Realismus und Phantastik
Was kann für mich phantastischer sein als die Wirklichkeit?
Dostojewski
Wahrheit, die unmittelbare Wirklichkeit seines begrenzten Seins sucht der Mensch bei Dostojewski: Wahrheit sucht auch der Künstler in Dostojewski. Er ist Realist und ist es so konsequent – immer geht er ja an die äußerste Grenze, wo die Formen ihrem Widerspiel: dem Gegensatz so geheimnisvoll ähnlich werden –, daß diese Wirklichkeit jeden an das Mittelmaß gewöhnten täglichen Blick phantastisch anmutet. »Ich liebe den Realismus bis dorthin, wo er an das Phantastische reicht«, sagt er selbst, »denn was kann für mich phantastischer und unerwarteter, ja unwahrscheinlicher sein als die Wirklichkeit?« Die Wahrheit – dies entdeckt man bei keinem Künstler zwingender als bei Dostojewski – steht nicht hinter, sondern gleichsam gegen die Wahrscheinlichkeit. Sie ist über die Sehschärfe des gemeinen, des psychologisch unbewehrten Blickes hinaus: wie im Wassertropfen das unbewaffnete Auge noch klare spiegelnde Einheit, das Mikroskop aber wimmelnde Vielfalt, myriadenhaftes Chaos von Infusorien schaut, so erkennt der Künstler mit dem höheren Realismus Wahrheiten, die widersinnig scheinen gegen die offenbaren.
Diese höhere oder diese tiefere Wahrheit zu erkennen, die gleichsam tief unter der Haut der Dinge liegt und schon nah dem Herzpunkt aller Existenz, war Dostojewskis Leidenschaft. Er will gleichzeitig den Menschen als Einheit und Vielfalt, im Freiblick und im geschärften gleich wahr erkennen, und darum ist sein visionärer und wissender Realismus, der die Kraft eines Mikroskops und die Leuchtstärke des Hellsehers vereinigt, wie durch eine Mauer geschieden von dem, was die Franzosen als erste Wirklichkeitskunst und Naturalismus benannten. Denn obzwar Dostojewski in seinen Analysen exakter ist und weiter geht als irgendeiner von denen, die sich »konsequente Naturalisten« nannten (womit sie meinten, daß sie bis an das Ende gingen, während Dostojewski jedes Ende noch überschreitet), ist seine Psychologie gleichsam aus einer anderen Sphäre des schöpferischen Geistes. Der exakte Naturalismus von anno Zola kommt geradewegs aus der Wissenschaft her. Flaubert destilliert in der Retorte seines Gehirns 2000 Bücher aus der Pariser Nationalbibliothek, um das Naturkolorit der »Tentation« oder der »Salammbô« zu finden, Zola läuft drei Monate, ehe er seine Romane schreibt, wie ein Reporter mit dem Notizbuch auf die Börse, in die Warenhäuser und Ateliers, um Modelle abzuzeichnen, Tatsachen einzufangen. Die Wirklichkeit ist diesen Weltabzeichnern eine kalte, berechenbare, offenliegende Substanz. Sie sehen alle Dinge mit dem wachen, wägenden, tarierenden Blick des Photographen. Sie sammeln, ordnen, mischen und destillieren, kühle Wissenschaftler der Kunst, die einzelnen Elemente des Lebens, und betreiben eine Art Chemie der Bindung und Lösung.
Dostojewskis künstlerischer Beobachtungsprozeß dagegen ist vom Dämonischen nicht abzulösen. Ist Wissenschaft jenen anderen Kunst, so ist die seine Schwarzkunst. Er treibt nicht experimentelle Chemie, sondern Alchimie der Wirklichkeit, nicht Astronomie, sondern Astrologie der Seele. Er ist kein kühler Forscher. Als heißer Halluzinant starrt er nieder in die Tiefe des Lebens wie in einen dämonischen Angsttraum. Aber doch, seine sprunghafte Vision ist vollkommener als jener geordnete Betrachtung. Er sammelt nicht, und hat doch alles. Er berechnet nicht, und doch ist sein Maß unfehlbar. Seine Diagnosen, die hellseherischen, fassen im Fieber der Erscheinung den geheimnisvollen Ursprung, ohne den Puls der Dinge nur anzutasten. Etwas von hellsichtiger Traumerkenntnis ist in seinem Wissen, etwas von Magie in seiner Kunst. Ein Zeichen bloß, und schon faßt er faustisch die Welt. Ein Blick, und schon wird er zum Bild. Er braucht nicht viel zu zeichnen, nicht die Kärrnerarbeit des Details zu leisten. Er zeichnet mit Magie. Man besinne einmal die großen Gestalten dieses Realisten: Raskolnikow, Aljoscha und Fedor Karamasow, Myschkin, sie, die uns allen so ungeheuer gegenständlich sind im Gefühl. Wo schildert er sie? In drei Zeilen vielleicht umreißt er ihr Antlitz mit einer Art zeichnerischer Kurzschrift. Er sagt von ihnen gleichsam nur ein Merkwort, umschreibt ihr Gesicht mit vier oder fünf schlichten Sätzen, und das ist alles. Das Alter, der Beruf, der Stand, die Kleidung, die Haarfarbe, die Physiognomik, all das scheinbar so Wesentliche der Personenbeschreibung ist in bloß stenographischer Kürze festgehalten. Und doch, wie glüht jede dieser Figuren uns im Blut. Man vergleiche nun mit diesem magischen Realismus die exakte Schilderung eines konsequenten Naturalisten. Zola nimmt, ehe er zu arbeiten anfängt, ein ganzes Bordereau von seinen Figuren auf, er verfaßt (man kann sie heute noch nachsehen, diese merkwürdigen Dokumente) einen regelrechten Steckbrief, einen Passierschein für jeden Menschen, der die Schwelle des Romanes übertritt. Er mißt ihn ab, wieviel Zentimeter er hoch ist, notiert, wieviel Zähne ihm fehlen, er zählt die Warzen auf seinen Wangen, streicht den Bart nach, ob er rauh oder zart ist, greift jeden Pickel auf der Haut ab, tastet die Fingernägel nach, er weiß die Stimme, den Atem seiner Menschen, er verfolgt ihr Blut, Erbschaft und Belastung, schlägt sich ihr Konto auf in der Bank, um ihre Einnahmen zu wissen. Er mißt, was man von außen überhaupt nur messen kann. Und doch, kaum daß die Gestalten in Bewegung geraten, verflüchtigt sich die Einheit der Vision, das künstliche Mosaik zerbricht in seine tausend Scherben. Es bleibt ein seelisches Ungefähr, kein lebendiger Mensch.
Hier ist nun der Fehler jener Kunst: die Naturalisten schildern exakt die Menschen zu Anfang des Romans in ihrer Ruhe, gleichsam in ihrem seelischen Schlaf: ihre Bilder sind darum bloß von der nutzlosen Treue der Totenmasken. Man sieht den Toten, die Figur, nicht das Leben darin. Aber genau, wo jener Naturalismus endet, beginnt erst der unheimlich große Naturalismus Dostojewskis. Seine Menschenwerden plastisch erst in der Erregtheit, in der Leidenschaft, im gesteigerten Zustand. Während jene versuchen, die Seele durch den Körper darzustellen, bildet er den Körper durch die Seele: erst wenn die Leidenschaft seines Menschen die Züge strafft und spannt, das Auge sich feuchtet im Gefühl, wenn die Maske der bürgerlichen Stille, die Seelenstarre, von ihnen abfällt, wird sein Blick erst bildhaft. Erst wenn seine Menschen glühen, tritt Dostojewski, der Visionär, an das Werk, sie zu formen.
Absichtlich sind also und nicht zufällig bei Dostojewski die anfänglich dunkeln und ein wenig schattenhaften Konturen der ersten Schilderung. In seine Romane tritt man ein wie in ein dunkles Zimmer. Man sieht nur Umrisse, hört undeutliche Stimmen, ohne recht zu fühlen, wem sie zugehören. Erst allmählich gewöhnt sich, schärft sich das Auge: wie auf den Rembrandtschen Gemälden beginnt aus einer tiefen Dämmerung das feine seelische Fluidum in den Menschen zu strahlen. Erst wenn sie in die Leidenschaft geraten, treten sie ins Licht. Bei Dostojewski muß der Mensch immer erst glühen, um sichtbar zu werden, seine Nerven müssen gespannt sein bis zum Zerreißen, um zu klingen: »Um eine Seele formt sich bei ihm nur der Körper, um eine Leidenschaft nur das Bild.« Jetzt erst, da sie gleichsam angeheizt sind, da in ihnen der merkwürdige Fieberzustand beginnt – alle Menschen Dostojewskis sind ja wandelnde Fieberzustände –, setzt sein dämonischer Realismus ein, beginnt jene zauberische Jagd nach den Einzelheiten, jetzt erst schleicht er der kleinsten Bewegung nach, gräbt das Lächeln aus, kriecht in die krummen Fuchslöcher der verworrenen Gefühle, folgt jeder Fußspur ihrer Gedanken bis in das Schattenreich des Unbewußten. Jede Bewegung zeichnet sich plastisch ab, jeder Gedanke wird kristallen klar, und je mehr sich die gejagten Seelen ins Dramatische verstricken, um so mehr glühen sie von innen, um so durchsichtiger wird ihr Wesen. Gerade die unfaßbarsten, die jenseitigsten Zustände, die krankhaften, die hypnotischen, die ekstatischen, die epileptischen haben bei Dostojewski die Präzision einer klinischen Diagnose, den klaren Umriß einer geometrischen Figur. Nicht die feinste Nuance ist dann verschwommen, nicht die kleinste Schwingung entgleitet dann seinen geschärften Sinnen: gerade dort, wo die anderen Künstler versagen und, gleichsam geblendet vom übernatürlichen Licht, den Blick wegwenden, dort wird Dostojewskis Realismus am sichtbarsten. Und diese Augenblicke, da der Mensch die äußersten Grenzen seiner Möglichkeiten erreicht, da Wissen schon fast Wahnwitz wird und Leidenschaft zum Verbrechen, sie sind auch die unvergeßlichsten Visionen seines Werkes. Rufen wir uns das Bild Raskolnikows in die Seele, so sehen wir ihn nicht als schlendernde Gestalt auf der Straße oder im Zimmer, als einen jungen Mediziner von 25 Jahren, als Menschen von diesen und jenen äußeren Eigenheiten, sondern in uns ersteht die dramatische Vision seiner irren Leidenschaft, wie er mit zitternden Händen, kalten Schweiß auf der Stirn, gleichsam mit geschlossenen Augen die Treppe des Hauses hinaufschleicht, wo er gemordet hat, und in geheimnisvoller Trance, um seine Qualen noch einmal sinnlich zu genießen, die blecherne Klingel an der Tür der Ermordeten zieht. Wir sehen Dimitri Karamasow in den Purgatorien des Verhörs, schäumend vor Wut, schäumend vor Leidenschaft, den Tisch zertrümmern mit seinen rasenden Fäusten. Immer sehen wir bei Dostojewski den Menschen erst bildhaft im Zustande der höchsten Erregtheit, am Endpunkte seines Gefühles, so wie Leonardo in seinen grandiosen Karikaturen die Groteske des Körpers, die Abnormität des Physischen zeichnet, dort, wo sie über die gemeine Form hervordrängt, so faßt Dostojewski die Seele des Menschen im Augenblick des Überschwangs, gleichsam in den Sekunden, da sich der Mensch über den äußersten Rand seiner Möglichkeiten vorbeugt. Der mittlere Zustand ist ihm wie jeder Ausgleich, wie jede Harmonie, verhaßt: nur das Außerordentliche, das Unsichtbare, das Dämonische reizt seine künstlerische Leidenschaft zum äußersten Realismus. Er ist der unvergleichlichste Plastiker des Ungewöhnlichen, der größte Anatom der reizbaren und kranken Seele, den die Kunst je gekannt.
Das Instrument nun, das geheimnisvolle, mit dem Dostojewski in diese Tiefe seiner Menschen dringt, ist das Wort. Goethe schildert alles durch den Blick. Er ist – Wagner hat diese Unterschiede am glücklichsten ausgesprochen – Augenmensch, Dostojewski Ohrenmensch. Er muß seine Menschen erst sprechen hören, sprechen lassen, damit wir sie als sichtbar empfinden, und ganz deutlich hat Mereschkowski in seiner genialen Analyse der beiden russischen Epiker ausgedrückt: bei Tolstoi hören wir, weil wir sehen, bei Dostojewski sehen wir, weil wir hören. Seine Menschen sind Schatten und Lemuren, solange sie nicht sprechen. Erst das Wort ist der feuchte Tau, der ihre Seele befruchtet: sie tun im Gespräch, wie phantastische Blüten, ihr Inneres auf, zeigen ihre Farben, die Pollen ihrer Fruchtbarkeit. In der Diskussion erhitzen sie sich, wachen sie auf aus ihrem Seelenschlaf, und erst gegen den wachen, gegen den leidenschaftlichen Menschen, ich sagte es ja schon, wendet sich Dostojewskis künstlerische Leidenschaft. Er lockt ihnen das Wort aus der Seele, um dann die Seele selbst zu fassen. Jene dämonische psychologische Scharfsichtigkeit des Details bei Dostojewski ist im letzten nichts anderes als eine unerhörte Feinhörigkeit. Die Weltliteratur kennt keine vollkommeneren plastischen Gebilde als die Aussprüche der Menschen Dostojewskis. Die Wortstellung ist symbolisch, die Sprachbildung charakteristisch, nichts zufällig, jede abgebrochene Silbe, jeder weggesprungene Ton die Notwendigkeit selbst. Jede Pause, jede Wiederholung, jedes Atemholen, jedes Stottern ist wesentlich, immer hört man unter dem ausgesprochenen Wort das unterdrückte Mitschwingen. Man weiß aus der Rede bei Dostojewski nicht nur, was jeder einzelne Mensch sagt und sagen will, sondern auch, was er verschweigt. Und dieser geniale Realismus des seelischen Hörens geht restlos mit in die geheimnisvollsten Zustände des Wortes, in die sumpfige, stockende Fläche des trunkenen Irreredens, in die beflügelte, keuchende Ekstase des epileptischen Anfalles, in das Dickicht der lügnerischen Verworrenheit. Aus dem Dampf der erhitzten Rede ersteht die Seele, aus der Seele kristallisiert sich allmählich der Körper. Man träumt bei Dostojewski hellseherisch seine Menschen, sobald man sie sprechen hört. Dostojewski kann sich ersparen, sie graphisch zu zeichnen, denn wir selber werden in der Hypnose ihrer Rede zum Visionär. Ich will ein Beispiel wählen. Im »Idioten« geht der alte General, der pathologische Lügner, neben dem Fürsten Myschkin her und erzählt ihm Erinnerungen. Er beginnt zu lügen, gleitet immer tiefer in seine Lügen hinein und verstrickt sich gänzlich darin. Er redet, redet, redet. Über Seiten flutet seine Lüge hin.
Mit keiner Zeile nun schildert Dostojewski seine Haltung, aber aus seinem Wort, aus seinem Stolpern, seinem Stocken, seiner nervösen Hast spüre ich, wie er neben Myschkin hergeht, wie er sich verstrickt hat, sehe, wie er aufschaut, von der Seite den Fürsten vorsichtig anblickt, ob er ihm nicht mißtraue, wie er stehenbleibt, hoffend, der Fürst würde ihn unterbrechen. Ich sehe, wie der Schweiß auf seiner Stirne perlt, sehe, wie sein Gesicht, das zuerst begeisterte, nun sich immer mehr verkrampft in Angst, sehe, wie er in sich zusammenkriecht, ein Hund, der fürchtet, Prügel zu bekommen, und ich sehe den Fürsten, der selbst alle Anstrengungen des Lügners in sich fühlt und niederhält. Wo ist dies beschrieben bei Dostojewski? Nirgends, nicht in einer einzelnen Zeile, und doch sehe ich jedes Fältchen in seinem Gesicht mit leidenschaftlicher Klarheit. Irgendwo ist da das Arkanum des Visionären in der Rede, im Tonfall, in der Stellung der Silben, und so magisch ist diese Kunst der Wiedergabe, daß selbst durch die unumgängliche Verdickung, die ja jede Übertragung in eine fremde Sprache darstellt, noch die ganze Seele seiner Menschen schwingt. Der ganze Charakter des Menschen ist bei Dostojewski im Rhythmus seiner Rede. Und diese Komprimierung gelingt seiner genialen Intuition oft in einer winzigen Einzelheit, durch eine Silbe fast. Wenn Fedor Karamasow auf das Briefkuvert der Gruschenka zu ihrem Namen schreibt: »Mein Küchelchen!«, so sieht man das Antlitz des senilen Wüstlings, sieht die schlechten Zähne, durch die ihm der Speichel über die schmunzelnden Lippen rinnt. Und wenn in den »Erinnerungen aus dem Totenhaus« der sadistische Major beim Stockprügeln »Hie-be, Hie-be« schreit, so ist in diesem winzigen Apostroph sein ganzer Charakter, ein brennendes Bild, ein Keuchen von Gier, flackernde Augen, das gerötete Gesicht, das Keuchen der bösen Lust. Diese kleinen realistischen Details bei Dostojewski, die sich wie spitze Angelhaken ins Gefühl einbohren und widerstandslos mit ins fremde Erleben reißen, sie sind sein erlesenstes Kunstmittel und gleichzeitig der höchste Triumph des intuitiven Realismus über den programmatischen Naturalismus. Aber Dostojewski verschwendet durchaus nicht diese seine Details. Er setzt ein einziges ein, wo andere hunderte applizieren, aber er spart sich diese kleinen grausamen Einzelheiten der letzten Wahrheit mit einem wollüstigen Raffinement auf, er überrascht mit ihnen gerade im Augenblick der höchsten Ekstase, wo man sie am wenigsten erwartet. Immer gießt er mit unerbittlicher Hand den Galletropfen Irdischkeit in den Kelch der Ekstase, denn für ihn heißt wirklich und wahrhaft sein: antiromantisch und antisentimental wirken. Er will, daß wir zwiespältig genießen, wie er selbst zwiespältig empfindet, er will auch hier keine Harmonie, keinen Ausgleich. Immer in allen seinen Werken sind diese schneidenden Zerrissenheiten, wo er mit satanischem Detail die sublimsten Sekunden aufsprengt und dem Heiligsten des Lebens seine Banalität entgegengrinst. Ich erinnere nur an die Tragödie des »Idioten«, um einen solchen Augenblick des Kontrastes sichtlich zu machen. Rogoschin hat Nastassja Philipowna ermordet, nun sucht er Myschkin, den Bruder. Er findet ihn auf der Straße, er rührt ihn an mit der Hand. Sie brauchen nicht miteinander zu sprechen, furchtbare Ahnung weiß alles voraus. Sie gehen über die Straße in das Haus, wo die Ermordete liegt: irgendein ungeheures Vorempfinden von Größe und Feierlichkeit hebt sich in einem auf, alle Sphären erklingen. Die beiden Feinde eines Lebens, Brüder im Gefühl, schreiten in das Zimmer zur Ermordeten. Nastassja Philipowna liegt tot. Man spürt, diese Menschen werden sich nun das Letzte sagen, wie sie einander gegenüberstehen an der Leiche der Frau, die sie entzweite. Und dann kommt das Gespräch – und alle Himmel sind zerschlagen von der nackten, brutalen, brennend irdischen, teuflisch geistigen Sachlichkeit. Sie sprechen davon als erstes, als einziges – ob die Leiche riechen wird. Und Rogoschin erzählt mit schneidender Sachlichkeit, er habe »gute amerikanische Wachsleinwand« gekauft und »vier Fläschchen einer desinfizierenden Flüssigkeit darauf gegossen«.
Solche Details sind es, die ich bei Dostojewski die sadistischen, die satanischen nenne, weil hier der Realismus mehr ist als ein bloßer Kunstgriff der Technik, weil er eine metaphysische Rache ist, Ausbruch geheimnisvoller Wollust, einer gewaltsamen ironischen Enttäuschung. »Vier Fläschchen«! das Mathematische der Zahl, »amerikanische Wachsleinwand«! die grauenhafte Präzision des Details – das sind absichtliche Zerstörungen der seelischen Harmonie, grausame Revolten gegen die Einheit des Gefühls. Mit absichtlicher Bewußtheit (er ist der Antiromantiker, wie er der Antisentimentale ist) stellt er seine Szenerie mitten in die Banalität hinein. Schmutzige Kellerlokale, stinkend von Bier und Schnaps, dumpfe enge »Särge« von Zimmern, nur abgetrennt durch Holzwände, nie Salons, Hotels, Paläste, Kontore. Und mit Absicht sind seine Menschen äußerlich »uninteressant«, schwindsüchtige Frauen, verlumpte Studenten, Nichtstuer, Verschwender, Tagediebe, niemals aber soziale Persönlichkeiten. Aber gerade in diese dumpfe Alltäglichkeit stellt er die größten Tragödien der Zeit. Aus dem Erbärmlichen steigt das Erhabene phantastisch auf. Nichts wirkt dämonischer bei ihm als dieser Kontrast äußerer Nüchternheit und seelischer Trunkenheit, räumlicher Armut und Verschwendung des Herzens. In Schnapszimmern verkünden trunkene Menschen die Wiederkehr des Dritten Reiches, sein Heiliger Aljoscha erzählt die tiefste Legende, während ihm eine Dirne auf dem Schöße sitzt, in Bordellen und Spielhäusern entfalten sich die Apostolate der Güte und Verkündung, und die erhabenste Szene Raskolnikows, wo der Mörder sich niederwirft und vor dem Leiden der ganzen Menschheit sich beugt, sie spielt im Zimmerwinkel einer Dirne bei dem stotternden Schneider Kapernaumow.
Ein ununterbrochener Wechselstrom, kalt oder warm, warm oder kalt, aber nie lau, ganz im Sinne der Apokalypse, so durchblutet seine Leidenschaft das Leben, von Unruhe zu Unruhe wirft er die aufgereizten Gefühle. Nie gerät man darum bei den Romanen Dostojewskis zur Rast, nie in die sanfte, musikalische Rhythmik des Lesens, nie läßt er einem ruhig den Atem rinnen, immer zuckt man wie unter elektrischen Schlägen beunruhigt auf, heißer, brennender, unruhiger, neugieriger von Seite zu Seite. Solange wir in seiner dichterischen Gewalt sind, werden wir ihm selber ähnlich. Wie in sich selbst, dem ewigen Dualisten, dem Menschen am Kreuzholz des Zwiespalts, wie in seinen Gestalten, zersprengt Dostojewski auch dem Leser die Einheit des Gefühls.
Aber doch – die Frage muß beantwortet sein –, warum wirkt trotz solcher dämonischer Vollendung der Wahrheit Dostojewskis Werk, dieses irdischeste aller Werke, doch wiederum unirdisch auf uns, als Welt zwar, aber doch wie eine neben oder über unserer Welt, nur nicht sie selbst? Warum stehen wir innen mit unserem tiefsten Gefühl und sind doch irgendwie befremdet? Warum brennt in allen seinen Romanen etwas wie künstliches Licht und ist Raum darinnen wie aus Halluzinationen und Träumen? Warum empfinden wir ihn, diesen äußersten Realisten immer mehr als Somnambulen denn als Darsteller der Wirklichkeit? Warum ist trotz aller Feurigkeit, ja Überhitztheit, doch nicht fruchtbare Sonnenwärme darin, sondern irgendein schmerzhaftes Nordlicht, blutig und blendend, warum empfinden wir diese wahrste Darstellung des Lebens, die je gegeben wurde, doch irgendwie nicht als das Leben selbst? Als unser eigenes Leben?
Ich versuche zu antworten. Das höchste Maß der Vergleiche ist für Dostojewski nicht zu gering, und am Erhabensten, am Unvergänglichsten der Weltliteratur können sie gewertet werden. Für mich ist die Tragödie der Karamasow nicht geringer als die Verstrickungen der Orestie, die Epik Homers, der erhabene Umriß von Goethes Werk. Sie alle, diese Werke, sind sogar einfältiger, schlichter, weniger erkenntnisreich, weniger zukunftsträchtig als die Dostojewskis. Aber sie sind doch irgendwie weicher und freundsamer für die Seele, sie geben Erlösung des Gefühls, während Dostojewski nur Erkenntnis gibt. Ich glaube: dieser ihrer Entspannung danken sie, daß sie nicht so menschlich, nur menschlich sind. Sie haben um sich einen heiligen Rahmen von strahlendem Himmel, von Welt, einen Atem von Wiesen und Feldern, einen Sternblick von Himmel, wo sich das Gefühl, das verschreckte, entspannt hinflüchtet und befreit. Im Homer, mitten in den Schlachten, im blutigsten Gemetzel der Menschen stehen ein paar Zeilen der Schilderung, und man atmet salzigen Wind vom Meer, das silberne Licht Griechenlands glänzt über die Blutstatt, beseligt erkennt das Gefühl den schmetternden Kampf der Menschen als einen kleinen nichtigen Wahn gegen das Ewige der Dinge. Und man atmet auf, man ist erlöst von der menschlichen Trübe. Auch Faust hat seinen Ostersonntag, schwingt die eigene Qual in die zerklüftete Natur, wirft seinen Jubel in den Frühling der Welt. In allen diesen Werken erlöst die Natur von der Menschenwelt. Dostojewski aber fehlt die Landschaft, fehlt die Entspannung. Sein Kosmos ist nicht die Welt, sondern nur der Mensch. Er ist taub für Musik, blind für Bilder, stumpf für Landschaft: mit einer ungeheuren Gleichgültigkeit gegen die Natur, gegen die Kunst ist sein unergründliches, sein unvergleichliches Wissen um den Menschen bezahlt. Und alles Nur-Menschliche hat eine Trübe von Unzulänglichkeit. Sein Gott wohnt nur in der Seele, nicht auch in den Dingen, ihm fehlt jenes kostbare Korn Pantheismus, das die deutschen, das die hellenischen Werke so selig und so befreiend macht. Seine, Dostojewskis, Werke, sie spielen alle irgendwie in ungelüfteten Stuben, in rußigen Straßen, in dunstigen Kneipen, eine dumpfe menschliche, allzu menschliche Luft ist darinnen, die nicht klärend durchwühlt wird vom Wind aus den Himmeln und dem Sturz der Jahreszeiten. Man versuche doch einmal sich zu entsinnen bei seinen großen Werken, bei »Raskolnikow«, dem »Idioten«, bei den »Karamasows«, dem »Jüngling«, in welcher Jahreszeit, in welcher Landschaft sie spielen. Ist es Sommer, Frühling oder Herbst? Vielleicht ist es irgendwo gesagt. Aber man fühlt es nicht. Man atmet es, man schmeckt es, man spürt, man erlebt es nicht. Sie spielen alle nur irgendwo im Dunkel des Herzens, das die Blitzschläge der Erkenntnis sprunghaft erhellen, im luftleeren Hohlraum des Hirnes, ohne Sterne und Blumen, ohne Stille und Schweigen. Großstadtrauch verdunkelt den Himmel ihrer Seele. Es fehlen ihnen die Ruhepunkte der Erlösung vom Menschlichen, jene seligsten Entspannungen, die besten des Menschen, wenn er den Blick von sich selbst und seinen Leiden gegen die fühllose, leidenschaftslose Welt kehrt. Das ist das Schattenhafte in seinen Büchern: wie von einer grauen Wand von Elend und Dunkelheit heben sich seine Gestalten ab, sie stehen nicht frei und klar in einer wirklichen Welt, sondern in einer Unendlichkeit bloß des Gefühls. Seine Sphäre ist Seelenwelt und nicht Natur, seine Welt nur die Menschheit.
Aber auch seine Menschheit selbst, so wunderbar wahrhaftig jeder einzelne ist, so fehllos ihr logischer Organismus, auch sie ist in ihrer Gesamtheit in einem gewissen Sinne unwirklich: etwas von Gestalten aus Träumen haftet ihnen an, und ihr Schritt geht im Raumlosen wie der von Schatten. Damit sei nicht gesagt, daß sie irgendwie unwahr wären. Im Gegenteil: sie sind überwahr. Denn Dostojewskis Psychologie ist eine fehllose, aber seine Menschen sind nicht plastisch, sondern sublim gesehen und durchfühlt, weil sie einzig aus Seele gestaltet sind und nicht aus Körperlichkeit. Dostojewskis Menschen kennen wir alle nur als wandelndes und gewandeltes Gefühl, Wesen aus Nerven und Seelen, bei denen man es fast vergißt, daß dieses Blut durch Fleisch rinnt. Nie rührt man sie gewissermaßen körperlich an. Auf den zwanzigtausend Seiten seines Werkes ist nie geschildert, daß einer seiner Menschen sitzt, daß er ißt, daß er trinkt, immer fühlen, sprechen oder kämpfen sie nur. Sie schlafen nicht (es sei denn, daß sie hellseherisch träumen), sie ruhen nicht, immer sind sie im Fieber, immer denken sie. Nie sind sie vegetativ, pflanzlich, tierisch, stumpf, immer nur bewegt, erregt, gespannt, und immer, immer wach. Wach und sogar überwach. Immer im Superlativ ihres Seins. Alle haben sie die seelische Übersichtlichkeit Dostojewskis, alle sind sie Hellseher, Telepathen, Halluzinanten, alle pythische Menschen, und alle durchtränkt bis in die letzten Tiefen ihres Wesens von psychologischer Wissenschaft. Im gemeinen, im banalen Leben stehen – erinnern wir uns nur – die meisten Menschen im Konflikt mit einander und dem Schicksal einzig darum, weil sie sich nicht verstehen, weil sie einen bloß irdischen Verstand haben. Shakespeare, der andere große Psychologe der Menschheit, baut die Hälfte seiner Tragödien auf diese eingeborene Unwissenheit, auf dieses Fundament von Dunkel, das zwischen Mensch und Mensch als Verhängnis, als Stein des Anstoßes liegt. Lear mißtraut seiner Tochter, denn er ahnt ihren Edelmut nicht, die Größe der Liebe, die sich hier in Schamhaftigkeit verschanzt, Othello wiederum nimmt sich Jago als Einflüsterer, Cäsar liebt Brutus, seinen Mörder, alle sind sie dem wahren Wesen der irdischen Welt, der Täuschung verfallen. Bei Shakespeare wird wie im realen Leben das Mißverständnis, die irdische Unzulänglichkeit, zeugende tragische Kraft, die Quelle aller Konflikte. Die Menschen Dostojewskis aber, diese Überwissenden, sie kennen kein Mißverstehen. Jeder ahnt immer prophetisch den anderen, sie verstehen einander restlos bis in die letzten Tiefen, sie saugen sich das Wort aus dem Munde, noch ehe es gesagt ist, und den Gedanken noch aus dem Mutterleib der Empfindung. Das Unbewußte, das Unterbewußte ist bei ihnen überentwickelt, alle sind sie Propheten, alle Ahnende und Visionäre, überladen von Dostojewski mit seiner eigenen mystischen Durchdringung des Seins und des Wissens. Ich will ein Beispiel wählen, um deutlicher zu sein. Nastassja Philipowna wird von Rogoschin ermordet. Sie weiß es vom ersten Tage, da sie ihn erblickt, weiß es in jeder Stunde, in der sie ihm angehört, daß er sie ermorden wird, sie flieht vor ihm, weil sie es weiß, und flüchtet zurück, weil sie ihr eigenes Schicksal begehrt. Sie kennt das Messer sogar Monate voraus, das ihr die Brust durchstößt. Und Rogoschin weiß es, auch er kennt das Messer und ebenso Myschkin. Seine Lippen zittern, wenn er einmal im Gespräch zufällig Rogoschin mit diesem Messer spielen sieht. Und gleicherweise beim Morde Fedor Karamasows ist das Wissensunmögliche allen bewußt. Der Staretz fällt in die Knie, weil er das Verbrechen wittert, selbst der Spötter Rakitin weiß diese Zeichen zu deuten. Aljoscha küßt seines Vaters Schulter, wie er von ihm Abschied nimmt, auch sein Gefühl weiß es, daß er ihn nicht mehr sieht. Iwan fährt nach Tschermaschnjä, um nicht Zeuge des Verbrechens zu sein. Der Schmutzfink Smerdjakow sagt es ihm lächelnd voraus. Alle, alle wissen es, und den Tag und die Stunde und den Ort aus einer Überladenheit mit prophetischer Erkenntnis, die unwahrscheinlich ist in ihrer Zuvielfältigkeit. Alle sind sie Propheten, Erkenner, alle Allesversteher.
Hier wieder in der Psychologie erkennt man jene zwiefache Form aller Wahrheit für den Künstler. Obwohl Dostojewski den Menschen tiefer kennt als irgendeiner vor ihm, so ist ihm doch Shakespeare überlegen als Kenner der Menschheit. Er hat das Gemischte des Daseins erkannt, das Gemeine und Gleichgültige neben das Grandiose gestellt, wo Dostojewski einen jeden ins Unendliche steigert. Shakespeare hat die Welt im Fleisch erkannt, Dostojewski im Geist. Seine Welt ist vielleicht die vollkommenste Halluzination der Welt, ein tiefer und prophetischer Traum von der Seele, ein Traum, der die Wirklichkeit noch überflügelt: aber Realismus, der über sich selbst hinaus ins Phantastische reicht. Der Überrealist Dostojewski, der Überschreiter aller Grenzen, er hat die Wirklichkeit nicht geschildert: er hat sie über sich selbst hinaus gesteigert.
Von innen also, von der Seele allein, ist hier die Welt in Kunst gestaltet, von innen gebunden, von innen erlöst. Diese Art von Kunst, die tiefste und menschlichste aller, hat keine Vorfahren in der Literatur, weder in Rußland noch irgendwo in der Welt. Dieses Werk hat nur Brüder in der Ferne. An die griechischen Tragiker gemahnt manchmal der Krampf und die Not, dieses Übermaß von Qual in den Menschen, die unter dem Griff des übermächtigen Schicksals sich krümmen, an Michelangelo manchmal durch die mystische, steinerne, unerlösbare Traurigkeit der Seele. Aber der wahre Bruder Dostojewskis durch die Zeiten ist Rembrandt. Beide stammen sie aus einem Leben von Mühsal, Entbehrung, Verachtung, Ausgestoßene der Irdischkeit, gepeitscht von den Bütteln des Geldes in die tiefste liefe des menschlichen Seins hinab. Beide wissen sie um den schöpferischen Sinn der Kontraste, den ewigen Streit von Dunkel und Licht, und wissen, daß keine Schönheit tiefer ist als die heilige der Seele, die aus der Nüchternheit des Seins gewonnen ist. Wie Dostojewski seine Heiligen aus russischen Bauern, Verbrechern und Spielern, gestaltet sich Rembrandt seine biblischen Figuren von den Modellen der Hafengassen; beiden ist in den niedersten Formen des Lebens irgendeine geheimnisvolle, neue Schönheit verborgen, beide finden sie ihren Christus im Abhub des Volks. Beide wissen sie von dem ständigen Spiel und Widerspiel der Erdenkräfte, von Licht und Dunkel, das gleich mächtig im Lebendigen wie im Beseelten waltet, und hier wie dort ist alles Licht aus dem letzten Dunkel des Lebens genommen. Je mehr man in die Tiefe der Bilder Rembrandts, der Bücher Dostojewskis blickt, sieht man das letzte Geheimnis der weltlichen und geistigen Formen sich entringen: Allmenschlichkeit.
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Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.