, wie er sagt, »den Begriff des Heldenmuts unverweigerlich mit dem Tambourmajor verbindet«, schildert er Waterloo als ein unübersichtliches Durcheinander chaotischer Kräfte; er bekennt hemmungslos ein, daß er sich während des Russischen Feldzuges (den die Historiographen als Epopöe der Weltgeschichte preisen) persönlich gräßlich gelangweilt habe. Er scheut sich nicht, festzustellen, daß ihm eine Reise nach Italien, um seine Geliebte wiederzusehen, wichtiger war als das Schicksal seines Vaterlandes, und eine Arie Mozarts interessanter als eine politische Krise. »II se fiche d’être conquis«, er schert sich den Teufel darum, daß Frankreich von fremden Truppen besetzt wird, denn, längst Wahleuropäer und Kosmopolit, kümmert er sich nicht eine Minute lang um die tollen Pirouetten des Kriegsglücks, um die modischen Meinungen, um Patriotismen (»le ridicule le plus sôt«) und Nationalismen, sondern einzig um die Verwahrheitlichung und Verwirklichung seiner geistigen Natur. Und dies sein Persönliches betont er so selbstherrlich und zärtlich inmitten der furchtbaren Lawinenstürze der Weltgeschichte, daß man, seine Tagebücher lesend, manchmal bezweifelt, ob er tatsächlich mit seiner Person bei all diesen historischen Kalendertagen Zeuge gewesen. Aber in gewissem Sinn war auch Stendhal gar nicht dabei, selbst wenn er quer durch den Krieg ritt oder im Amtssessel saß, er war immer nur bei sich selbst; niemals fühlte er sich aus Mittuerei, aus Mitdenkerei zur seelischen Teilnahme an Geschehnissen verpflichtet, die ihn seelisch nicht bewegten, und ebenso wie Goethe in seinen Annalen an welthistorischen Tagen nur die Lektüre aus dem Chinesischen, so notiert Stendhal in den welterschütterndsten Stunden seines Zeitalters einzig seine privatesten Wichtigkeiten: die Geschichte seiner Zeit und die seine haben gleichsam ein anderes Alphabet und andere Vokabeln. Darum wird Stendhal ein ebenso unzuverlässiger Zeuge für seine Umwelt wie ein unübertrefflicher für seine Eigenwelt; für ihn, den vollkommenen, den preiswürdigsten und unübertrefflichen Egotisten reduziert sich alles Geschehnis ausschließlich und einzig auf den Affekt, den das einmalige und unwiederbringliche Individuum Stendhal-Beyle vom Weltlauf erfährt und erleidet; nie vielleicht hat ein Künstler für sein Ich beharrlicher, radikaler und fanatischer gelebt und es kunstvoller zum Eigen-Ich entwickelt als dieser heroische Selbstling und überzeugte Egotist.


Aber gerade durch diese eifersüchtige Abschließung, dies sorgfältige Abgekorkte und hermetisch Verstöpselte ist die Essenz Stendhal so unvermindert und unvermischt mit ihrem eigennatürlichen Arom uns erhalten geblieben. In ihm, der nicht angefärbt ist vom Farbstoff seiner Epoche, können wir den Menschen par excellence, das ewige Individuum in einem raren und subtilen Exemplar psychologisch vollkommen losgelöst beobachten. Tatsächlich hat aus seinem ganzen französischen Jahrhundert kein Werk und Charakter sich so formelhaft frisch, so neu und unberührt erhalten; weil er die Zeit von sich abwehrte, wirken seine Werke zeitlos, weil er nur sein innerstes Leben lebte, wirkt er so lebendig. Je mehr ein Mensch seiner Zeit lebt, um so mehr stirbt er mit ihr. Je mehr ein Mensch in sich von seinem wahren Wesen verhält, um so mehr bleibt von ihm erhalten.

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Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.