Krise und Verwandlung


Das wichtigste Ereignis im Leben eines Menschen ist der Augenblick, wo er sich seines Ichs bewußt wird; die Folgen dieses Ereignisses können die wohltätigsten oder die schrecklichsten sein.


November 1898


Jede Gefährdung wird zu Gnade, jede Hemmung zu Hilfe und Heiltrieb im Schöpferischen, weil sie unbekannte Kräfte der Seele gewaltsam herausfordert; nichts wird einer dichterischen Existenz gefährlicher als Zufriedenheit und ebene Bahn. Tolstois Weltlauf kennt nur ein einziges Mal solche selbstvergessene Entspannung, dies Glück des Menschen, diese Gefahr des Künstlers. Nur einmal inmitten seiner Pilgerschaft zu sich selbst schenkt sich seine ungenügsame Seele Rast, sechzehn Jahre innerhalb eines dreiundachtzigjährigen Daseins; einzig die Zeit von seiner Vermählung bis zum Abschluß der beiden Romane »Krieg und Frieden« und »Anna Karenina« lebt Tolstoi mit sich und seinem Werke in Frieden. Dreizehn Jahre (1865 bis 1878) verstummt auch das Tagebuch, dieser Büttel seines Gewissens, Tolstoi, der Glückliche, in sein Werk Verlorene, beobachtet nicht sich mehr, sondern einzig die Welt. Er fragt nicht, weil er zeugt, sieben Kinder und die zwei mächtigsten epischen Werke: damals und nur damals allein lebt Tolstoi wie alle andern Sorglosen im bürgerlich ehrenhaften Egoismus der Familie, glücklich, zufrieden, weil von der »schrecklichen Frage nach dem Warum« befreit. »Ich grüble nicht mehr über meine Lage (alles Grübeln ist vorbei) und wühle nicht mehr in meinen Empfindungen – in den Beziehungen zu meiner Familie fühle ich nur und reflektiere nicht. Dieser Zustand gewährt mir außerordentlich viel geistige Freiheit.« Die Selbstbeschäftigung hemmt nicht das innerlich strömende Gestalten, der unerbittliche Wachtposten vor dem moralischen Ich tritt schläfernd zurück und läßt dem Künstler freie Bewegung, vollsinnliches Spiel. Er wird berühmt in jenen Jahren, Leo Tolstoi, er vervierfacht sein Vermögen, er erzieht seine Kinder und weitet sein Haus, aber sich am Glück zu befriedigen, am Ruhm sich zu sättigen, an Reichtum sich zu mästen, ist diesem moralischen Genie auf die Dauer nicht erlaubt. Von jeder Gestaltung wird er immer zurückkehren zu seinem ureigentlichen Werke der vollkommenen Selbstgestaltung, und da kein Gott ihn aufruft in der Not, wird er selbst ihr entgegengehen. Da kein Außen ihm ein Schicksal schenkt, wird er sich von innen seine Tragik erschaffen. Denn immer will sich das Leben – und wie erst ein so gewaltiges! – in der Schwebe halten. Setzt weltseitig der Zustrom des Schicksals aus, so höhlt von innen der Geist sich neue springende Quelle, damit der Kreislauf des Daseins nicht versiege. Was Tolstoi in der Nähe des fünfzigsten Jahres erfährt, seinen Zeitgenossen zu unerklärbarer Überraschung, nämlich seine plötzliche Abkehr von der Kunst, seine Hinwendung auf das Religiöse, dieses Phänomen betrachte man durchaus nicht als außerordentliches – vergebens sucht man nach einer Anormalität in der Entwicklung dieses allergesündesten Menschen – außerordentlich entäußert sich daran nur, wie immer bei Tolstoi, die Vehemenz der Empfindung. Denn die Umschaltung, die Tolstoi im fünfzigsten Jahre seines Lebens vornimmt, veranschaulicht nichts anderes als einen Vorgang, der dank geringerer Plastizität bei den meisten Männern unsichtbar bleibt: die unvermeidliche Anpassung des leibgeistigen Organismus an das nahende Alter, das Klimakterium des Künstlers.


»Das Leben blieb stehen und wurde unheimlich«, so formuliert er selbst den Anfang seiner Seelenkrise. Der Fünfzigjährige hat jenen kritischen Punkt erreicht, wo die produktive Formkraft des Plasmas nachzulassen beginnt und die Seele droht, in Erstarrung überzugehen. Nicht mehr so bildnerisch drängen die Sinne, die Farbkraft der Eindrücke verblaßt wie jene des eigenen Haares, jene zweite Epoche beginnt, die gleichfalls uns von Goethe vertraute, da das warme Sinnenspiel sich zur Kelter der Begriffe sublimiert, Gegenstand zur Erscheinung, Bildnis zum Symbol wird. Wie jede profunde Verwandlung des Geistes leitet auch hier zunächst ein leises Unbehagen des Leibes solche Umgeburt ein. Eine geistige Kälteangst, eine entsetzliche Verarmungsfurcht schauert jählings über die beunruhigte Seele, und der feinnervige Seismograph des Körpers verzeichnet sofort herannahende Erschütterung (die mystischen Krankheiten Goethes bei jeder Verwandlung!). Aber – und hier betreten wir kaum durchlichtetes Gebiet – indes die Seele diesen Angriff vom Dunkel her noch nicht zu deuten weiß, hat im Organismus schon selbsttätig die Gegenwehr begonnen, eine Umstellung im Psycho-Physischen, ohne Wissen, ohne Willen des Menschen, aus der undurchdringlichen Vorsorge der Natur. Denn genau wie den Tieren noch lange vor dem Kälteeinbruch plötzlich ein warmes Winterhaar um den Leib sich legt, so wächst auch der menschlichen Seele im Zeitpunkt des ersten Altersüberganges, kaum daß der Zenit überschritten, ein neues geistiges Schutzkleid, eine dichte, defensive Deckhülle. Diese profunde Umstellung vom Sinnlichen ins Geistige, ausgehend vielleicht vom Zellwerk der Drüsen und hinvibrierend bis in die letzten Schwingungen schöpferischer Produktion, diese klimakterische Epoche formt sich als seelische Erschütterung genauso blutbedingt und krisenhaft wie die Pubertät selbst aus, wenn auch – heran, ihr Psychoanalytiker und Psychologen! – kaum in den körperlichen Grundspuren erlauscht, geschweige denn in den geistigen beobachtet. Bei den Frauen bestenfalls, wo das Phänomen der Geschlechtsrückbildung gröber und klinischer in beinahe greifbaren Formen zutage tritt, mögen einzelne Beobachtungen gesammelt sein; vollkommen unerforscht dagegen harrt noch die mehr geistige der männlichen Umschaltung und ihre seelischen Konsequenzen der psychologischen Durchlichtung. Denn das Mannesklimakterium ist fast einhellig die Lieblingszeit der großen Konversionen, der religiösen, der dichterischen und verstandesmäßigen Sublimierungen, Schutzkleid sie alle um das schwächer durchblutete Sein, geistiger Ersatz für verminderte Sinnlichkeit, verstärktes Weltgefühl für abklingendes Selbstgefühl, verebbende Lebenspotenz. Vollkommen komplementär der Pubertät, gleich lebensgefährlich bei den Gefährdeten, gleich vehement bei den Vehementen, gleich produktiv bei den Produktiven, leitet solcherart das Mannesklimakterium eine andersfarbige schöpferische Seelenepoche ein, einen neuen geistigen Johannestrieb zwischen Aufstieg und Niederstieg. Bei jedem bedeutenden Künstler begegnen wir diesem unausweichlichen Krisenaugenblick, bei keinem freilich mit solch erdaufwühlender, vulkanischer und beinahe vernichtender Impetuosität wie bei Tolstoi. Vom realen Raum aus betrachtet, von bequemer Objektivität her, geschieht ja Tolstoi in seinem fünfzigsten Jahr eigentlich nichts anderes als das Altersgemäße: eben, daß er sich altern fühlt. Das ist alles, sein ganzes Erlebnis. Ein paar Zähne fallen aus, das Gedächtnis dunkelt ab, manchmal schatten Mattigkeiten in die Gedanken: alltägliches Phänomen eines Fünfzigjährigen. Aber Tolstoi, dieser Vollmensch, diese nur im Strömen und Überströmen erfüllte Natur fühlt sich bei dem ersten Anhauch von Herbstlichkeit sofort schon welk und todesreif. Er vermeint, »nicht mehr leben zu können, wenn man nicht trunken ist vom Leben«; eine neurasthenische Depression, eine ratlose Verstörung überkommt den übergesunden Mann. Er kann nicht schreiben, er kann nicht denken – »Ich schlafe geistig und kann nicht aufwachen, mir ist nicht wohl, ich bin mutlos« –; wie eine Kette schleppt er »die langweilige und platte Anna Karenina« zu Ende, sein Haar färbt sich plötzlich grau, Falten zerschneiden die Stirn, der Magen revoltiert, die Gelenke werden schwach. Stumpf brütet er vor sich hin und sagt, »daß ihn nichts mehr freue, daß vom Leben nichts mehr zu erwarten sei, daß er bald sterben werde«, er »strebt mit allen Kräften fort vom Leben«, und knapp hintereinander verzeichnet das Tagebuch die zwei schneidenden Eintragungen »Todesfurcht« und dann wenige Tage später »Il faudra mourir seul«. Tod aber – ich habe es in der Darstellung seiner Vitalität auszuführen versucht – bedeutet diesem Lebensriesen den schrecklichsten aller Schreckgedanken, darum schauert er sofort zusammen, sobald nur ein paar Nähte seines ungeheuren Bündels Kraft sich zu lockern scheinen.


Allerdings, der geniale Selbstdiagnostiker irrt nicht vollkommen, wenn er mit den Nüstern Verhängnis wittert, denn tatsächlich, etwas von dem ursprünglichen Tolstoi stirbt endgültig ab in dieser Krise. Bisher hatte Tolstoi niemals die Welt nach ihrem metaphysischen Sinn gefragt, er hat sie nur betrachtet wie der Künstler sein Modell; folgsam hatte sie sich ihm gegenübergestellt, wenn er ihr Bildnis zeichnete, und sich streicheln lassen und fassen von seinen schöpferischen Händen. Plötzlich ist diese naive Freude, dieses rein bildnerische Anschauen ihm unmöglich. Die Dinge geben sich ihm nicht mehr ganz, er spürt, sie verstecken etwas vor ihm, ein Hintersich, irgendeine Frage; zum erstenmal empfindet dieser klarstsehende Mensch das Sein als ein Geheimnis, er ahnt einen Sinn, den er nicht fassen kann mit den bloß äußern Sinnen – zum erstenmal versteht Tolstoi, daß, dies Hintergründige zu begreifen, ein neues Instrument ihm not tue, ein wissenderes, ein bewußteres Auge, ein Denkauge. Beispiele mögen diese innere Umwandlung sinnfälliger erläutern. Hundertmal hat Tolstoi im Kriege Menschen sterben sehen und ohne Frage nach Recht und Unrecht ihr Verbluten geschildert als Maler, als Dichter, als spiegelnde Pupille bloß, als formenempfindliche Netzhaut. Jetzt sieht er in Frankreich den Kopf eines Verbrechers von der Guillotine niederpoltern, und sofort empört eine sittliche Macht in ihm sich gegen die ganze Menschheit. Tausendemal ist er, der Herr, der Barin, der Graf, an seinen Dorfbauern vorbeigeritten und hat gleichgültig, indes sein Pferd im Galopp ihnen die Röcke überstaubte, demütig-sklavischen Gruß als ein Selbstverständliches hingenommen. Jetzt bemerkt er zum erstenmal ihre Barfüßigkeit, ihre Armut, ihr verschrecktes rechtloses Dasein und wirft sich zum erstenmal die Frage in die Brust, ob er selbst ein Recht habe, angesichts ihrer Notdurft und Mühe sorglos zu bleiben. Unzähligemal sauste sein Schlitten in Moskau Scharen frierender Bettler entlang, ohne daß er den Kopf oder die geringste Aufmerksamkeit ihnen zuwendete; Armut, Elend, Unterdrückung, Militär, Gefängnisse, Sibirien waren ihm so natürliche Fakta gewesen wie Schnee im Winter und Wasser im Faß; jetzt plötzlich, bei einer Volkszählung, erkennt der Erweckte die furchtbare Lage des Proletariats als eine Anklage gegen seinen Überfluß. Seit er Menschliches nicht mehr als bloßes Material empfindet, das man »zu studieren und zu beobachten« hat, stürzt die ruhige, malerische Ordnung des Daseins über seiner Seele zusammen; er kann nicht mehr kaltbildnerisch ins Leben schauen, sondern muß unablässig fragen nach Sinn und Widersinn, er fühlt alles Humane nicht mehr von sich aus, egozentrisch oder introvertiert, sondern sozial, brüderlich, extrovertiert: das Bewußtsein der Gemeinschaft mit jedem und allem hat ihn »befallen« wie eine Krankheit. »Man muß nicht denken – es ist zu schmerzhaft«, stöhnt er auf. Aber seit einmal dieses Auge des Gewissens aufgebrochen, wird ihm das Leiden der Menschheit, die Urqual der Welt von jetzt ab unabänderlich alleigenste Angelegenheit. Gerade aus dem mystischen Schrecken vor dem Nichts erhebt sich ein neuer schöpferischer Schauer vor dem All, erst aus seiner vollkommenen Selbstaufgebung erwächst dem Künstler die Aufgabe, noch einmal und nun in moralischen Maßen seine Welt zu erbauen. Wo er Tod vermeint, waltet das Wunder der Wiedergeburt: jener Tolstoi ist erstanden, den nicht nur als Künstler, sondern als menschlichsten der Menschen eine Menschheit verehrt.


Aber damals, unmittelbar in der schmetternden Stunde des Zusammenbruchs, in jenem ungewissen Augenblick vor dem »Erwachen« (wie Tolstoi später, getröstet, seinen beunruhigenden Zustand nennt), ahnt der Überraschte in der Verwandlung noch nicht den Übergang. Ehe dies andere neue Auge des Gewissens in ihm aufbricht, fühlt er sich völlig blind, nur Chaos rundum und weglose Nacht. »Wozu denn leben, wenn das Leben so furchtbar ist?« fragt er die ewige Frage des Ekklesiastes. Wozu sich mühen, wenn man doch nur ackert für den Tod? Wie ein Verzweifelter tastet er im verfinsterten Weltgewölbe die Wände ab, um irgendwo einen Ausgang zu finden, eine Selbstrettung, einen Funken Licht, einen Sternglanz Hoffnung. Und erst, wie er sieht, daß niemand von außen ihm Hilfe und Erleuchtung bringt, gräbt er sich selbst einen Minengang, planhaft und systematisch, Stufe um Stufe. 1879 schreibt er die folgenden »unbekannten Fragen« auf ein Blatt Papier:


a) Wozu leben?
b) Welche Ursache hat meine Existenz und die jedes anderen?
c) Welchen Zweck hat mein Dasein und jedes andere?
d) Was bedeutet jene Spaltung in Gut und Böse, welche ich in mir fühle, und wozu ist sie da?
e) Wie soll ich leben?
f) Was ist der Tod – wie kann ich mich retten?


»Wie kann ich mich retten? Wie soll ich leben?« das ist Tolstois furchtbarer Schrei, von der Kralle der Krise ihm heiß aus dem Herzen gerissen. Und dieser Schrei gellt nun durch dreißig Jahre, bis die Lippen versagen. Die gute Botschaft, die von den Sinnen kam, er glaubt sie nicht mehr, die Kunst gibt keinen Trost, die heiße Trunkenheit der Jugend ist grausam ernüchtert, von allen Seiten strömt Kälte heran. Wie kann ich mich retten? Immer gieriger wird dieser Schrei, denn es kann doch nicht sein, daß dieses scheinbar Sinnlose nicht doch einen Sinn hätte. Vernunft allein reicht nur aus, das Lebendige, nicht aber den Tod zu wissen, darum tut eine neue, eine andere Seelenkraft not, das Unfaßbare zu erfassen. Und da er in sich selbst, dem Ungläubigen, dem Sinnesmenschen, sie nicht findet, da wirft er sich, media in vita, inmitten seines Weges plötzlich demütig hin auf die Knie vor Gott, schleudert sein Weltwissen, das ihn fünfzig Jahre unendlich beglückte, verächtlich von sich und bittet ungestüm um einen Glauben: »Schenke mir ihn, Herr, und laß mich den andern helfen, ihn zu finden.«

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