Dickens


Nein, man soll nicht Bücher und Biographen befragen, wie sehr Charles Dickens von seinen Zeitgenossen geliebt worden ist. Liebe lebt atmend nur im gesprochenen Wort. Man muß es sich erzählen lassen, am besten von einem Engländer, der mit seinen Jugenderinnerungen noch zurückreicht bis an jene Zeit der ersten Erfolge, von einem derer, die sich noch immer nicht nach nun fünfzig Jahren entschließen können, den Dichter des »Pickwick« Charles Dickens zu nennen, sondern ihm unentwegt seinen alten vertraulicheren, innigeren Necknamen »Boz« geben. An ihrer wehmütig rücksinnenden Rührung kann man den Enthusiasmus der Tausende messen, die damals mit ungestümem Entzücken jene blauen, monatlichen Romanhefte empfangen hatten, die heute, ein Rarissimum für den Bibliophilen, in Fächern und Schränken gilben. Damals – so erzählte mir einer dieser »old Dickensians« – konnten sie es am Posttage niemals über sich bringen, den Boten zu Hause abzuwarten, der endlich, endlich das neue blaue Heft von Boz im Bündel trug. Einen ganzen Monat hatten sie danach gehungert, hatten geharrt, gehofft, gestritten, ob Copperfield die Dora heiraten werde oder die Agnes, hatten sich gefreut, daß Micawbers Verhältnisse wieder zu einer Krisis gelangt waren – wußten sie doch, er werde sie mit heißem Punsch und guter Laune heroisch überwinden! –, und nun sollten sie noch warten, warten, bis der Postbote auf der schläfrigen Kutsche kam und ihnen all diese heiteren Scharaden auflöste? Das konnten sie nicht, es ging einfach nicht. Und alle, die Alten wie die Jungen, wanderten Jahr für Jahr am fälligen Tage dem Briefboten zwei Meilen entgegen, nur um ihr Buch früher zu haben. Im Heimwandern schon fingen sie an zu lesen, einer guckte dem andern über die Schulter ins Blatt, andere lasen laut vor, und nur die Gutmütigsten liefen mit langen Beinen zurück, um die Beute rascher zu Frau und Kind zu bringen. So wie dieses Städtchen hat damals jedes Dorf, jede Stadt, das ganze Land und darüber hinaus die in allen Erdteilen gesiedelte englische Welt Charles Dickens geliebt; hat ihn geliebt von der ersten Stunde der Begegnung bis zur letzten seines Lebens. Nie im neunzehnten Jahrhundert hat es irgendwo ein ähnlich unwandelbares herzliches Verhältnis zwischen einem Dichter und seiner Nation gegeben. Wie eine Rakete schoß dieser Ruhm auf, aber er losch nie aus, er blieb wie eine Sonne wandellos leuchtend über der Welt. Vom ersten Heft der »Pickwickier« wurden 400 Exemplare gedruckt, vom fünfzehnten bereits 40.000: mit solcher Lawinenmacht stürzte sein Ruhm nieder in seine Zeit. Nach Deutschland bahnte er sich schnell den Weg, Hunderte und Tausende kleiner Groschenhefte säten Lachen und Freude in die Furchen selbst der verwittertsten Herzen; nach Amerika, Australien und Kanada wanderte der kleine Nikolaus Nickleby, der arme Oliver Twist und die tausend anderen Gestalten dieses Unerschöpflichen. Heute sind schon Millionen Bücher von Dickens im Umlauf, große, kleine, dicke und dünne Bände, billige Ausgaben für die Armen und die teuerste Ausgabe drüben in Amerika, die je von einem Dichter veranstaltet worden ist (dreimalhunderttausend Mark, glaube ich, kostet sie: diese Ausgabe für Milliardäre), aber in all den Büchern nistet heute wie damals noch immer das selige Lachen, um aufzuflattern wie ein zwitschernder Vogel, sobald man die ersten Blätter gewendet hat. Beispiellos ist die Beliebtheit dieses Autors gewesen: wenn sie sich im Laufe der Jahre nicht steigerte, so war es nur, weil die Leidenschaft keine höheren Möglichkeiten mehr kannte. Als Dickens sich entschloß, öffentlich zu lesen, als er zum erstenmal seinem Publikum Auge in Auge entgegentrat, war England im Taumel. Man stürmte die Säle, pfropfte sie voll, an den Säulenpfeilern klammerten sich Enthusiasten an, krochen unter sein Podium, nur um den geliebten Dichter hören zu können. In Amerika schliefen die Leute bei bitterster Winterkälte auf mitgebrachten Matratzen vor den Kassen, Kellner brachten ihnen das Essen aus den benachbarten Restaurants, aber der Andrang wurde unaufhaltsam. Alle Säle wurden zu klein, und man räumte schließlich dem Dichter in Brooklyn eine Kirche ein als Vorlesesaal. Von der Kanzel las er die Abenteuer Oliver Twists und die Geschichte der kleinen Neil. Launenlos war dieser Ruhm, er drängte Walter Scott zur Seite, überschattete ein Leben lang das Genie Thackerays; und als die Flamme erlosch, als Dickens starb, ging es wie ein Riß durch die ganze englische Welt. Auf der Straße erzählten es Fremde einander, Bestürzung verstörte London wie nach einer verlorenen Schlacht. Zwischen Shakespeare und Fielding bettete man ihn, in Westminster Abbey, dem Pantheon Englands; Tausende strömten hinzu, und tagelang war die schlichte Gedenkstätte überflutet von Blumen und Kränzen. Und noch heute, nach vierzig Jahren, kann man selten vorübergehen, ohne ein paar von dankbarer Hand hingestreute Blüten zu finden: der Ruhm und die Liebe ist nicht gewelkt in all den Jahren. Heute wie damals in jener Stunde, da England dem Ahnungslosen, dem Namenlosen das unverhoffte Geschenk des Weltruhms in die Hand drückte, ist Charles Dickens der geliebteste, umworbenste und gefeierteste Erzähler der ganzen englischen Welt.


Eine so ungeheuerliche, gleicherweise in die Breite wie in die Tiefe dringende Wirkung eines dichterischen Werkes kann nur durch das seltene Zusammentreffen zweier meist widerstrebender Elemente Wirklichkeit werden: durch die Identität eines genialen Menschen mit der Tradition seiner Zeit. Im allgemeinen wirken das Traditionelle und das Geniale gegeneinander wie Wasser und Feuer. Ja, es ist beinahe das Merkzeichen des Genies, daß es als verkörperte Seele einer werdenden Tradition die vergangene befeindet, daß es als Ahnherr eines neuen Geschlechtes dem absterbenden Blutfehde ansagt. Ein Genie und seine Zeit sind wie zwei Welten, die zwar Licht und Schatten miteinander tauschen, aber in anderen Sphären schwingen, die sich auf ihren kreisenden Bahnen begegnen, aber nie vereinen. Hier ist nun jene seltene Sekunde des Sternenhimmels, wo der Schatten des einen Gestirns die leuchtende Scheibe des anderen so ausfüllt, daß sie sich identifizieren: Dickens ist der einzige große Dichter des Jahrhunderts, dessen innerste Absicht sich ganz mit dem geistigen Bedürfnis seiner Zeit deckt. Sein Roman ist absolut identisch mit dem Geschmack des damaligen England, sein Werk ist die Materialisierung der englischen Tradition: Dickens ist der Humor, die Beobachtung, die Moral, die Ästhetik, der geistige und künstlerische Gehalt, das eigenartige und uns oft fremde, oft sehnsüchtig-sympathische Lebensgefühl von sechzig Millionen Menschen jenseits des Ärmelkanals. Nicht er hat dieses Werk gedichtet, sondern die englische Tradition, die stärkste, reichste, eigentümlichste und darum auch gefährlichste der modernen Kulturen. Man darf ihre vitale Kraft nicht unterschätzen. Jeder Engländer ist mehr Engländer als der Deutsche Deutscher. Das Englische liegt nicht wie ein Firnis, wie eine Farbe über dem geistigen Organismus des Menschen, es dringt ins Blut, wirkt regelnd ein auf seinen Rhythmus, durchpulst das Innerste und Geheimste, das Ureigenste im Individuum: das Künstlerische. Auch als Künstler ist der Engländer mehr rassepflichtig als der Deutsche oder Franzose. Jeder Künstler in England, jeder wahrhafte Dichter hat darum mit dem Englischen in sich gerungen; aber selbst inbrünstigster, verzweifeltster Haß haben es nicht vermocht, die Tradition niederzuzwingen. Sie reicht mit ihren feinen Adern zu tief hinab ins Erdreich der Seele: und wer das Englische ausreißen will, zerreißt den ganzen Organismus, verblutet an der Wunde. Ein paar Aristokraten haben es, voll Sehnsucht nach freiem Weltbürgertum, gewagt: Byron, Shelley, Oskar Wilde haben den Engländer in sich vernichten wollen, weil sie das Ewig-Bürgerliche im Engländer haßten. Aber sie zerfetzten nur ihr eigenes Leben. Die englische Tradition ist die stärkste, die siegreichste der Welt, aber auch die gefährlichste für die Kunst. Die gefährlichste, weil sie heimtückisch ist: keine frostige Öde ist sie, nicht unwirtlich oder ungastlich, sie lockt mit warmem Herdfeuer und sanfter Bequemlichkeit, aber sie zäunt ein mit moralischen Grenzen, sie beengt und regelt und verträgt sich übel mit dem freien künstlerischen Trieb. Sie ist eine bescheidene Wohnung mit stockender Luft, geschützt vor den gefährlichen Stürmen des Lebens, heiter, freundlich und gastlich, ein echtes »home« mit allem Kaminfeuer bürgerlicher Zufriedenheit, aber doch ein Gefängnis für den, dessen Heimat die Welt, dessen tiefste Lust das nomadenhaft selige, abenteuerliche Schweifen im Unbegrenzten ist. Dickens hat sich behaglich in der englischen Tradition gemacht, hat sich häuslich eingerichtet in ihren vier Mauern. Er fühlte sich wohl in der heimatlichen Sphäre und hat nie, sein Leben lang, die künstlerische, moralische oder ästhetische Grenze Englands überschritten. Er war kein Revolutionär. Der Künstler in ihm vertrug sich mit dem Engländer, löste sich allmählich ganz in ihm auf. Sein Werk ist der unbewußte, Kunst gewordene Wille seiner Nation: und wenn wir die Intensität, die seltenen Vorzüge und die versäumten Möglichkeiten seiner Dichtung umgrenzen, rechten wir gleichzeitig immer mit England.


Dickens ist der höchste dichterische Ausdruck der englischen Tradition zwischen dem heroischen Jahrhundert Napoleons, der ruhmreichen Vergangenheit, und dem Imperialismus, dem Traum seiner Zukunft. Wenn er für uns nur ein Außerordentliches geleistet hat und nicht das Gewaltige, zu dem ihn sein Genie prädestinierte, so ist es nicht England, nicht die Rasse selbst, die ihn gehemmt hat, sondern der unverschuldete Augenblick: das viktorianische Zeitalter Englands. Auch Shakespeare war ja höchste Möglichkeit, poetische Erfüllung einer englischen Epoche: aber der elisabethanischen, des starken tatenfrohen, jünglinghaften, frischsinnlichen England, das zum erstenmal die Fänge nach dem Imperium mundi reckte, das heiß und vibrierend war von überschäumender Kraft. Shakespeare war der Sohn eines Jahrhunderts der Tat, des Willens, der Energie. Neue Horizonte waren aufgetaucht, in Amerika abenteuerliche Reiche gewonnen, der Erbfeind zerschmettert, von Italien her flackte das Feuer der Renaissance herüber in den nordischen Nebel, ein Gott, eine Religion waren abgetan, die Welt wieder anzufüllen mit neuen lebendigen Werten. Shakespeare war die Inkarnation des heroischen England, Dickens nur das Symbol des bourgeoisen. Er war loyaler Untertan der anderen Königin, der sanften, hausmütterlichen, unbedeutenden, old queen Victoria, Bürger eines prüden, behaglichen, geordneten Staatswesens ohne Elan und Leidenschaft. Sein Auftrieb war gehemmt durch die Schwere des Zeitalters, das nicht hungrig war, das nur verdauen wollte: schlaffer Wind nur spielte mit den Segeln seines Schiffes, trieb es nie fort von der englischen Küste zur gefährlichen Schönheit des Unbekannten, hinein in die pfadlose Unendlichkeit. Vorsichtig ist er immer in der Nähe des Heimischen, Gewohnten und Althergebrachten geblieben: wie Shakespeare der Mut des gierigen, ist Dickens die Vorsicht des satten England. 1812 ist er geboren. Gerade wie seine Augen um sich greifen können, wird es dunkel in der Welt, die große Flamme verlischt, die das morsche Gebälk der europäischen Staaten zu vernichten drohte. Bei Waterloo zerschellt die Garde an der englischen Infanterie, England ist gerettet und sieht seinen Erbfeind auf ferner Insel einsam ohne Krone und Macht zugrunde gehen. Das hat Dickens nicht mehr miterlebt; er sieht nicht mehr die Flamme der Welt, den feurigen Schein von einem Ende Europas sich gegen das andere wälzen; sein Blick tappt in den Nebel Englands hinein. Der Jüngling findet keine Helden mehr, die Zeit der Heroen ist vorüber. Ein paar in England wollen es freilich nicht glauben, sie wollen mit Gewalt und Enthusiasmus die Speichen der rollenden Zeit zurückreißen, der Welt den alten sausenden Schwung geben, aber England will Ruhe und stößt sie von sich. Sie flüchten der Romantik nach in ihre heimlichen Winkel, suchen aus armen Funken das Feuer wieder zu entfachen, aber das Schicksal läßt sich nicht zwingen. Shelley ertrinkt im Tyrrhenischen Meer, Lord Byron verbrennt im Fieber zu Missolunghi: die Zeit will keine Aventüren mehr. Aschfarben ist die Welt. Behaglich verschmaust England die noch blutige Beute; der Bourgeois, der Kaufmann, der Makler ist König und räkelt sich auf dem Thron wie auf einem Faulbett. England verdaut. Eine Kunst, die damals gefallen konnte, mußte digestiv sein, sie durfte nicht stören, nicht mit wilden Emotionen rütteln, nur streicheln und krauen, sie durfte nur sentimental sein und nicht tragisch. Man wollte nicht den Schauer, der die Brust wie ein Blitz spaltet, den Atem zerschneidet, das Blut einfrieren läßt – zu gut kannte man das vom wirklichen Leben, als die Gazetten aus Frankreich und Rußland kamen –, nur das Gruseln wollte man, das Schnurren und Spielen, das unablässig den farbigen Knäuel der Geschichten hin und her rollt. Kaminkunst wollten die Leute von damals, Bücher, die sich behaglich, während der Sturm an den Pfosten rüttelt, am Kamin lesen und die selbst so züngeln und knacken mit vielen kleinen ungefährlichen Flammen, eine Kunst, die das Herz wärmt wie Tee, nicht eine, die es freudig und lodernd berauschen will. So ängstlich sind die Sieger von vorgestern geworden – sie, die nur behalten möchten und bewahren, nichts mehr wagen und wandeln –, daß sie Angst haben vor ihrem eigenen starken Gefühl. In den Büchern wie im Leben wünschen sie nur wohltemperierte Leidenschaften, keine Ekstasen, die aufstürmen, immer nur normale Gefühle, die sittsam promenieren. Glück wird in England damals identisch mit Beschaulichkeit, Ästhetik mit Sittsamkeit, und Sinnlichkeit wiederum mit Prüderie, Nationalgefühl mit Loyalität, Liebe mit Ehe. Alle Lebenswerte werden blutarm. England ist zufrieden und will keinen Wandel. Eine Kunst, die eine so satte Nation anerkennen kann, muß darum selbst irgendwie zufrieden sein, das Bestehende loben und nicht darüber hinaus wollen. Und dieser Wille nach einer behaglichen, freundlichen, einer digestiven Kunst findet sein Genie, wie einst das elisabethanische England seinen Shakespeare. Dickens ist das Schöpfung gewordene künstlerische Bedürfnis des damaligen England. Daß er im richtigen Augenblicke kam, schuf seinen Ruhm; daß er von diesem Bedürfnis überwältigt wurde, ist seine Tragik. Seine Kunst ist genährt von der hypokritischen Moral von der Behaglichkeit des satten England: und stände nicht eine so außerordentliche dichterische Kraft hinter seinem Werke, täuschte nicht sein glitzernder, goldfunkelnder Humor hinweg über die innere Farblosigkeit der Gefühle, so hätte er nur Wert in jener englischen Welt, wäre uns indifferent wie die Tausende von Romanen, die jenseits des Ärmelkanals von fingerfertigen Leuten produziert werden. Erst wenn man aus tiefster Seele die hypokritische Borniertheit der viktorianischen Kultur haßt, kann man das Genie eines Menschen mit voller Bewunderung ermessen, der uns diese widerliche Welt der satten Behäbigkeit als interessant und fast liebenswert zu empfinden zwang, der die banalste Prosa des Lebens zu Poesie erlöste.


Dickens hat selbst nie gegen dieses England angekämpft. Aber in der Tiefe – unten im Unbewußten – war das Ringen des Künstlers in ihm mit dem Engländer. Er ist ursprünglich stark und sicher ausgeschritten, nach und nach aber in dem weichen, halb zähen, halb nachgiebigen Sand seiner Zeit müde geworden und immer öfter und öfter schließlich in die alten, breitgestapften Fußspuren der Tradition getreten. Dickens ist überwältigt worden von seiner Zeit, und ich muß bei seinem Schicksal immer an das Abenteuer Gullivers bei den Liliputanern denken. Während der Riese schläft, spannen ihn die Zwerge mit tausenden kleinen Fäden an den Erdboden an, halten den Erwachenden so fest und lassen ihn nicht früher frei, ehe er nicht kapituliert und geschworen hat, die Gesetze des Landes nie zu verletzen. So hat die englische Tradition Dickens im Schlaf seiner Unberühmtheit eingesponnen und festgehalten: sie preßte ihn mit den Erfolgen an die englische Scholle, sie rissen ihn hinein in den Ruhm und banden ihm damit die Hände. Er war nach einer langen trüben Kindheit Stenograph im Parlament geworden und hatte einmal versucht, kleine Skizzen zu schreiben, mehr eigentlich um sein Einkommen zu vermehren als aus impulsivem dichterischem Bedürfnis. Der erste Versuch gelang, die Zeitung verpflichtete ihn. Dann bat ihn ein Verleger um satirische Glossen zu einem Klub, die gewissermaßen den Text zu Karikaturen aus der englischen Gentry bilden sollten. Dickens nahm an. Und es gelang, gelang über alle Erwartung. Die ersten Hefte des »Pickwick-Klub« waren ein Erfolg ohne Beispiel; nach zwei Monaten war Boz ein nationaler Autor. Der Ruhm schob ihn weiter, aus Pickwick wurde ein Roman. Es gelang wieder. Immer dichter spannen sich die kleinen Netze, die geheimen Fesseln des nationalen Ruhmes. Von einem Werke drängte ihn der Beifall zum andern, drängte ihn immer mehr in die Windrichtung des zeitgenössischen Geschmackes hinein. Und diese hunderttausend Netze, aus Beifall, baren Erfolgen und stolzem Bewußtsein künstlerischen Wollens auf das verwirrendste gewoben, hielten ihn nun fest an der englischen Erde, bis er kapitulierte, innerlich gelobte, die ästhetischen und moralischen Gesetze seiner Heimat nie zu übertreten. Er blieb in der Gewalt der englischen Tradition, des bürgerlichen Geschmackes, ein moderner Gulliver unter den Liliputanern. Seine wundervolle Phantasie, die wie ein Adler hätte hinschweben können über dieser engen Welt, verhakte sich in den Fußfesseln der Erfolge. Eine tiefinnerliche Zufriedenheit belastet seinen künstlerischen Auftrieb. Dickens war zufrieden. Zufrieden mit der Welt, mit England, mit seinen Zeitgenossen und sie mit ihm. Beide wollten sie sich nicht anders, als sie waren. In ihm war nicht die zornige Liebe, die züchtigen will, aufrütteln, anstacheln und erheben, der Urwille des großen Künstlers, mit Gott zu rechten, seine Welt zu verwerfen und sie neu, nach seinem eigenen Dünken zu erschaffen. Dickens war fromm, fürchtig; er hatte für alles Bestehende eine wohlwollende Bewunderung, ein ewig kindliches, spielfrohes Entzücken. Er war zufrieden. Er wollte nicht viel. Er war einmal ein ganz armer, vom Schicksal vergessener, von der Welt verschüchterter Knabe gewesen, dem erbärmliche Berufe die Jugend verzettelt hatten. Damals hatte er bunte farbige Sehnsucht gehabt, aber alle hatten ihn zurückgestoßen in eine lange und hartnäckig getragene Verschüchterung. Das brannte in ihm. Seine Kindheit war das eigentlich dichterisch-tragische Erlebnis – hier war der Same seines schöpferischen Wollens eingesenkt in das fruchtbare Erdreich von schweigsamem Schmerz; und seine tiefste seelische Absicht war, als ihm dann die Macht und Möglichkeit der Wirkung ins Weite wurde, diese Kindheit zu rächen. Er wollte mit seinen Romanen allen armen, verlassenen, vergessenen Kindern helfen, die so wie er einst Ungerechtigkeit erlitten durch schlechte Lehrer, vernachlässigte Schulen, gleichgültige Eltern, durch die lässige, lieblose, selbstsüchtige Art der meisten Menschen. Er wollte ihnen die paar farbigen Blüten Kinderfreude retten, die in seiner eigenen Brust verwelkt waren ohne den Tau der Güte. Später hatte ihm das Leben dann alles gewährt, und er wußte es nicht mehr anzuklagen: aber die Kindheit rief in ihm um Rache. Und die einzige moralische Absicht, der innere Lebenswille seines Dichtens war, diesen Schwachen zu helfen: hier wollte er die zeitgenössische Lebensordnung verbessern. Er verwarf sie nicht, er bäumte sich nicht auf gegen die Normen des Staates, er droht nicht, reckt nicht die zornige Faust gegen das ganze Geschlecht, gegen die Gesetzgeber, die Bürger, gegen die Verlogenheit aller Konventionen, sondern deutet nur hier und dort mit vorsichtigem Finger auf eine offene Wunde. England ist das einzige Land Europas, das damals, um 1848, nicht revolutionierte; und so wollte auch er nicht umstürzen und neu schaffen, nur korrigieren und verbessern, wollte nur die Phänomene des sozialen Unrechts dort, wo ihr Dorn zu spitz und schmerzhaft ins Fleisch drang, abschleifen und mildern, doch nie die Wurzel, die innerste Ursache, aufgraben und zerstören. Als echter Engländer wagt er sich nicht an die Fundamente der Moral, sie sind dem Konservativen sakrosankt wie das Gospel, das Evangelium. Und diese Zufriedenheit, dieser Absud vom flauen Temperament seiner Epoche, ist so charakteristisch für Dickens. Er wollte nicht viel vom Leben: und so seine Helden. Ein Held bei Balzac ist gierig und herrschsüchtig, er verbrennt vor ehrgeiziger Sehnsucht nach Macht. Nichts ist ihm genug, unersättlich sind sie alle, jeder ein Welteroberer, ein Umstürzler, ein Anarchist und ein Tyrann zugleich. Sie haben ein napoleonisches Temperament. Auch die Helden Dostojewskis sind feurig und ekstatisch, ihr Wille verwirft die Welt und greift in herrlichster Ungenügsamkeit über das wirkliche Leben nach dem wahren Leben; sie wollen nicht Bürger und Menschen sein, sondern in jedem von ihnen funkelt durch alle Demut der gefährliche Stolz, ein Heiland zu werden. Ein Held Balzacs will die Welt unterjochen, ein Held Dostojewskis sie überwinden. Beide haben sie eine Anspannung über das Alltägliche hinaus, eine Pfeilrichtung gegen das Unendliche. Die Menschen bei Dickens sind alle bescheiden. Mein Gott, was wollen sie? Hundert Pfund im Jahr, eine nette Frau, ein Dutzend Kinder, einen freundlich gedeckten Tisch für die guten Freunde, ihr Cottagehaus bei London mit einem Blick von Grün vor dem Fenster, mit einem kleinen Gärtchen und einer Handvoll Glück. Ihr Ideal ist ein spießerisches, ein kleinbürgerliches: damit muß man sich bei Dickens zurechtfinden. Hinter dem Werke steht als der Schöpfer nicht ein zorniger Gott, gigantisch und übermenschlich, sondern ein zufriedener Betrachter, ein loyaler Bürger. Das Bürgerliche ist die Atmosphäre aller Romane von Dickens.


Seine große und unvergeßliche Tat war darum eigentlich nur: die Romantik der Bourgeoisie zu entdecken, die Poesie des Prosaischen. Er hat als erster den Alltag ins Dichterische umgebogen. Er hat Sonne durch dieses stumpfe Grau leuchten lassen; und wer in England einmal gesehen hat, wie strahlend der Goldglanz ist, den dort die erstarkende Sonne aus dem trüben Knäuel des Nebels spinnt, der weiß, wie sehr ein Dichter seine Nation beseligen mußte, der ihr künstlerisch diese Sekunde der Erlösung aus dem bleiernen Hindämmern gegeben hat. Dickens ist dieser goldene Reif um den englischen Alltag, der Heiligenschein der schlichten Dinge und simplen Menschen, die Idylle Englands. Er hat seine Helden, seine Schicksale in den engen Straßen der Vorstädte gesucht, an denen die anderen Dichter achtlos vorbeigingen. Die suchten ihre Helden unter den Kronleuchtern der aristokratischen Salons, auf den Wegen in den Zauberwald der fairy tales, sie forschten nach dem Entlegenen, Ungewöhnlichen und Außerordentlichen. Ihnen war der Bürger die Substanz gewordene irdische Schwerkraft, und sie wollten nur feurige, kostbare, in Ekstasen aufstrebende Seelen, den lyrischen, den heroischen Menschen. Dickens schämte sich nicht, den ganz einfachen Tagwerker zum Helden zu machen. Er war ein Selfmademan; er kam von unten und bewahrte diesem Milieu eine rührende Pietät. Er hatte einen sehr merkwürdigen Enthusiasmus für das Banale, eine Begeisterung für ganz wertlose altväterische Dinge, für den Kleinkram des Lebens. Seine Bücher sind selbst so ein curiosity shop voll mit Gerümpel, das jeder für wertlos gehalten hätte, ein Durcheinander von Seltsamkeiten und schnurrigen Nichtigkeiten, die jahrzehntelang vergeblich auf den Liebhaber gewartet hatten. Aber er nahm diese alten wertlosen, verstaubten Dinge, putzte sie blank, fügte sie zusammen und stellte sie in die Sonne seiner Heiterkeit. Und da fingen sie plötzlich an zu funkeln mit einem unerhörten Glanz. So nahm er die vielen kleinen verachteten Gefühle aus der Brust einfacher Menschen, horchte sie ab, fügte ihr Räderwerk zusammen, bis sie wieder lebendig tickten. Plötzlich begannen sie da wie kleine Spieluhren zu surren, zu schnurren und dann zu singen, eine leise altväterische Melodie, die lieblicher war als die schwermütigen Balladen der Ritter aus Legendenland und die Kanzonen der Lady vom See. Die ganze bürgerliche Welt hat Dickens so aus dem Aschenhaufen der Vergessenheit aufgestöbert und wieder blank zusammengefügt: in seinem Werk erst wurde sie wieder eine lebendige Welt. Ihre Torheiten und Beschränktheiten hat er durch Nachsicht begreiflich, ihre Schönheiten durch Liebe sinnfällig gemacht, ihren Aberglauben verwandelt in eine neue und sehr dichterische Mythologie. Das Zirpen des Heimchens am Herd ist Musik geworden in seiner Novelle, die Silvesterglocken sprechen mit menschlichen Zungen, der Zauber der Weihnacht versöhnt Dichtung dem religiösen Gefühl. Aus den kleinsten Festen hat er einen tieferen Sinn geholt; er hat allen diesen schlichten Leuten die Poesie ihres täglichen Lebens entdecken geholfen, ihnen noch lieber gemacht, was ihnen schon das Liebste war, ihr »home«, das enge Zimmer, wo der Kamin mit roten Flammen prasselt und das dürre Holz zerknackt, wo der Tee am Tische surrt und singt, wo die wunschlosen Existenzen sich absperren von den gierigen Stürmen, den wilden Verwegenheiten der Welt. Die Poesie des Alltäglichen wollte er alle die lehren, die in den Alltag gebannt waren. Tausenden und Millionen hat er gezeigt, wo das Ewige in ihr armes Leben hinabreichte, wo der Funke der stillen Freude verschüttet unter der Asche des Alltags lag, er hat sie gelehrt, ihn aufflammen zu lassen zu heiter behaglicher Glut. Helfen wollte er den Armen und den Kindern. Was über diesen Mittelstand des Lebens materiell oder geistig hinausging, war ihm antipathisch; er liebte nur das Gewöhnliche, das Durchschnittliche von ganzem Herzen. Den Reichen und den Aristokraten, den Begünstigten des Lebens war er gram. Die sind fast immer Schurken und Knauser in seinen Büchern, selten Porträts, fast immer Karikaturen. Er mochte sie nicht. Zu oft hatte er als Kind dem Vater ins Schuldgefängnis, in die Marshalea, Briefe gebracht, die Pfändungen gesehen, zu sehr die liebe Not des Geldes gekannt; jahraus, jahrein war er in Hungerford Stairs ganz oben in einem kleinen, schmutzigen, sonnenlosen Zimmer gesessen, hatte Schuhwichse in Tiegel eingestrichen und mit Fäden hunderte und hunderte täglich umwickelt, bis ihm die kleinen Kinderhände brannten und die Tränen der Zurücksetzung aus den Augen schössen. Zu sehr hatte er Hunger und Entbehrung gekannt an den kalten Nebelmorgen der Londoner Straßen. Keiner hatte ihm damals geholfen, die Karossen waren vorübergefahren an dem frierenden Knaben, die Reiter vorbeigetrabt, die Tore hatten sich nicht aufgetan. Nur von den kleinen Leuten hatte er Gutes erfahren: nur ihnen wollte er darum die Gabe erwidern. Seine Dichtung ist eminent demokratisch – nicht sozialistisch, dazu fehlt ihm der Sinn für das Radikale –, Liebe und Mitleid allein geben ihr pathetisches Feuer. In der bürgerlichen Welt – in der mittleren Sphäre zwischen Armenhaus und Rente – ist er am liebsten geblieben; nur bei diesen schlichten Menschen hat er sich wohlgefühlt. Er malt ihre Stuben mit Behaglichkeit und Breite aus, als wollte er selbst darin wohnen, webt ihnen bunte und immer mit sonnigem Feuer überflogene Schicksale, träumt ihre bescheidenen Träume; er ist ihr Anwalt, ihr Prediger, ihr Liebling, die helle, ewig warme Sonne ihrer schlichten, grautönigen Welt.


Aber wie reich ist sie durch ihn geworden, diese bescheidene Wirklichkeit der kleinen Existenzen! Das ganze bürgerliche Beisammensein mit seinem Hausrat, dem Kunterbunt der Berufe, dem unübersehbaren Gemisch der Gefühle ist noch einmal Kosmos geworden, ein All mit Sternen und Göttern in seinen Büchern. Aus dem flachen, stagnierenden, kaum wellenden Spiegel der kleinen Existenzen hat hier ein scharfer Blick Schätze erspäht und sie mit dem feinmaschigsten Netz ans Licht gehoben. Aus dem Gewühl hat er Menschen gefangen, oh, wie viele Menschen, Hunderte von Gestalten, genug, eine kleine Stadt zu bevölkern. Unvergeßliche sind unter ihnen, Gestalten, die ewig sind in der Literatur und schon mit ihrer Existenz hinausreichen in den wirklichen Sprachbegriff des Volkes, Pickwick und Sam Weller, Pecksniff und Betsey Trotwood, sie alle, deren Namen in uns lächelnde Erinnerung zauberisch entfachen. Wie reich sind diese Romane! Die Episoden des David Copperfield genügten für sich allein, das dichterische Lebenswerk eines anderen mit Tatsächlichkeiten zu versorgen; Dickens’ Bücher sind eben wirkliche Romane im Sinn der Fülle und unablässigen Bewegtheit, nicht wie unsere deutschen fast alle nur ins Breite gezerrte psychologische Novellen. Es gibt wenig tote Punkte in ihnen, wenig leere sandige Strecken, sie haben Ebbe und Flut von Geschehnissen, und wirklich, wie ein Meer sind sie unergründlich und unübersehbar. Kaum kann man das heitere und wilde Durcheinander der wimmelnden Menschen überschauen; sie drängen herauf an die Bühne des Herzens, stoßen einer wieder den andern hinab, wirbeln vorbei. Keine der Gestalten, die nur spaziergängerisch vorbeizustreifen scheinen, geht verloren; alle ergänzen, befördern, befeinden einander, häufen Licht oder Schatten. Krause, heitere, ernste Verwicklungen treiben in katzenhaftem Spiel den Knäuel der Handlung hin und her, alle Möglichkeiten des Gefühls klingen in rascher Skala auf und nieder, alles ist gemengt: Jubel, Schauer und Übermut; bald funkelt die Träne der Rührung, bald die der losen Heiterkeit. Gewölk zieht auf, zerreißt, türmt sich aufs neue, aber am Schlusse strahlt die vom Gewitter reine Luft in wundervoller Sonne. Manche dieser Romane sind eine Ilias von tausend Einzelkämpfen, die Ilias einer entgötterten irdischen Welt, manche nur eine friedfertige bescheidene Idylle; aber alle Romane, die vortrefflichen wie die unlesbaren, haben dies Merkmal einer verschwenderischen Vielfalt. Und alle haben sie, selbst die wildesten und melancholischsten, in den Felsen der tragischen Landschaft kleine Lieblichkeiten wie Blumen eingesprengt. Überall blühen diese unvergeßlichen Anmutigkeiten: wie kleine Veilchen, bescheiden und versteckt, warten sie im weitgesteckten Wiesenplan seiner Bücher, überall sprudelt die klare Quelle sorgloser Heiterkeit klingend von dem dunkeln Gestein der schroffen Geschehnisse nieder. Es gibt Kapitel bei Dickens, die man nur Landschaften in ihrer Wirkung vergleichen kann, so rein sind sie, so göttlich unberührt von irdischen Trieben, so sonnig blühend in ihrer heiteren milden Menschlichkeit. Um ihretwillen schon müßte man Dickens lieben, denn so verschwenderisch sind diese kleinen Künste verstreut in seinem Werk, daß ihre Fülle zur Größe wird. Wer könnte allein seine Menschen aufzählen, alle diese krausen, jovialen, gutmütigen, leicht lächerlichen und immer so amüsanten Menschen? Sie sind aufgefangen mit all ihren Schrullen und individuellen Eigentümlichkeiten, eingekapselt in die seltsamsten Berufe, verwickelt in die ergötzlichsten Abenteuer. Und so viele sie auch sind, keiner ist dem andern ähnlich, sie sind minuziös bis ins kleinste Detail persönlich herausgearbeitet, nichts ist Guß und Schema an ihnen, alles Sinnlichkeit und Lebendigkeit, sie alle sind nicht ersonnen, sondern gesehen. Gesehen von dem ganz unvergleichlichen Blick dieses Dichters.


Dieser Blick ist von einer Präzision sondergleichen, ein wunderbares, unbeirrbares Instrument. Dickens war ein visuelles Genie. Man mag jedes Bildnis von ihm, das der Jugend und das (bessere) der Mannesjahre betrachten: es ist beherrscht von diesem merkwürdigen Auge. Es ist nicht das Auge des Dichters, in schönem Wahnsinn rollend oder elegisch umdämmert, nicht weich und nachgiebig oder feurig-visionär. Es ist ein englisches Auge: kalt, grau, scharfblinkend wie Stahl. Und stählern war es auch wie ein Tresor, in dem alles unverbrennbar, unverlierbar, gewissermaßen luftdicht abgeschlossen ruhte, was ihm irgendeinmal, gestern oder vor vielen Jahren von der Außenwelt eingezahlt worden war: das Erhabenste wie das Gleichgültigste, irgendein farbiges Schild über einem Kramladen in London, das der Fünfjährige vor undenklicher Zeit gesehen, oder ein Baum mit seinen aufspringenden Blüten gerade drüben vor dem Fenster. Nichts ging diesem Auge verloren, es war stärker als die Zeit; sparsam reihte es Eindruck an Eindruck im Speicher des Gedächtnisses, bis der Dichter ihn zurückforderte. Nichts rann in Vergessenheit, wurde blaß oder fahl, alles lag und wartete, blieb voll Duft und Saft, farbig und klar, nichts starb ab oder welkte. Unvergleichlich ist bei Dickens das Gedächtnis des Auges. Mit seiner stählernen Schneide zerteilt er den Nebel der Kindheit; in »David Copperfield«, dieser verkappten Autobiographie, sind Erinnerungen des zweijährigen Kindes an die Mutter und das Dienstmädchen mit Messerschärfe wie Silhouetten vom Hintergrund des Unbewußten losgeschnitten. Es gibt keine vagen Konturen bei Dickens; er gibt nicht vieldeutige Möglichkeiten der Vision, sondern zwingt zur Deutlichkeit. Seine darstellende Kraft läßt der Phantasie des Lesers keinen freien Willen, er vergewaltigt sie (weshalb er auch der ideale Dichter einer phantasielosen Nation wurde). Stellt zwanzig Zeichner vor seine Bücher und verlangt die Bilder Copperfields und Pickwicks: die Blätter werden sich ähnlich sehen, werden in unerklärlicher Ähnlichkeit den feisten Herrn mit der weißen Weste und den freundlichen Augen hinter den Brillengläsern oder den hübschen blonden, ängstlichen Knaben auf der Postkutsche nach Yarmouth darstellen. Dickens schildert so scharf, so minuziös, daß man seinem hypnotisierenden Blicke folgen muß; er hatte nicht den magischen Blick Balzacs, der die Menschen der feurigen Wolke ihrer Leidenschaften sich erst chaotisch formend entringen läßt, sondern einen ganz irdischen Blick, einen Seemanns-, einen Jägerblick, einen Falkenblick für die kleinen Menschlichkeiten. Aber Kleinigkeiten, sagte er einmal, sind es, die den Sinn des Lebens ausmachen. Sein Blick hascht nach kleinen Merkzeichen, er sieht den Flecken am Kleid, die kleinen hilflosen Gesten der Verlegenheit, er faßt die Strähne roten Haares, die unter einer dunkeln Perücke hervorlugt, wenn ihr Eigner in Zorn gerät. Er spürt die Nuancen, tastet die Bewegung jedes einzelnen Fingers bei einem Händedruck ab, die Abschattung in einem Lächeln. Er war Jahre vor seiner literarischen Zeit Stenograph im Parlament gewesen und hatte sich dort geübt, das Ausführliche ins Summarische zu drängen, mit einem Strich ein Wort, mit kurzem Schnörkel einen Satz darzustellen. Und so hat er später dichterisch eine Art Kurzschrift des Wirklichen geübt, das kleine Zeichen hingestellt statt der Beschreibung, eine Essenz der Beobachtung aus den bunten Tatsächlichkeiten destilliert. Für diese kleinen Äußerlichkeiten hatte er eine unheimliche Scharfsichtigkeit, sein Blick übersah nichts, faßte wie ein guter Verschluß am photographischen Apparat das Hundertstel einer Sekunde in einer Bewegung, einer Geste. Nichts entging ihm. Und diese Scharfsichtigkeit wurde noch gesteigert durch eine ganz merkwürdige Brechung des Blicks, die den Gegenstand nicht wie ein Spiegel in seiner natürlichen Proportion wiedergab, sondern wie ein Hohlspiegel ins Charakteristische übertrieb. Dickens unterstreicht immer die Merkzeichen seiner Menschen, er dreht sie aus dem Objektiven hinüber ins Gesteigerte, ins Karikaturistische. Er macht sie intensiver, erhebt sie zum Symbol. Der wohlbeleibte Pickwick wird auch seelisch zur Rundlichkeit, der dünne Jingle zur Dürre, der Böse zum Satanas, der Gute die leibhaftige Vollendung. Dickens übertreibt wie jeder große Künstler, aber nicht ins Grandiose, sondern ins Humoristische. Die ganze, so unsäglich ergötzliche Wirkung seiner Darstellung entwuchs nicht so sehr seiner Laune, nicht seinem Übermut, sondern sie saß schon in dieser merkwürdigen Winkelstellung des Auges, das mit seiner Überschärfe alle Erscheinungen irgendwie ins Wunderliche und Karikaturistische übertrieben auf das Leben zurückspiegelte.


Tatsächlich: in dieser eigenartigen Optik – und nicht in seiner ein wenig zu bürgerlichen Seele – steckt Dickens’ Genie. Dickens war eigentlich nie Psychologe, einer, der magisch die Seele des Menschen erfaßt, aus ihrem hellen oder dunklen Samen in geheimnisvollem Wachstum sich die Dinge in ihren Farben und Formen entfalten ließ. Seine Psychologie beginnt beim Sichtbaren, er charakterisiert durch Äußerlichkeiten, allerdings durch jene letzten und feinsten, die eben nur einem dichterisch scharfen Auge sichtbar sind. Wie die englischen Philosophen, beginnt er nicht mit Voraussetzungen, sondern mit Merkmalen. Die unscheinbarsten, ganz materiellen Äußerungen des Seelischen fängt er ein und macht an ihnen durch seine merkwürdig karikaturistische Optik den ganzen Charakter augenfällig. Aus Merkmalen läßt er die Spezies erkennen. Dem Schullehrer Creakle gibt er eine leise Stimme, die mühsam das Wort gewinnt. Und schon ahnt man das Grauen der Kinder vor diesem Menschen, dem die Anstrengung des Sprechens die Zornader über die Stirne schwellen läßt. Sein Uriah Heep hat immer kalte, feuchte Hände: schon atmet die Gestalt Mißbehagen, schlangenhafte Widrigkeiten. Kleinigkeiten sind das, Äußerlichkeiten, aber immer solche, die auf das Seelische wirken. Manchmal ist es eigentlich nur eine lebendige Schrulle, die er darstellt; eine Schrulle, die mit einem Menschen umwickelt ist und ihn wie eine Puppe mechanisch bewegt. Manchmal wieder charakterisiert er den Menschen durch seinen Begleiter – was wäre Pickwick ohne Sam Weller, Dora ohne Jip, Barnaby ohne den Raben, Kit ohne das Pony! – und zeichnet die Eigentümlichkeit der Figur gar nicht an dem Modell selbst, sondern am grotesken Schatten. Seine Charaktere sind eigentlich immer nur eine Summe von Merkmalen, aber von so scharfgeschnittenen, daß sie restlos ineinander passen und ein Bild vortrefflich in Mosaik zusammensetzen. Und darum wirken sie meistens immer nur äußerlich, sinnfällig, sie erzeugen eine intensive Erinnerung des Auges, eine nur vage des Gefühls. Rufen wir in uns eine Figur Balzacs oder Dostojewskis beim Namen auf, den Père Goriot oder Raskolnikow, so antwortet ein Gefühl, die Erinnerung an eine Hingebung, eine Verzweiflung, ein Chaos der Leidenschaft. Sagen wir uns Pickwick, so taucht ein Bild auf, ein jovialer Herr mit reichlichem Embonpoint und goldenen Knöpfen auf der Weste. Hier spüren wir es: an die Figuren Dickens’ denkt man wie an gemalte Bilder, an die Dostojewskis und Balzacs wie an Musik. Denn diese schaffen intuitiv, Dickens nur reproduktiv, jene mit dem geistigen, Dickens mit dem körperlichen Auge. Er faßt die Seele nicht dort, wo sie geisterhaft, nur von dem siebenfach glühenden Licht der visionären Beschwörung bezwungen, aus der Nacht des Unbewußten steigt, er lauert dem unkörperlichen Fluidum auf, dort, wo es einen Niederschlag im Wirklichen hat, er hascht die tausend Wirkungen des Seelischen auf das Körperliche, aber dort übersieht er keine. Seine Phantasie ist eigentlich bloß Blick und reicht darum nur aus für jene Gefühle und Gestalten der mittleren Sphäre, die im Irdischen wohnen; seine Menschen sind nur plastisch in den gemäßigten Temperaturen der normalen Gefühle. In den Hitzegraden der Leidenschaft zerschmelzen sie wie Wachsbilder in Sentimentalität, oder sie erstarren im Haß und werden brüchig. Dickens gelingen nur geradlinige Naturen, nicht jene ungleich interessanteren, in denen die hundertfachen Übergänge vom Guten zum Bösen, vom Gott zum Tier fließend sind. Seine Menschen sind immer eindeutig, entweder vortrefflich als Helden oder niederträchtig als Schurken, sie sind prädestinierte Naturen mit einem Heiligenschein über der Stirne oder dem Brandmal. Zwischen good und wicked, zwischen dem Gefühlvollen und Gefühllosen pendelt seine Welt. Darüber hinaus, in die Welt der geheimnisvollen Zusammenhänge, der mystischen Verkettungen, weiß seine Methode keinen Pfad. Das Grandiose läßt sich nicht greifen, das Heroische nicht erlernen. Es ist der Ruhm und die Tragik Dickens’, immer in einer Mitte geblieben zu sein zwischen Genie und Tradition, dem Unerhörten und dem Banalen: in den geregelten Bahnen der irdischen Welt, im Lieblichen und im Ergreifenden, im Behaglichen und Bürgerlichen.


Aber dieser Ruhm genügte ihm nicht: der Idylliker sehnte sich nach Tragik. Immer wieder hat er zur Tragödie emporgestrebt, und immer kam er nur zum Melodram. Hier war seine Grenze. Diese Versuche sind unerfreulich: mögen in England die »Geschichte der beiden Städte«, »Bleak House« für hohe Schöpfungen gelten, für unser Gefühl sind sie verloren, weil ihre große Geste eine erzwungene ist. Die Anstrengung zum Tragischen ist in ihnen wirklich bewundernswert: in diesen Romanen türmt Dickens Konspirationen, wölbt große Katastrophen wie Felsblöcke über den Häuptern seiner Helden, er beschwört den Schauer der Regennächte, den Volksaufstand und die Revolutionen, entfesselt den ganzen Apparat des Grauens und Entsetzens. Aber doch, jener erhabene Schauer stellt sich nie ein, er wird nur ein Gruseln, der rein körperliche Reflex des Entsetzens, und nicht der Schauer der Seele. Jene tiefen Erschütterungen, jene gewitterhaften Wirkungen, die vor Angst das Herz sehnsüchtig stöhnen lassen nach der Entladung im Blitz, brechen nie mehr aus seinen Büchern. Dickens türmt Gefahr über Gefahren, aber man fürchtet sie nicht. Bei Dostojewski starren manchmal plötzlich Abgründe, man jappt nach Luft, wenn man dieses Dunkel, diesen namenlosen Abgrund in der eigenen Brust aufgerissen fühlt; man fühlt den Boden unter den Füßen schwinden, spürt einen jähen Schwindel, einen feurigen, aber süßen Schwindel, möchte gern nieder, niederstürzen, und schauert doch zugleich vor diesem Gefühl, wo Lust und Schmerz zu so ungeheuren Hitzegraden weißgeglüht sind, daß man sie voneinander nicht scheiden kann. Auch bei Dickens sind solche Abgründe. Er reißt sie auf, füllt sie mit Schwärze, zeigt ihre ganze Gefahr; aber doch, man schauert nicht, man hat nicht jenen süßen Schwindel des geistigen Niederstürzens, der vielleicht der höchste Reiz künstlerischen Genießens ist. Man fühlt sich bei ihm immer irgendwie sicher, als hielte man ein Geländer, denn man weiß, er läßt einen nicht niederstürzen; man weiß, der Held wird nicht untergehen; die beiden Engel, die mit weißen Flügeln durch die Welt dieses englischen Dichters schweben, Mitleid oder Gerechtigkeit, werden ihn schon unbeschädigt über alle Schründe und Abgründe tragen. Dickens fehlt die Brutalität, der Mut zur wirklichen Tragik. Er ist nicht heroisch, sondern sentimental. Tragik ist Wille zum Trotz, Sentimentalität Sehnsucht nach der Träne. Zu der tränenlosen, wortlosen, letzten Gewalt des verzweifelten Schmerzes ist Dickens nie gelangt: sanfte Rührung – etwa der Tod Doras im »Copperfield« – ist das äußerste ernste Gefühl, das er vollendet darzustellen vermag. Holt er zum wirklich wuchtigen Schwung aus, so fällt ihm immer das Mitleid in den Arm. Immer glättet das (oft ranzige) Öl des Mitleids den heraufbeschworenen Sturm der Elemente; die sentimentale Tradition des englischen Romans überwindet den Willen zum Gewaltigen. Das Finale muß eine Apokalypse sein, ein Weltgericht, die Guten steigen nach oben, die Bösen werden bestraft. Dickens hat leider diese Gerechtigkeit in die meisten Romane übernommen, seine Schurken ertrinken, ermorden sich gegenseitig, die Hochmütigen und Reichen machen Bankrott, und die Helden sitzen warm in der Wolle. Diese echt englische Hypertrophie des moralischen Sinnes hat Dickens’ grandioseste Inspirationen zum tragischen Roman irgendwie ernüchtert. Denn die Weltanschauung dieser Werke, der eingebaute Kreisel, der ihre Stabilität aufrechterhält, ist nicht die Gerechtigkeit des freien Künstlers mehr, sondern die eines anglikanischen Bürgers. Dickens zensuriert die Gefühle, statt sie frei wirken zu lassen: er gestattet nicht wie Balzac ihr elementares Überschäumen, sondern lenkt sie durch Dämme und Gruben in Kanäle, wo sie die Mühlen der bürgerlichen Moral drehen. Der Prediger, der Reverend, der common-sense-Philosoph, der Schulmeister, alle sitzen sie unsichtbar mit ihm in der Werkstatt des Künstlers und mengen sich ein: sie verleiten ihn, den ernsten Roman statt ein demütiges Nachbild der freien Wirklichkeiten lieber ein Vorbild und eine Warnung für junge Leute sein zu lassen. Freilich, belohnt ward die gute Gesinnung: als Dickens starb, wußte der Bischof von Winchester an seinem Werk zu rühmen, man könne es beruhigt jedem Kinde in die Hände geben; aber gerade dies, daß es das Leben nicht in seinen Wirklichkeiten zeigt, sondern so, wie man es Kindern darstellen will, schmälert seine überzeugende Kraft. Für uns Nichtengländer strotzt und protzt es zu sehr mit Sittlichkeit. Um Held bei Dickens zu werden, muß man ein Tugendausbund sein, ein puritanisches Ideal. Bei Fielding und Smollet, die ja doch auch Engländer waren, allerdings Kinder eines sinnefreudigeren Jahrhunderts, schadet es dem Helden absolut nicht, wenn er einmal bei einem Raufhandel seinem Gegenüber die Nase eintreibt oder wenn er trotz aller hitzigen Liebe zu seiner adeligen Dame einmal mit ihrer Zofe im Bette schläft. Bei Dickens erlauben sich nicht einmal die Wüstlinge solche Abscheulichkeiten. Selbst seine ausschweifenden Menschen sind eigentlich harmlos, ihre Vergnügungen noch immer so, daß sie eine ältliche spinster ohne Erröten verfolgen kann. Da ist Dick Swiveller, der Libertin. Wo steckt denn eigentlich seine Libertinage? Mein Gott, er trinkt vier Glas Ale statt zwei, zahlt seine Rechnungen höchst unregelmäßig, bummelt ein wenig, das ist alles. Und zum Schluß macht er im rechten Augenblick eine Erbschaft – eine bescheidene natürlich – und heiratet höchst anständig das Mädchen, das ihm auf die Bahn der Tugend half. Wahrhaft unmoralisch sind bei Dickens nicht einmal die Schurken, selbst sie haben trotz allen bösen Instinkten blasses Blut. Diese englische Lüge der Unsinnlichkeit sitzt als Brand in seinem Werke; die schieläugige Hypokrisie, die übersieht, was sie nicht sehen will, wendet Dickens den spürenden Blick von den Wirklichkeiten. Das England der Königin Viktoria hat Dickens verhindert, den vollendet tragischen Roman zu schreiben, der seine innerste Sehnsucht war. Und es hätte ihn ganz niedergezogen in seine eigene satte Mediokrität, hätte ihn ganz mit den klemmenden Armen der Beliebtheit zum Anwalt seiner sexuellen Verlogenheit gemacht, wäre dem Künstler nicht eine Welt frei gewesen, in die seine schöpferische Sehnsucht hätte flüchten können, hätte er nicht jene silberne Schwinge besessen, die ihn stolz über die dumpfen Bezirke solcher Zweckmäßigkeiten hob: seinen seligen und fast unirdischen Humor.


Diese eine selige, halkyonisch freie Welt, in die der Nebel Englands nicht niederhängt, ist das Land der Kindheit. Die englische Lüge verschneidet die Sinnlichkeit in den Menschen und zwingt den Erwachsenen in ihre Gewalt; die Kinder aber leben noch paradiesisch unbekümmert ihr Fühlen aus, sie sind noch nicht Engländer, sondern nur kleine helle Menschenblüten, in ihre bunte Welt schattet noch nicht der englische Nebelrauch der Hypokrisie. Und hier, wo Dickens frei, unbehindert von seinem englischen Bourgeoisgewissen schalten durfte, hat er Unsterbliches geleistet. Die Jahre der Kindheit in seinen Romanen sind einzig schön; nie werden, glaube ich, in der Weltliteratur diese Gestalten vergehen, diese heiteren und ernsten Episoden der Frühzeit. Wer wird je die Odyssee der kleinen Nell vergessen können, wie sie mit ihrem greisen Großvater aus dem Rauch und Düster der großen Städte hinauszieht ins erwachende Grün der Felder, harmlos und sanft, dies engelhafte Lächeln selig über alle Fährlichkeiten und Gefahren hinrettend bis ins Verscheiden. Das ist rührend in einem Sinne, der über alle Sentimentalität hinausreicht zum echtesten, lebendigsten Menschengefühl. Da ist Traddles, der fette Junge in seinen geblähten Pumphosen, der den Schmerz über die erhaltenen Prügel im Zeichnen von Skeletten vergißt, Kit, der Treueste der Treuen, der kleine Nickleby und dann dieser eine, der immer wiederkehrt, dieser hübsche, »sehr kleine und nicht eben zu freundlich behandelte Junge«, der niemand anderer ist als Charles Dickens, der Dichter, der seine eigene Kinderlust, sein eigenes Kinderleid wie kein zweiter unsterblich gemacht hat. Immer und immer wieder hat er von diesem gedemütigten, verlassenen, verschreckten, träumerischen Knaben erzählt, den die Eltern verwaisen ließen; und hier ist sein Pathos wirklich tränennah geworden, seine sonore Stimme voll und tönend wie Glockenklang. Unvergeßlich ist dieser Kinderreigen in Dickens’ Romanen. Hier durchdringt sich Lachen und Weinen, Erhabenes und Lächerliches zu einem einzigen Regenbogenglanz; das Sentimentale und das Sublime, das Tragische und das Komische, Wahrheit und Dichtung versöhnen sich in ein Neues und Nochniedagewesenes. Hier überwindet er das Englische, das Irdische, hier ist Dickens ohne Einschränkung groß und unvergleichlich. Wollte man ihm ein Denkmal setzen, so müßte marmorn dieser Kinderreigen seine eherne Gestalt umringen als den Beschützer, den Vater und Bruder. Denn sie hat er wahrhaft als die reinste Form menschlichen Wesens geliebt. Wollte er Menschen sympathisch machen, so ließ er sie kindlich sein. Um der Kinder willen hat er die sogar geliebt, die schon nicht mehr kindlich, sondern kindisch waren, die Schwachsinnigen und Geistesgestörten. In allen seinen Romanen ist einer dieser sanften Irren, deren arme verlorene Sinne weit oben wie weiße Vögel wandern über der Welt der Sorgen und Klagen, denen das Leben nicht ein Problem, eine Mühe und Aufgabe ist, sondern nur ein seliges, ganz unverständliches, aber schönes Spiel. Es ist rührend, zu sehen, wie er diese Menschen schildert. Er faßt sie sorgsam an wie Kranke, legt viel Güte um ihr Haupt wie einen Heiligenschein. Selige sind sie ihm, weil sie ewig im Paradies der Kindheit geblieben sind. Denn die Kindheit ist das Paradies in Dickens’ Werken. Wenn ich einen Roman von Dickens lese, habe ich immer eine wehmütige Angst, wenn die Kinder heranwachsen; denn ich weiß, nun geht das Süßeste, das Unwiederbringliche verloren, nun mischt sich bald das Poetische mit dem Konventionellen, die reine Wahrheit mit der englischen Lüge. Und er selbst scheint dieses Gefühl im Innersten zu teilen. Denn nur ungern gibt er seine Lieblingshelden an das Leben. Er begleitet sie nie bis ins Alter hinein, wo sie banal werden, Krämer und Kärrner des Lebens; er nimmt Abschied von ihnen, wenn er sie emporgeführt hat bis an die Kirchentür der Ehe, durch alle Fährnisse in den spiegelglatten Hafen der bequemen Existenz. Und das eine Kind, das ihm das liebste war in der bunten Reihe, die kleine Nell, in der er die Erinnerung an eine ihm sehr teure Frühverstorbene verewigt hatte, sie ließ er gar nicht in die rauhe Welt der Enttäuschungen, die Welt der Lüge. Sie behielt er für immer im Paradies der Kindheit, schloß ihr vorzeitig die blauen sanften Augen, ließ sie ahnungslos übergleiten von der Helle der Frühzeit in die Dunkelheit des Todes. Sie war ihm zu lieb für die wirkliche Welt.


Denn diese Welt ist bei Dickens, ich sagte es ja schon, eine bürgerlich bescheidene, ein sattes England, ein enger Ausschnitt der ungeheuren Möglichkeiten des Lebens. Eine solche arme Welt konnte nur reich werden durch ein großes Gefühl. Balzac hat den Bourgeois gewaltig gemacht durch seinen Haß, Dostojewski durch seine Heilandsliebe. Und auch Dickens, der Künstler, erlöst diese Menschen von ihrer lastenden Erdschwere: durch seinen Humor. Er betrachtet seine kleinbürgerliche Welt nicht mit objektiver Wichtigkeit, er stimmt nicht jenen Hymnus der braven Leute, der alleinseligmachenden Tüchtigkeit und Nüchternheit an, sondern er zwinkert seinen Leuten gutmütig und doch lustig zu, er macht sie wie Gottfried Keller und Wilhelm Raabe ein ganz klein wenig lächerlich in ihren liliputanischen Sorgen. Aber lächerlich in einem freundlichen, gutmütigen Sinne, so daß man sie für alle Schnurren und Skurrilitäten nur noch lieber hat. Wie ein Sonnenblick liegt der Humor über seinen Büchern, macht ihre bescheidene Landschaft plötzlich heiter und unendlich lieblich, voll von tausend entzückenden Wundern; an dieser guten wärmenden Flamme wird alles lebendiger und wahrscheinlicher, selbst die falschen Tränen flimmern wie Diamanten, die kleinen Leidenschaften flammen wie wirklicher Brand. Der Humor Dickens’ hebt sein Werk über die Zeit hinaus in alle Zeiten. Wie Ariel schwebt er geisternd durch die Luft seiner Bücher, füllt sie an mit heimlicher Musik, reißt sie in einen Tanzwirbel, eine große Freudigkeit des Lebens. Allgegenwärtig ist er. Selbst aus dem Schacht der finstersten Verwirrungen funkelt er auf wie ein Bergmannslicht, er löst die überstraffen Spannungen, er mildert das allzu Sentimentale durch den Unterton der Ironie, das Übertriebene durch seinen Schatten, das Groteske, er ist das Versöhnende, das Ausgleichende, das Unvergängliche in seinem Werk. Er ist – wie alles bei Dickens – natürlich englisch, ein echtenglischer Humor. Auch ihm fehlt es an Sinnlichkeit, er vergißt sich nicht, betrinkt sich nicht an seiner eigenen Laune und wird nie ausschweifend. Er bleibt in seinem Überschwang noch gemessen, grölt nicht und rülpst sich nicht wie Rabelais, überpurzelt sich nicht wie bei Cervantes vor tollem Entzücken oder springt kopfüber ins Unmögliche wie der amerikanische. Er bleibt immer aufrecht und kühl. Dickens lächelt wie alle Engländer nur mit dem Mund, nicht mit dem ganzen Körper. Seine Heiterkeit verbrennt sich nicht selbst, sie funkelt nur und zersplittert ihr Licht in die Adern der Menschen hinein, flackert mit tausend kleinen Flammen, geistert und irrlichtert neckisch, ein entzückender Schelm, mitten in den Wirklichkeiten. Auch sein Humor ist – denn es ist das Schicksal Dickens’, immer eine Mitte darzustellen – ein Ausgleich zwischen der Trunkenheit des Gefühls, der wilden Laune und der kaltlächelnden Ironie. Sein Humor ist unvergleichbar dem der anderen großen Engländer. Er hat nichts von der zerfasernden, beizenden Ironie Sternes, nichts von der breitstapfigen, launigen Landedelmannsheiterkeit Fieldings; er ätzt nicht wie Thackeray schmerzhaft in den Menschen hinein, er tut nur wohl und nie weh, spielt wie Sonnenkringel ihnen lustig um Haupt und Hände. Er will nicht moralisch sein und nicht satirisch, nicht unter der Narrenkappe irgendeinen feierlichen Ernst verstecken. Er will überhaupt nicht und nichts. Er ist. Seine Existenz ist absichtslos und selbstverständlich; der Schalk steckt schon in jener merkwürdigen Augenstellung Dickens’, verschnörkelt und übertreibt dort die Gestalten, gibt ihnen jene ergötzlichen Proportionen und komischen Verrenkungen, die dann das Entzücken von Millionen wurden. Alles tritt in diesen Kreis von Licht, sie leuchten wie von innen heraus; selbst die Gauner und Schurken haben ihren Glorienschein von Humor, die ganze Welt scheint irgendwie lächeln zu müssen, wenn Dickens sie betrachtet. Alles glänzt und wirbelt, die Sonnensehnsucht eines nebligen Landes scheint für immer erlöst. Die Sprache schlägt Purzelbäume, die Sätze quirlen ineinander, springen weg, spielen Verstecken mit ihrem Sinn, werfen sich einer dem anderen Fragen zu, necken sich, führen sich irre, eine Launigkeit beflügelt sie zum Tanz. Unerschütterlich ist dieser Humor. Er ist schmackhaft ohne das Salz der Sexualität, das ihm ja die englische Küche versagte; er ließ sich nicht verwirren dadurch, daß hinter dem Dichter der Drucker hetzte; denn selbst im Fieber, in Not und Ärger konnte Dickens nicht anders als heiter schreiben. Sein Humor ist unwiderstehlich, er saß fest in diesem herrlich scharfen Auge und verlosch erst mit seinem Licht. Nichts Irdisches vermochte ihm etwas anzuhaben, und auch der Zeit wird es kaum gelingen. Denn ich kann mir Menschen nicht denken, die Novellen wie »Das Heimchen am Herd« nicht lieben würden, die der Heiterkeit wehren könnten bei manchen Episoden dieser Bücher. Die seelischen Bedürfnisse mögen sich wandeln wie die literarischen. Aber solange man Sehnsucht nach Heiterkeit haben wird, in den Augenblicken jener Behaglichkeiten, wo der Lebenswille ruht und nur das Gefühl des Lebens sanft seine Wellen in einem rührt, wo man sich nach nichts so sehnt als nach irgendeiner arglosen melodischen Erregung des Herzens, wird man nach diesen einzigen Büchern greifen, in England und überall in der Welt.


Das ist das Große, das Unvergängliche in diesem irdischen, allzu irdischen Werke: es hat Sonne in sich, es strahlt und wärmt. Man soll die großen Kunstwerke nicht allein nach ihrer Intensität fragen, nicht nur nach dem Menschen, der hinter ihnen stand, sondern auch nach ihrer Extensität, der Wirkung auf die Mengen. Und von Dickens wird man wie von keinem in unserem Jahrhundert sagen können, er habe die Freudigkeit der Welt gemehrt. Millionen Augen haben bei seinen Büchern in Tränen gefunkelt; Tausenden, denen das Lachen verblüht oder verschüttet war, hat er es neu in die Brust gepflanzt: weit über das Literarische hinaus ging seine Wirkung. Reiche Leute besannen sich und machten Stiftungen, als sie von den Brüdern Chereby lasen; Hartherzige wurden gerührt; die Kinder bekamen – es ist verbürgt –, als »Oliver Twist« erschien, mehr Almosen auf den Straßen; die Regierung verbesserte die Armenhäuser und kontrollierte die Privatschulen. Das Mitleid und Wohlwollen in England ist stärker geworden durch Dickens, das Schicksal von vielen und vielen Armen und Unglücklichen gelindert. Ich weiß: solche außerordentliche Wirkungen haben nichts zu tun mit der ästhetischen Wertung eines Kunstwerkes. Aber sie sind wichtig, weil sie zeigen, daß jedes ganz große Werk über die Welt der Phantasie hinaus, wo ja jeder schaffende Wille zauberhaft frei schweifen kann, auch in der realen Welt Wandlungen hervorbringt. Wandlungen im Wesentlichen, im Sichtbaren und dann in der Temperatur des Gefühlsempfindens. Dickens hat – im Gegensatz zu den Dichtern, die für sich selbst um Mitleid und Zuspruch bitten – die Heiterkeit und Lust seiner Zeit gemehrt, ihren Blutkreislauf befördert. Die Welt ist heller geworden seit dem Tage, da der junge Stenograph des Parlaments zur Feder griff, um von Menschen und Schicksalen zu schreiben. Er hat seiner Zeit die Freude gerettet und den späteren Generationen den Frohsinn jenes »merry old England«, des England zwischen den Napoleonkriegen und dem Imperialismus. Nach vielen Jahren wird man noch zurückschauen nach dieser dann schon altväterischen Welt mit ihren seltsamen, verlorenen Berufen, die längst im Mörser des Industrialismus zerpulvert sein werden, wird sich vielleicht hineinsehnen in dies Leben, das arglos war, voll von einfachen, stillen Heiterkeiten. Dickens hat dichterisch die Idylle Englands geschaffen – das ist sein Werk. Achten wir dieses Leise, das Zufriedene nicht zu gering gegenüber dem Gewaltigen: auch die Idylle ist ein Ewiges, eine uralte Wiederkehr. Das Georgikon oder Bukolikon, das Gedicht des fliehenden, vom Schauer des Begehrens ausruhenden Menschen ist hier erneut, so wie es immer im Umschwung der Generationen wieder sich erneuern wird. Es kommt, um wieder zu vergehen, die Atempause zwischen den Erregungen, das Kraftgewinnen vor oder nach der Anstrengung, die Sekunde der Zufriedenheit im rastlos hämmernden Herzen. Andere schaffen die Gewalt, andere die Stille. Charles Dickens hat einen Augenblick der Stille in der Welt zum Gedicht gefügt. Heute ist das Leben wieder lauter, die Maschinen dröhnen, die Zeit saust in rascherem Umschwung. Aber die Idylle ist unsterblich, weil sie Lebensfreude ist; sie kehrt wieder wie der blaue Himmel hinter den Wettern, die ewige Heiterkeit des Lebens nach allen Krisen und Erschütterungen der Seele. Und so wird auch Dickens immer wieder aus seiner Vergessenheit wiederkehren, wenn Menschen der Fröhlichkeit bedürftig sind und, ermattet von den tragischen Anspannungen der Leidenschaft, auch aus den leiseren Dingen die geisterhafte Musik des Dichterischen werden vernehmen wollen.

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