Selbstdarstellung


Qu’ai-je été? Que suis-je?
Je serais bien embarrassé de le dire.


Für seine erstaunliche Meisterschaft der Selbstdarstellung hat Stendhal keinen andern Lehrmeister als sich selbst gehabt. »Pour connaître l’homme il suffit de s’étudier soi-même: pour connaître les hommes il faut les pratiquer«, sagt er einmal und fügt sofort bei, die Menschen kenne er nur von Büchern her, alle seine Studien habe er einzig an sich selbst unternommen. Immer geht Stendhals Psychologie von ihm selber aus. Immer zielt sie einzig auf ihn selbst zurück. Aber in diesem Weg rund um ein Individuum ist die ganze Seelenweite des Menschlichen umschlossen.


Den ersten Schulgang der Selbstbeobachtung macht Stendhal in seiner Kindheit durch. Verlassen von der frühverstorbenen Mutter, die er leidenschaftlich liebte, sieht er nur Feindliches und Fremdgeistiges rings um sich. Er muß seine Seele verleugnen und verstecken, daß man sie nicht bemerke, und lernt früh mit dieser ständigen Verstellung »die Kunst der Sklaven«, zu lügen. In die Ecke geduckt, nutzt er die Zeit seines Schmollens und Grollens, den Vater, die Tante, den Lehrer, alle seine Quäler und Herrscher zu belauschen, und der Haß schleift seine Blicke zu grimmiger Schärfe; er wird, ehe in seinem weltlichen und sachlichen Studium, kundig in psychologicis, durch notgedrungene Gegenwehr, durch den Zwang seines Mißverstandenseins.


Der zweite Kursus des so gefährlich Vorgebildeten dauert länger, eigentlich sein ganzes Leben lang: die Liebe, die Frauen werden seine hohe Schule. Man weiß längst – und er selbst leugnet das melancholische Faktum nicht –, daß Stendhal als Liebhaber kein Heros war, kein Eroberer und am wenigsten der Don Juan, als den er sich gern zu kostümieren pflegte. Mérimée berichtet, Stendhal nie anders als verliebt gesehen zu haben, leider fast immer unglücklich verliebt. »Mon attitude générale était celle d’un amant malheureux« – fast immer hatte ich Unglück in der Liebe, muß er eingestehen und sogar dies, »daß wenig Offiziere der Napoleonischen Armee so wenig Frauen besessen hätten wie er«. Dabei haben ihm sein breitschultriger Vater, seine warmblütige Mutter eine sehr drängende Sinnlichkeit vererbt: »un tempérament de feu«, aber wenn auch sein Temperament ungeduldig jede prüft, ob sie für ihn »ayable« sei, blieb Stendhal zeitlebens Liebesritter von ziemlich trauriger Gestalt. Zu Hause, am Schreibtisch, fern vom Schuß exzelliert dieser typische Vorlustgenießer in erotischer Strategik (»loin d’elle il a l’audace et jure de tout oser«), er schreibt in sein Tagebuch bis auf die Stunde rechnerisch genau, wann er seine momentane Göttin zu Fall bringen werde (»In two days I could have her«), aber kaum in ihrer Nähe, wird der Would-be-Casanova sofort zum schüchternen Gymnasiasten; der erste Sturmlauf endet regelmäßig (er gesteht es selbst) mit einer intimen Blamage des Mannes vor der schon nachgiebigen Frau. Er wird »timide et sôt«, wenn seine Galanterie aktiv werden müßte, zynisch, wenn er zärtlich sein sollte, und sentimentalisch in der Sekunde der Attacke, kurzum, er versäumt und verpaßt über Kalkulationen und Unfreiheiten die schönsten Gelegenheiten, und aus Verlegenheit wieder, aus der Angst, sentimental zu scheinen und »d’être dupe«, verbirgt der unzeitgemäße Romantiker seine Zartheit »sous le manteau de hussard«, unter dem Husarenmantel einer lauten, brüsken Grobheit und Kosakendeutlichkeit. Daher seine »fiascos« bei Frauen, diese geheime und schließlich von Freunden ausgeplauderte Verzweiflung seines Lebens. Nichts hat Stendhal zeitlebens so sehr ersehnt als handgreifliche Liebestriumphe (»L’amour a toujours été pour moi la plus grande des affaires ou plutôt la seule«), und vor niemandem, vor keinem Philosophen, keinem Dichter, nicht einmal vor Napoleon verrät er so viel wirklichen Respekt wie vor seinem Onkel Gagnon oder seinem Vetter Martial Daru, die unzählige Frauen besaßen, ohne irgendwelche geistige oder psychologische Kunstgriffe anzuwenden – oder vielleicht ebendarum, denn Stendhal kommt allmählich zur Erkenntnis, nichts hindere dermaßen den positiven Erfolg bei Frauen, wie wenn man sich selbst zu sehr mit Empfindung engagiere; »man hat nur Erfolge bei Frauen, wenn man sich nicht mehr Mühe gibt, sie zu haben, als eine Partie Billard zu gewinnen«, redet er sich schließlich ein. »J’ai trop de sensibilité pour avoir jamais le talent de Lovelace«; über kein Problem hat er dauerhafter, intensiver nachgedacht. Und gerade dieser seiner nervösen und mißtrauischen Selbstanatomie vom Erotischen her dankt er (und wir mit ihm) den vollkommenen Einblick in das feinste Faserwerk seiner Empfindungen. Nichts habe ihn, erzählt er selbst, dermaßen zur Psychologie erzogen, wie die amourösen Mißerfolge, die geringe Zahl seiner Eroberungen (die er im ganzen mit sechs oder sieben beziffert); hätte er wie andere Glück in der Liebe gehabt, nie wäre er genötigt gewesen, so beharrlich der Frauenpsyche, ihren feinsten, zartesten Emanationen nachzulauschen: an den Frauen hat Stendhal seine Seele überprüfen gelernt, auch hier schult eine Zurückgedrängtheit den Beobachter zum vollendeten Kenner.


Daß diese systematische Selbstbeobachtung Stendhals dann aber außergewöhnlich früh zur Selbstdarstellung führt, hat noch einen besonderen und höchst sonderbaren Grund: Stendhal hat ein schlechtes – oder besser gesagt, ein sehr eigenwilliges und kapriziöses Gedächtnis, jedenfalls ein unverläßliches, und deshalb läßt er den Bleistift nie aus der Hand. Ununterbrochen notiert und notiert er: an den Rand der Lektüre, auf lose Blätter, auf Briefe, vor allem in sein Tagebuch. Seine Furcht, wichtige Erlebnisse zu vergessen und so die Kontinuität seines Lebens (dieses einzigen Kunstwerkes, an dem er planhaft und dauerhaft arbeitet) zu unterbrechen, bewirkt, daß er jede Gefühlserregung, jedes Geschehnis immer sofort schriftlich fixiert. Er schreibt auf einen Brief der Gräfin Curial, einen erschütternden, von Schluchzen zerfetzten Liebesbrief, mit der steinernen Sachlichkeit eines Registrators das Datum, wann ihr Verhältnis begonnen und wann es geendet, er notiert, wann und um wieviel Uhr er Angela Pietragrua endlich besiegte; oft hat man den Eindruck, er beginne erst zu denken mit der Feder in der Hand. Dieser nervösen Graphomanie danken wir schließlich sechzig oder siebzig Bände Selbstdarstellung in allen erdenkbaren dichterischen, brieflichen und anekdotischen Äußerungen (noch heute kaum zur Hälfte publiziert). Nicht ein eitler oder exhibitionistischer Bekenntnisdrang, sondern die egoistische Angst, auch nur einen Tropfen jener nie wieder beschaffbaren Substanz Stendhal in seinem undichten Gedächtnis versickern zu lassen, hat uns eigentlich die Biographie Stendhals so vollkommen konserviert.


Diese Sonderbarkeit seines Gedächtnisses hat Stendhal wie alles, was ihm gehörte, mit einer hellseherischen Deutlichkeit analysiert. Zunächst stellte er fest, daß sein Erinnerungsvermögen erzegotistisch ist. »Je manque absolument de mémoire pour ce qui ne m’intéresse pas.« Darum behält er so wenig vom Außerseelischen, keine Zahlen, keine Daten, keine Fakten, keine Orte; er vergißt von wichtigsten historischen Ereignissen alle Einzelheiten vollkommen; er merkt sich bei Frauen oder Freunden (selbst bei Byron und Rossini) nicht, wann er ihnen begegnet ist; aber fern, diesen Defekt zu leugnen, gibt er ihn unbedenklich zu: »je n’ai de prétention à la véracité qu’en ce qui touche mes sentiments«. Nur insoweit einmal seine Empfindung getroffen war, übernimmt Stendhal die Garantie für sachliche Wahrhaftigkeit; ausdrücklich »protestiert« er in einem seiner Werke »er vermesse sich niemals, die Realität der Dinge zu schildern, sondern einzig den Eindruck, den sie ihm hinterließen« (»je ne prétends pas peindre les choses en elles-mêmes, mais seulement leur effet sur moi«). Nichts beweist also deutlicher, daß für Stendhal die Geschehnisse an sich, »les choses en elles-mêmes«, gar nicht existent werden, sondern nur insoweit, als sie sich in Seelenerregung auswirken: dann freilich setzt dies absolut einseitige Gefühlsgedächtnis mit einer Schärfe ohnegleichen ein, und der vollkommen unsicher ist, ob er Napoleon jemals gesprochen, und nicht weiß, ob er sich an den Übergang über den Großen Sankt Bernhard wirklich erinnert oder bloß an einen Kupferstich, ebenderselbe Stendhal erinnert sich der flüchtigen Geste einer Frau, eines Tonfalls, einer Bewegung mit Diamantklarheit, insofern er einmal innerlich von ihr erregt gewesen. Überall, wo das Gefühl unbeteiligt blieb, lagern reglose dunkle Nebelschichten oft über Jahrzehnte – und sonderbarer noch, auch wo das Gefühl wiederum allzu vehement einsetzte, auch da ist bei Stendhal das Erinnerungsvermögen zerstört. Hundertemal und gerade in den spannendsten Augenblicken seines Lebens (bei der Schilderung des Alpenüberganges, der Reise nach Paris, der ersten Liebesnacht) wiederholt er die Feststellung: »Ich habe daran keine Erinnerung mehr, die Empfindung war zu vehement.« Außerhalb dieser also eng begrenzten Gefühlssphäre ist Stendhals Gedächtnis (und damit auch seine Künstlerschaft) niemals einwandfrei: »Je ne retiens que ce qui est peinture humaine. Hors de là je suis nul«: einzig seelenbetonte Eindrücke halten bei Stendhal dem Vergessen stand. Darum vermag dieser entschiedenste Egozentriker selbstbiographisch niemals Weltzeuge zu sein; er kann sich eigentlich nicht zurück denken, er kann sich nur zurück fühlen. Auf dem Umweg über den Reflex in seiner Seele – nicht also direkt – rekonstruiert er sich den tatsächlichen Ablauf »il invente sa vie«: statt zu finden, erfindet, erdichtet er sich die Tatsachen aus der Erinnerung des Gefühls. So eignet seiner Selbstbiographie etwas Romanhaftes sowie seinen Romanen etwas Selbstdarstellerisches; man erwarte sich nie von ihm eine so rundumschlossene Darstellung seiner Eigenwelt, wie etwa Goethe sie in »Dichtung und Wahrheit« gegeben. Auch als Autobiograph muß Stendhal naturgemäß Fragmentariker, Impressionist sein. Tatsächlich beginnt er sein Selbstbildnis nur mit lockern, zufälligen Strichen und Notizen in jenem »Journal«, seinem durch Jahrzehnte fortgeführten Tagebuch, das er selbstverständlich nur zum Eigengebrauch bestimmt. Nur notieren zunächst, nur festhalten die kleinen Erregungen, solange sie noch heiß sind, solange sie in der Hand unruhig pochen wie das Herz eines gefangenen Vogels! Nur sie nicht wegflattern lassen, alles haschen und halten, nicht dem Gedächtnis vertrauen, diesem unruhigen Fluß, der alles in seinem Laufe verschiebt und verströmt! Nicht sich scheuen, Belangloses, bloßes Kinderspielzeug der Sinne, kunterbunt in die große Truhe zu schichten: wer weiß, vielleicht beugt der Erwachsene sich gerade am liebsten über das Kuriose und Banale seines verschollenen Herzens. Darum ist es ein genialer Instinkt, der den Jüngling diese kleinen Blitzbilder des Gefühls sorgfältig sammeln und bewahren läßt; der gereifte Mann, der gelernte Psychologe, der überlegene Künstler wird sie später dankbar und kennerisch einordnen in das große Gemälde seiner Jugendgeschichte, jener Autobiographie, die er »Henri Brulard« nennt, diesen wunderbaren und romantischen Spätblick auf seine Kindheit.


Denn spät erst wie seine Romane unternimmt Stendhal den geistigen Aufbau seiner Jugend in bewußtem, autobiographischem Werke. Auf den Stufen von San Pietro in Montorio in Rom sitzt ein alternder Mann und sinnt über sein Leben nach. Ein paar Monate noch und er wird fünfzig Jahre sein: vorbei, endgültig vorbei die Jugend, die Frauen, die Liebe. Nun wäre es wohl an der Zeit, zu fragen: »Wer war ich? Wer bin ich gewesen?« Vorbei die Zeit, da das Herz sich durchforschte, um bereiter, schlagkräftiger zu werden für Aufschwung und Abenteuer: nun verlangt die Stunde schon, ein Fazit zu ziehen, zurückzuschauen. Und abends, kaum daß Stendhal von der Abendgesellschaft beim Gesandten gelangweilt zurückkehrt (gelangweilt, denn man erobert keine Frauen mehr und ist müde geworden alles lockern Konversierens), beschließt er plötzlich: »Ich muß mein Leben aufschreiben! Und wenn das getan ist, in zwei oder drei Jahren, werde ich vielleicht endlich wissen, wie ich gewesen: heiter oder melancholisch, geistreich oder ein Dummkopf, mutig oder feig, und vor allem ein Glücklicher oder ein Unglücklicher.«


Ein leichter Vorsatz, eine gewaltige Aufgabe! Denn Stendhal hat sich vorgenommen, in diesem »Henri Brulard« (den er in Chiffren niederschreibt, um sich allfälligen Neugierigen unkenntlich zu machen) »simplement vrai«, »einfach wahr« zu sein; aber wie schwer ist, er weiß es, das Wahrsein, dies Wahrbleiben wider sich selbst! Wie sich zurechtfinden in dem schattenhaften Labyrinth der Vergangenheit, wie unterscheiden zwischen Irrlicht und Licht, wie den Lügen entkommen, die verlarvt hinter jeder Windung des Weges zudringlich warten! Stendhal, der Psychologe, erfindet da – erstmalig und vielleicht als einziger eine geniale Methode, von der Falschmünzerei der allzu gefälligen Erinnerung sich nicht prellen zu lassen, nämlich mit fliegender Feder zu schreiben, nicht nachzulesen, nicht nachzudenken (»je prends pour principe, de ne pas me gêner et d’effacer jamais«). Die Scham, die Bedenken also einfach überrennen; überraschend aus sich hervorbrechen mit seinen Geständnissen, ehe der Selbstrichter, der Zensor innen aufwacht. Nicht malerisch arbeiten, sondern wie ein Momentphotograph! Immer die urtümliche Wallung in ihrer charakteristischen Bewegung festhalten, ehe sie eine künstliche theatralische Pose annimmt. Stendhal schreibt seine Selbsterinnerungen mit fliegender Feder, in einem Ruck, und tatsächlich, ohne jemals die Blätter wieder zu überlesen, um Stil, um Einheitlichkeit, um methodische Plastik so vollkommen unbekümmert, als wäre das Ganze nur ein Privatbrief an seinen Freund: »J’écris ceci sans mentir, j’espère sans me faire illusion, avec plaisir comme une lettre à un ami.« An diesem Satz ist jedes Wort wichtig: Stendhal schreibt seine Selbstdarstellung, »wie er hofft«, wahrhaft, »ohne sich Illusionen zu machen«, »mit Vergnügen«, und »wie einen Privatbrief«, und dies, »um nicht kunsthaft zu lügen wie Jean-Jacques Rousseau«. Bewußt opfert er die Schönheit seiner Memoiren der Aufrichtigkeit, die Kunst der Psychologie.


In der Tat, rein artistisch gesehen, bedeutet der »Henri Brulard«, ebenso wie seine Fortsetzung, die »Souvenirs d’un égotiste« eine dubiose Kunstleistung: dazu sind beide zu eilfertig, zu lässig, zu planlos hingespritzt. Was Stendhal an Erinnerungsfakten gerade in die Finger kommt, wirft er blitzschnell in das Buch hinein, gleichgültig, ob sie an jene Stelle hinpassen oder nicht. Genau wie in seinen Notizbüchern nachbart das Sublimste mit dem Seichtesten, abwegige Allgemeinheiten mit den intimsten Personalien. Aber gerade diese Ungezwungenheit, dies Sicherzählen in Hemdsärmeln verrät allerhand Aufrichtigkeiten, von denen jede einzelne seelendokumentarischer wirkt als sonst ein Folioband. Geständnisse jener entscheidenden Art wie das berüchtigte über seine gefährliche Neigung zur Mutter, den tierischen tödlichen Haß gegen den Vater, solche bei andern feig in die Winkel des Unterbewußtseins verkrochene Augenblicke wagen sich nicht heraus, sobald ein Zensor Zeit hat, sie zu überwachen: diese intimsten Dinge sind – man kann es nicht anders sagen – durchgepascht in der Sekunde absichtsvoll erzwungener moralischer Unachtsamkeit. Nur durch dieses geniale Psychologensystem, daß Stendhal seinen Empfindungen niemals Zeit läßt, sich auf »schön« oder »moralisch« zu frisieren, hat er sie wirklich gepackt, wo sie am kitzligsten sind, wo sie anderen, Plumperen, Langsameren aufschreiend wegspringen: nackt, vollkommen seelennackt und noch völlig schamlos stehen diese ertappten Sünden und Sonderlichkeiten plötzlich auf glattem Papier und starren zum erstenmal Menschenblicken in die Augen. Welch wunderbare, tragisch wilde Beängstigungen, welche dämonisch urmächtigen Zorngefühle brechen da aus einem winzigen Kinderherzen auf! Kann man die Szene vergessen, wie der kleine Henri, als die ihm verhaßte Tante Seraphie stirbt (»einer der beiden Teufel, die auf meine arme Kindheit losgelassen waren« – der andere war der Vater), wie das verbitterte, ureinsame Kind »in die Knie fällt und Gott dankt«. Und knapp daneben (bei Stendhal verschränken sich die Gefühle labyrinthisch vielfältig) jene kleine Bemerkung, daß selbst dieser Teufel einmal die erotische Frühreife des Kindes eine (genau beschriebene) Sekunde lang reizte. Kaum hat man jemals vor Stendhal gespürt, wie vielfach der Mensch geschichtet ist, wie das Konträrste und Widerspaltigste an den äußersten Nervenenden sich berührt, wie schon die unflügge Kinderseele das Gemeine und das Erhabenste, Brutalität und Zartheit in ganz dünnen Lagen, Blatt über Blatt zusammengefaltet enthält; und gerade mit diesen ganz zufälligen achtlosen Entdeckungen beginnt eigentlich erst die Analytik in der Selbstbiographie.


Denn gerade diese Lässigkeit, diese Indifferenz gegen Form und Architektur, gegen Nachwelt und Literatur, gegen Moral und Kritik, das herrlich Private und Selbstgenießerische dieses Versuchs macht Henri Brulard zu einem unvergleichlichen Seelendokument. In seinen Romanen wollte Stendhal immerhin noch Künstler sein; hier ist er nur Mensch und Individuum, beseelt von Neugier nach sich selbst. Sein Selbstbildnis hat den unbeschreiblichen Reiz des Fragmentarischen und die spontane Wahrheit des Improvisierten; man kennt Stendhal niemals zu Ende aus seinem Werke und nicht aus seiner Selbstbiographie. Unablässig fühlt man sich von neuem herangelockt, seine Rätselhaftigkeit zu enträtseln, im Erkennen ihn zu verstehen, im Verstehen ihn zu erkennen. So wirkt seine zwielichtfarbene, heißkalte, von Nerv und Geist vibrierende Seele noch heute leidenschaftlich ins Lebendige weiter; indem er sich selbst gestaltete, hat er seine Neugierlust und Seelenseherkunst in ein neues Geschlecht hineingestaltet und uns alle die funkelnde Freude des Selbstbefragens und Selbstbelauschens gelehrt.

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Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.