Achtes Kapitel – Der Endkampf mit Napoleon


1815, Die hundert Tage

Am 19. März 1815 fahren um Mitternacht – der riesige Platz liegt dunkel und menschenverlassen – zwölf Wagen in den Hof des Tuilerienpalais. Eine unscheinbare Seitentür öffnet sich, heraus tritt, die Fackel in erhobener Hand, ein Diener, und hinter ihm schleppt sich mühsam, rechts und links von zwei getreuen Adeligen gestützt, ein feister, asthmatisch keuchender Mann, Ludwig XVIII. Beim Anblick des siechen Königs, der, kaum heimgekehrt nach fünfzehn Jahren des Exils, bei Nacht und Nebel schon wieder aus seinem Lande flüchten muß, ergreift Mitleid alle Anwesenden. Die meisten beugen das Knie, während man diesen durch seine Hinfälligkeit würdelosen, durch seine Tragik erschütternden alten Mann in die Karosse hebt. Dann ziehen die Pferde an, die anderen Wagen folgen, einige Minuten klappert auf dem harten Kies noch die Kavalkade der begleitenden Garde. Dann liegt der riesige Raum wieder dunkel und still, bis der Morgen graut, der Morgen des 20. März, der erste von den hundert Tagen des von Elba heimgekehrten Kaisers Napoleon.


Erst schleicht die Neugier heran. Mit zitternden lüsternen Nüstern umschnuppert sie den Palast, ob das aufgejagte Königswild schon vor dem Kaiser geflüchtet: Kaufleute, Nichtstuer, Spaziergänger. Ängstlich oder freudig, je nach Temperament und Gesinnung, flüstern sie einander Nachrichten zu. Um zehn Uhr strömen schon dichte, drängende Massen her. Und da immer erst die Masse den Menschen mutig macht, wagen sich schon erste klare Schreie vor: »Vive l’Empereur!« und »A bas le Roi!« Dann rückt plötzlich Kavallerie heran, Offiziere, die unter dem Königtum auf Halbsold gesetzt wurden. Sie wittern wieder Krieg, Beschäftigung, vollen Sold, Ehrenlegionen, Avancements mit der Wiederkehr des Kriegskaisers: tumultuarisch jubelnd besetzen sie unter Exelmans’ Befehl ungehindert die Tuilerien (und weil der Übergang von Hand zu Hand sich so gemächlich, so unblutig vollzieht, klettert die Rente an der Börse sofort um einige Punkte hinauf). Mittags weht die Trikolore wieder auf dem uralten Königsschloß, ohne daß ein Schuß gefallen wäre.


Und schon melden sich hundert Nutznießer, die »Getreuen« des Kaiserhofes, die Palastdamen, Bedienten, Truchsesse, Küchenmarschälle, die alten Staatsräte und Zeremonienmeister, alle, die unter der weißen Lilie nicht dienen und verdienen durften, der ganze neue Adel, den Napoleon aus den Trümmern der Revolution ins Höfische hinaufgeholt hat. Alles trägt Gala, die Generale, die Offiziere, die Damen: Diamanten sieht man wieder funkeln, Pallasche und Orden. Zimmer werden geöffnet und vorbereitet zum Empfang des neuen Herrn, rasch noch die königlichen Embleme entfernt – auf der Seide der Fauteuils flimmert statt der Königslilie wieder die napoleonische Biene. Jeder zittert, nur rechtzeitig zur Stelle zu sein, von vornherein als »Getreuer« bemerkt zu werden. Unterdes wird es Abend. Wie bei den Bällen und großen Empfängen entzünden die livrierten Diener alle Kandelaber und Kerzen; bis weit zum Triumphbogen empor leuchten die Fenster des wieder kaiserlichen Palastes und locken ungeheure Massen Neugieriger in die Tuileriengärten.


Endlich, um neun Uhr abends, saust in vollem Galopp ein Wagen heran, rechts, links, vorn, rückwärts geschützt oder flankiert von Reitern aller Grade und Rangstufen, die begeistert ihre Säbel schwenken (sie werden sie bald brauchen gegen die Armeen Europas!). Wie eine Explosion bricht der Jubelruf »Vive l’Empereur!« aus der gestauten Masse, widerhallend im weiten Viereck erklirrender Fenster. In einer einzigen unsinnigen Sturzwelle wirft sich die begeisterte Brandung gegen den Wagen, mit den Säbelspitzen müssen die Soldaten den Kaiser vor dem lebensgefährlichen Andrang der Begeisterung schützen. Dann fassen sie ihn selbst und tragen die heilige Beute, den großen Kriegsgott, ehrfürchtig durch das betäubende Rasen die Treppe empor in den alten Palast. Auf den Schultern seiner Soldaten, die Augen geschlossen unter der Überfülle des Glückes, ein seltsames, fast somnambules Lächeln auf den Lippen, so landet, der vor zwanzig Tagen Elba als ein Verbannter verlassen, wieder auf dem Kaiserthrone Frankreichs. Das ist Napoleon Bonapartes letzter Triumph. Zum letzten Male erlebt er so unwahrscheinlichen Aufschwung, solchen Traumflug aus dem Dunkel bis zu den höchsten Zinnen der Macht. Zum letzten Male braust ihm die Muschel des Ohres von dem meerhaften Dröhnen des geliebten Kaiserrufes. Eine Minute, zehn Minuten genießt er, geschlossenen Auges und staunenden Herzens, dies berauschende Elixier der Macht. Dann läßt er die Türen des Palastes schließen, die Offiziere abrücken und die Minister rufen: die Arbeit beginnt. Der Mann muß verteidigen, was das Schicksal ihm geschenkt. Gedrängt voll warten die Säle auf den Heimgekehrten. Aber der erste Blick schon bietet Enttäuschung: die ihm Treugebliebenen sind nicht die Besten, die Klügsten, die Wichtigsten. Er sieht Höflinge und Höfliche, Stellengierige und Neugierige – viel Uniformen und wenig Köpfe. Fast alle großen Marschälle fehlen ohne Entschuldigung, die wahren Kameraden seines Aufstiegs; sie sind auf ihren Schlössern geblieben oder zum König übergegangen, bestenfalls neutral, meist sogar feindlich. Von den Ministern ist der gescheiteste, der weltgewandteste, Talleyrand, abwesend, von den neugeschaffenen Königen die eigenen Brüder, die eigenen Schwestern und vor allem seine eigene Frau und der eigene Sohn. Viele Bewerber sieht er und wenig Würdige unter dem Schwarm; noch schwingt der Jubelruf der Tausende ihm wirr im Blut, und schon beginnt der klar überschauende Geist im Triumph den ersten Schauer der Gefahr zu fühlen. Da plötzlich ein Surren in den Vorräumen, erstaunt und freudig anschwellend, und zwischen den Uniformen und gestickten Fräcken tut eine Gasse sich respektvoll auf. Ein Wagen ist vorgefahren, etwas spät – man kommt, aber man wartet nicht, man bietet sich an, aber nicht dringlich wie die kleinen Höflinge, – und ihm entsteigt die schmale, fahle, allen wohlbekannte Gestalt des Herzogs von Otranto. Langsam, gleichgültig, mit kühl verdeckten, undurchdringlichen Augen schreitet er, ohne zu danken, durch die aufgetane Gasse, und gerade diese wohlbekannte selbstverständliche Ruhe erweckt Begeisterung. »Platz für den Herzog von Otranto!« rufen die Diener. Die ihn näher kennen, wiederholen den Ruf anders: »Platz für Fouché. Er ist der Mann, den der Kaiser jetzt am nötigsten braucht!« Er ist schon gewählt, bestimmt, gefordert von der allgemeinen Meinung, ehe der Kaiser entscheiden kann. Nicht als Bewerber kommt er, sondern als Macht, majestätisch und gravitätisch; und tatsächlich, Napoleon läßt ihn nicht warten, sofort entbietet er den ältesten seiner Minister, den getreuesten seiner Feinde, zu sich. Über ihre Unterredung ist so wenig bekannt wie über jene erste, da Fouché dem aus Ägypten geflüchteten General zum Konsul emporhalf und sich ihm zu untreuer Treue verbündete. Aber als er nach einer Stunde aus dem Zimmer tritt, ist Fouché wieder sein Minister, Polizeiminister zum drittenmal.


Noch sind die Lettern feucht, die im »Moniteur« die Ernennung des Herzogs von Otranto zum Minister Napoleons ankündigen, und schon bereuen beide, der Kaiser und der Minister, im geheimen, sich wieder aufeinander eingelassen zu haben. Fouché ist enttäuscht: er hat mehr erwartet. Längst genügt seinem kalt brennenden Ehrgeiz das mindere Amt eines Polizeiministers nicht mehr. 1796 noch Rettung und Auszeichnung für den halbverhungerten, geächteten und verachteten Exjakobiner Joseph Fouche, scheint solche Berufung dem millionenreichen, allbeliebten Herzog von Otranto 1815 erbärmliche Sinekure. Am Erfolg ist sein Selbstbewußtsein gewachsen; nur noch das große Weltspiel reizt ihn, das aufregende Hasard europäischer Diplomatie, der Kontinent als Spieltisch und das Geschick ganzer Länder als Einsatz. Zehn Jahre hat ihm Talleyrand den Weg versperrt, der einzige ihm Gleichwertige; nun, da dieser gefährlichste Konkurrent Napoleon Paroli bietet und in Wien die Bajonette von ganz Europa gegen den Kaiser zusammenbündelt, glaubt Fouché als der einzig Fähige das Ministerium des Äußeren für sich beanspruchen zu dürfen. Aber Napoleon, argwöhnisch und dies mit gutem Rechte, verweigert dieses wichtigste Portefeuille seiner geschickten, weil allzu geschickten und allzu unverläßlichen Hand. Nur das Polizeiministerium schiebt er ihm widerwillig zu; er weiß, diesem gefährlichen Ehrgeiz muß man wenigstens einen Brocken Macht hinwerfen, damit er nicht bissig wird. Aber selbst in diesem engen Ressort setzt er dem Unzuverlässigen noch einen Spion hinter den Nacken, indem er Fouchés grimmigsten Feind, den Herzog von Rovigo; zum Chef der Gendarmerie ernennt. So erneuert sich am ersten Tage ihrer erneuten Verbindung das alte Spiel: Napoleon postiert eine eigene Polizei hinter seinen Polizeiminister. Und Fouché treibt eine eigene Politik neben und hinter der kaiserlichen. Beide betrügen einander, beide mit offenen Karten; wieder muß sich entscheiden, wer auf die Dauer die Oberhand behält: der Stärkere oder der Geschicktere, das heiße oder das kalte Blut.


Unwillig nimmt Fouché das Ministerium. Aber er nimmt es doch. Dieser prachtvolle und leidenschaftliche Geistspieler hat einen tragischen Defekt: er kann nicht abseits stehen, auch nicht für eine Stunde bloß Zuschauer bleiben im Weltspiel. Er muß unablässig Karten in der Hand haben, Atout geben, mischen, betrügen, irreführen, Paroli geben und trumpfen. Er muß zwanghaft immer an einem Tisch sitzen – gleichgültig, an welchem, ob am königlichen, kaiserlichen oder republikanischen; nur dabei sein, nur »avoir la main dans la pâte«, nur die Finger im heißen Brei haben, gleichgültig in welchem, nur Minister sein, der Rechten, der Linken, des Kaisers, des Königs, nur am Knochen der Macht nagen. Nie wird er die sittliche und ethische Kraft, nie auch nur die Nervenklugheit haben oder den Stolz, irgendeinen Abhub Macht, den man ihm hinwirft, zurückzuweisen. Immer wird er jeden Dienst annehmen, den man ihm gibt; nichts ist ihm der Mensch, nichts die Sache – das Spiel alles.


Und ebenso unwillig nimmt Napoleon Fouché wieder in seinen Dienst. Er kennt diesen Schattengänger aus zehn Jahren und weiß, daß er niemand dient und immer nur seiner Spiellust folgt. Er weiß, dieser Mann wird ihn fallen lassen wie den Kadaver einer toten Katze, er wird ihn verlassen im gefährlichsten Moment, so wie er die Girondisten, die Terroristen, Robespierre und die Thermidoristen, so wie er Barras, seinen Retter, das Direktorium, die Republik, das Konsulat verlassen und verraten hat. Aber er braucht ihn oder meint, ihn zu brauchen – so wie Napoleon Fouché durch sein Genie, so fasziniert eben Fouché durch seine Brauchbarkeit immer wieder Napoleon. Ihn zurückzuweisen, wäre lebensgefährlich; in einem so unsicheren Augenblick Fouché zum Feind zu haben, wagt nicht einmal Napoleon. So wählt er das geringere Übel, ihn zu beschäftigen, ihn mit Befugnissen und Ämtern abzulenken, sich von ihm untreu dienen zu lassen. »Nur von Verrätern habe ich die Wahrheit erfahren«, sagt, Fouchés gedenkend, der Besiegte später auf St. Helena. Noch in seinem äußersten Ingrimm flackert Hochachtung auf vor den ungewöhnlichen Fähigkeiten dieses mephistophelischen Menschen, denn nichts erträgt das Genie unduldsamer als die Mittelmäßigkeit; und wissend betrogen, weiß sich Napoleon von Fouché immerhin noch verstanden. So nimmt er, wie ein Verdurstender nach Wasser greift, das er vergiftet weiß, lieber diesen Klugen und Unverläßlichen zum Diener als die Treuen und Unzulänglichen. Zehn Jahre erbitterter Feindschaft binden Menschen oft geheimnisvoller als eine mittlere Freundschaft.


Zehn Jahre lang und länger hat Fouché Napoleon, der Minister dem Herrn, der Geist dem Genie gedient, zehn Jahre lang als der immer Unterliegende. 1815, im Endkampf, ist in Wahrheit von Anfang an Napoleon der Schwächere. Noch einmal hat er, zum letztenmal, den Rausch des Ruhmes erlebt, wie mit Adlersflügeln hat das Geschick ihn unverhofft hergetragen von der fremden Insel auf den Kaiserthron. Regimenter, gegen ihn gesandt in hundertfacher Übermacht, werfen beim bloßen Anblick seines Mantels ihre Waffen weg. In zwanzig Tagen stürmt der Verbannte, der mit sechshundert gekommen, an der Spitze einer Armee nach Paris, und den Donner des Jubels von Tausenden im Ohr, schläft er abermals im Bett der Könige von Frankreich. Aber welch ein Erwachen in den nächsten Tagen, wie rasch blaßt der phantastische Traum an den Ernüchterungen der Wirklichkeit! Kaiser, er ist es wieder, aber nur dem Namen nach, denn die Welt, einst hingeknechtet zu seinen Füßen, sie erkennt ihren Herrn nicht mehr an. Er schreibt Briefe und Proklamationen, leidenschaftliche Friedensbeteuerungen; mit Achselzucken belächelt man sie und gewährt ihnen nicht einmal die Ehre einer Erwiderung. Boten an den Kaiser, die Könige und Fürsten werden an den Grenzen abgefangen wie Schmuggler mit Konterbande und rücksichtslos kaltgestellt. Ein einziger Brief gelangt auf Umwegen nach Wien, den wirft Metternich uneröffnet auf den Verhandlungstisch. Rings um Napoleon wird es leer, die alten Freunde und Gefährten sind in alle Winde zerstoben, Berthier, Bourrienne, Murat, Eugen Beauharnais, Bernadotte, Augereau, Talleyrand, sie sitzen und besitzen auf ihren Gütern oder leisten seinen Feinden Gefolgschaft. Vergebens will er sich und die andern täuschen; er läßt die Gemächer der Kaiserin und des Königs von Rom prunkvoll herrichten, als kämen sie schon morgen zu ihm zurück, aber in Wirklichkeit flirtet Marie Louise mit ihrem Cicisbeo Neipperg, und sein Sohn spielt mit österreichischen Bleisoldaten in Schönbrunn, wohlbewacht unter den Augen des Kaisers Franz. Selbst das eigene Land erkennt die Trikolore nicht an. Aufstände im Süden, im Westen: die Bauern haben die ewigen Rekrutierungen satt und knallen auf die Gendarmen, die ihre Pferde wieder zu den Kanonen holen wollen. Auf den Straßen kleben höhnische Plakate, die im Namen Napoleons dekretieren: »Artikel I. Es haben mir jährlich dreihunderttausend Schlachtopfer geliefert zu werden. Artikel II. Unter Umständen werde ich diese Zahl auf drei Millionen erhöhen. Artikel III. Alle diese Opfer werden mit Post zur großen Schlächterei geschickt.« Kein Zweifel, die Welt will Frieden, und alle Vernünftigen sind bereit, den unerwünscht Heimgekehrten zum Teufel zu schicken, wenn er nicht den Frieden garantiert, und – tragisches Schicksal – nun, da der Soldatenkaiser zum erstenmal wahrhaft Ruhe haben will für sich und die Welt, vorausgesetzt, daß sie ihm die Herrschaft lasse, nun glaubt ihm die Welt nicht mehr. Die braven Bürger, voll Angst um ihre Rente, teilen nicht die Begeisterung der Halbsoldoffiziere und professionellen Hahnenkämpfer, denen der Frieden Störung der Geschäfte bedeutet, und kaum daß ihnen – notgedrungen – Napoleon ein Wahlrecht gibt, so schlagen sie ihm ins Gesicht, indem sie gerade diejenigen wählen, die er seit fünfzehn Jahren gewaltsam verfolgt und im Dunkel gehalten, die Revolutionäre von 1792, Lafayette und Lanjuinais. Nirgends ein Verbündeter, wenig wirkliche Anhänger in Frankreich, kaum ein Mensch, mit dem er sich wirklich beraten kann im engeren Kreise. Mißmutig und verstört irrt der Kaiser im leeren Palast. Seine Nerven und seine Spannkraft lassen nach; bald schreit er unbeherrscht los, bald versinkt er in stumpfe Lethargie. Oft legt er sich mitten am Tage hin, um zu schlafen: eine Müdigkeit von innen, nicht vom Leibe, sondern von der Seele her schlägt ihn mit bleierner Keule für Stunden hin. Einmal findet ihn Carnot in seinen Gemächern, Tränen im Auge, das Bild des Königs von Rom, seines Sohnes, starr betrachtend; seine Vertrauten hören ihn klagen, sein guter Stern habe ihn verlassen. Irgendwie spürt der innere Magnet, daß der Zenit des Erfolges überschritten ist, unruhig zittert und schwankt darum die Nadel seines Willens von Pol zu Pol. Widerwillig, ohne rechte Hoffnung, bereit zu jeder Verständigung, zieht endlich der Sieggewohnte hinaus in den Krieg. Aber niemals schwebt Nike über einem demütig gebeugten Haupte.


So Napoleon 1815, Scheinherr und Scheinkaiser auf Borg und Leihe des Schicksals, nur noch mit einem Schattenkleid der Macht bekleidet. Der aber an seiner Seite, Fouché, steht gerade in jenen Jahren in der Fülle seiner Kraft. Die stahlhart zustoßende, stets in der Scheide der Tücke verborgene Vernunft nutzt sich nicht dermaßen ab wie die ständig rotierende Leidenschaft. Niemals erweist sich Fouché geistig gewandter, intriganter, geschmeidiger, kühner als in jenen hundert Tagen zwischen Aufbau und Sturz des Kaiserreiches; nicht Napoleon, sondern ihm wenden sich erwartungsvoll, als dem Retter, alle Blicke zu. Alle Parteien – phantastisches Phänomen – bringen diesem Minister des Kaisers mehr Vertrauen entgegen als dem Kaiser selbst. Ludwig XVIII., die Republikaner, die Royalisten, London, Wien, alle erblicken in Fouché den einzigen Mann, mit dem man wahrhaft verhandeln kann, und seine rechnerische, kalte Vernunft gibt einer erschöpften, friedensbedürftigen Welt mehr Zuversicht als das flackernde, im Wind der Verwirrung unverläßlich auf und nieder zuckende Genie Napoleons. Und die dem »General Bonaparte« den Titel des Kaisers verweigern, sie alle respektieren den persönlichen Kredit Fouchés. Dieselben Grenzen, an denen die Staatsagenten des kaiserlichen Frankreich rücksichtslos abgefangen und in den Kotter gesteckt werden, eben dieselben öffnen sich, wie mit magischem Schlüssel berührt, den geheimen Boten des Herzogs von Otranto. Wellington, Metternich, Talleyrand, Orleans, der Zar und die Könige, alle empfangen sie bereitwillig und mit größter Höflichkeit seine Emissäre, und mit einem Male gilt, der bisher alle betrogen, als der einzige verläßliche Spieler im Weltspiel. Nur die Finger braucht er zu rühren, und es geschieht sein Wille; die Vendee erhebt sich, ein blutiger Kampf steht bevor – aber es genügt, daß Fouché einen Boten schickt, und er verhindert den Bürgerkrieg mit einer einzigen Besprechung. »Wozu«, sagt er ganz offenherzig kalkulierend, »jetzt noch französisches Blut opfern? Ein paar Monate, und entweder der Kaiser hat gesiegt, oder er ist verloren, wozu da noch kämpfen für etwas, was euch wahrscheinlich kampflos in den Schoß fällt? Legt die Waffen weg und wartet ab!« Und sofort schließen die royalistischen Generale, von diesen unsentimentalen, nüchternen Darlegungen überzeugt, den gewünschten Pakt. Alles im Ausland, alles im Inland wendet sich zunächst an Fouché, kein Parlamentsbeschluß geschieht ohne ihn – ohnmächtig muß Napoleon zusehen, wie sein Diener ihm den Arm lähmt, überall, wo er zuschlagen will, wie er die Wahlen im Land gegen ihn lenkt und ihm mit einem republikanisch gesinnten Parlament den Hemmschuh für seinen despotischen Willen in den Weg wirft. Vergebens möchte er sich nun von ihm befreien, aber die Zeit, die selbstherrliche, ist vorbei, wo man den Herzog von Otranto wie einen unbequemen Diener mit ein paar Millionen in den Ruhestand abschob; heute kann eher der Minister den Kaiser von seinem Thron stoßen als der Kaiser den Herzog von Otranto von seinem Ministerplatz. Diese Wochen eigenwilliger und doch besonnener, vieldeutiger und doch klarer Politik zählen zu den vollkommensten in der Diplomatie der Weltgeschichte. Selbst ein persönlicher Gegner, der idealistisch gesinnte Lamartine, kann dem machiavellistischen Genie Fouché seinen Tribut nicht versagen. »Man muß anerkennen«, schreibt er, »daß er eine seltene Kühnheit und eine tatkräftige Unerschrockenheit in seiner Rolle an den Tag legte. Sein Kopf haftete täglich für seine Umtriebe, er konnte bei der ersten Regung des Schamgefühles und des Zornes fallen, die in der Brust Napoleons aufstieg. Von allen, die noch von jener Zeit des Konvents stammten, zeigte er allein sich weder abgenützt noch irgend vermindert in seiner Verwegenheit. Durch sein kühnes Spiel auf der einen Seite zwischen der Tyrannei, welche wieder ins Leben trat, und der Freiheit, welche aufleben wollte, auf der anderen zwischen Napoleon, der das Vaterland seinem Interesse opferte, und Frankreich, das sich nicht für einen einzigen Menschen schlachten lassen wollte, grausam eingeklemmt, schüchterte Fouché den Kaiser ein, schmeichelte den Republikanern, beruhigte Frankreich, winkte Europa zu, lächelte Ludwig XVIII. an, unterhandelte mit den Höfen, korrespondierte durch Gesten mit Herrn von Talleyrand und erhielt durch seine Haltung alles in der Schwebe – eine hundertfältige, schwierige, ebenso niedrige wie erhabene, aber ungeheuerliche Rolle, welcher die Geschichte heute noch nicht die gehörige Aufmerksamkeit geschenkt hat. Eine Rolle ohne Seelenadel, aber nicht ohne Vaterlandsliebe und ohne Heldenmut, bei der sich ein Untertan auf die Höhe seines Herrschers, ein Minister über seinen Souverän stellte, Schiedsrichter zwischen Kaiserreich, der Restauration und der Freiheit, aber Schiedsrichter durch Zweizüngigkeit. Die Geschichte wird, während sie Fouché verdammt, ihm während dieser Periode der hundert Tage eine Kühnheit in der Haltung, eine Überlegenheit in der Handhabung der Parteien und eine Größe in der Intrige nicht absprechen können, die ihn den ersten Staatsmännern des Jahrhunderts zur Seite stellen würde, wenn es wahre Staatsmänner ohne Charakterwürde und ohne Tugend gäbe.«


So klarsichtig urteilt Lamartine, der Dichter, der Staatsmann, der Zeitgenosse aus der unmittelbar nachschwingenden Atmosphäre. Die napoleonische Legende, fünfzig Jahre später einsetzend, als die zehn Millionen Toten schon verwest, die Krüppel begraben und die Verwüstungen Europas längst verheilt waren, geht selbstverständlich strenger und ungerechter mit Fouché ins Gericht. Jede heroische Legende ist ja immer eine Art geistiges Hinterland der Geschichte, sie fordert, wie jedes Hinterland, sehr billig alle Tugenden, die sie nicht selbst miterleiden muß: unbeschränkte Menschenopfer, restlose Hingabe auch an den heroischen Wahnsinn, fremden Heldentod und fremde sinnlose Treue. Die napoleonische mit ihrer obligaten Schwarz-Weiß-Technik kennt nur »Getreue« und »Verräter« ihres Helden, sie macht keinen Unterschied zwischen dem ersten Napoleon, dem Konsul, der seinem Land Frieden und Ordnung durch Klugheit und Energie wiedergab, und jenem späteren cäsarisch wahnsinnigen Napoleon, dem das Kriegführen Manie geworden war, der immer wieder um seines privaten Machtlustwillens die Welt rücksichtslos in mörderische Abenteuer riß und zu Metternich die Tamerlansworte sprach: »Ein Mann wie ich pfeift auf das Leben von einer Million Menschen.« Jeden Vernünftigen Frankreichs, der diesem Ehrgeizirrwitz des dämonisch Besessenen, des blindwütig seinem eigenen Untergang Entgegenrasenden mit Mäßigung entgegentreten wollte, der nicht durch dick und dünn hündisch und sklavisch sich an seinen Dschagernatwagen kettete, Talleyrand, Bourrienne, Murat, sie alle wirft die Legende mit dantischem Ingrimm in ihr Inferno, und Fouché vor allem gilt ihnen als der Erzverräter unter den Verrätern, der Advocatus diaboli. Nach ihrer Darstellung wäre Fouché 1815 einzig ins Ministerium wieder eingetreten, um dem Kaiser nahe an den Rücken zu kommen und im rechten Augenblick den Dolchstoß zu geben, voraus schon verkauft an Ludwig XVIII. und Europa. Angeblich hätte er den Monarchisten schon am 20. März bei der Abreise des Königs sagen lassen: »Retten Sie nur den König, ich übernehme es, die Monarchie zu retten«, und am Tage seiner Portefeuilleübernahme seinem Sancho Pansa anvertraut: »Meine erste Pflicht ist, alle Pläne des Kaisers zu konterminieren; in drei Monaten werde ich stärker sein als er, und wenn er mich bis dahin nicht erschießen läßt, so muß er vor mir aufs Knie«, – eine Prophezeiung, die leider in den Daten doch zu genau stimmt, um nicht a posteriori erfunden zu sein.


Aber Fouché dies zuzumuten, er sei von vornherein als Anhänger Ludwigs des Achtzehnten, als bezahlter Spion des Königs, in Napoleons Ministerium eingetreten, das heißt, ihn erbärmlich unterschätzen, heißt vor allem, das prachtvoll psychologisch Komplizierte, das geheimnisvoll Dämonische seines Charakters mißkennen. Nicht daß Fouché, der absolute Amoralist und Machiavellist, gegebenenfalls dieses und überhaupt jedes Verrates nicht fähig gewesen wäre; aber solche Niedertracht war viel zu simpel, zu wenig anreizend für seinen spiellüsternen und verwegenen Geist. Einen Mann und selbst einen Napoleon glatt zu betrügen, liegt nicht auf seiner Linie: Alle zu betrügen, ist immer seine einzige Lust, keinen gewiß zu machen und jeden zu locken, mit allen Seiten und gegen alle Seiten gleichzeitig zu spielen, niemals nach vorgefaßten Plänen zu handeln, sondern, aus den Nerven heraus, Proteus zu sein, Gott der Verwandlung; nicht ein Franz Moor, ein Richard III., ein geradliniger Intrigant – nur die schillernde, ihn selbst überraschende Rolle begeistert seine leidenschaftliche Diplomatennatur. Er liebt die Schwierigkeiten gerade um der Schwierigkeit willen, er steigert sie künstlich zur doppelten, zur vierfachen Rolle, nicht einmaliger Verräter, sondern mehrmaliger, allseitiger, urtümlicher. Und tatsächlich sagt, der ihn am tiefsten kannte, Napoleon, auf St. Helena von ihm das profunde Wort: »Ich habe nur einen wirklichen, vollendeten Verräter gekannt: Fouché!« Vollendeter Verräter – nicht gelegentlicher, eine Genienatur des Verrats, das allein war er, denn der Verrat ist nicht so sehr seine Absicht, seine Taktik, als seine ureigenste Natur. Und man begreift vielleicht sein Wesen am besten aus der Analogie der im Kriege so bekannten Doppelspione, die fremden Mächten Geheimnisse bringen, um dabei bei ihnen wieder wertvollere zu erspähen, und die bei diesem Hin- und Hertragen schließlich selbst nicht mehr wissen, welcher Macht sie eigentlich dienen; die von beiden bezahlt sind und keiner treu – wirklich ergeben nur dem Spiel, dem doppelzüngigen Spiel des Hin und Her, des Dazwischenseins, einer beinahe schon wieder immateriellen, einer durchaus tödlichen und diabolischen Lust. Erst wenn sich die Wage endgültig niedersenkt auf eine Seite, tritt nach der Spielleidenschaft die Vernunft wieder in Aktion, um den Gewinn einzukassieren: erst wenn der Sieg entschieden ist, entscheidet sich Fouché – so im Konvent, so unter dem Direktorium, unter dem Konsulat und unter dem Kaiserreich. Im Kampf ist er bei keinem, beim Kampfausgang immer beim Sieger. Wäre Grouchy zurecht gekommen, so wäre Fouché (wenigstens für einige Zeit) überzeugter Minister Napoleons geworden. Da er die Schlacht verliert, läßt er ihn fallen und fällt ab von ihm. Und ohne sich zu verteidigen, hat er mit seinem gewohnten Zynismus das entscheidende Wort über seine Haltung während der hundert Tage gesagt: »Nicht ich habe Napoleon verraten, sondern Waterloo.«


Immerhin, man kann verstehen, daß Napoleon dieses zweideutige Spiel seines Ministers rasend macht. Denn er weiß, diesmal geht es um seinen Kopf. Jeden Morgen tritt wie seit mehr als einem Jahrzehnt der hagere, magere Mann, fahl und blutleer das Gesicht über dem dunkeln, gestickten Palmenrock, in sein Zimmer und erstattet Bericht, ausgezeichneten, klaren, unwidersprechlichen Bericht über die Situation. Niemand übersieht die Ereignisse besser, niemand weiß klarer die Weltlage darzustellen, alles durchdringt und alles sieht – so fühlt Napoleon – dieser überlegene Geist. Und doch fühlt er gleichzeitig auch, daß Fouché ihm nicht alles sagt, was er weiß. Ihm ist bekannt: es gehen Boten hin zum Herzog von Otranto von den fremden Mächten, vormittags, mittags und nachts empfängt sein eigener Kabinettsminister verdächtige Royalistenagenten hinter verschlossenen Türen, er hat Besprechungen und Beziehungen, über die er ihm, dem Kaiser, kein Wort referiert. Aber geschieht dies, wie Fouché ihn glauben machen will, wirklich nur, um Informationen zu gewinnen, oder spinnen sich da geheime Intrigen? Gräßliche Unsicherheit für einen Gehetzten, von hundert Feinden Umstellten! Vergebens, daß er ihn bald freundschaftlich fragt, bald eindringlich mahnt, bald mit groben Verdächtigungen überschüttet: dieser dünne Mund bleibt unerschütterlich verschlossen, die Augen fühllos wie Glas. Man kann nicht an Fouché heran, man kann ihm sein Geheimnis nicht entreißen. Und so fiebert Napoleon: wie ihn fassen? Wie endlich wissen, ob der Mann, den man in alle Karten blicken läßt, Verräter an ihm ist oder Verräter an den Feinden? Wie ihn fassen, den Unfaßbaren, wie ihn durchdringen, den Undurchdringlichen?


Endlich – Erlösung! – eine Spur, eine Fährte, beinahe ein Beweis. Im April entdeckt die geheime Polizei, das heißt jene Polizei, die der Kaiser eigens dazu beschäftigt, um seinen Polizeiminister zu überwachen, daß ein angeblicher Angestellter eines Wiener Bankhauses in Paris eingetroffen ist und geradeswegs den Herzog von Otranto aufgesucht habe. Sofort wird der Bote aufgespürt, verhaftet und – selbstverständlich ohne Wissen des Polizeiministers Fouché – in einen Pavillon des Elysees vor Napoleon gebracht. Dort droht man ihm mit sofortiger Füsilierung und schüchtert ihn so lange ein, bis er endlich gesteht, einen mit sympathetischer Tinte geschriebenen Brief Metternichs an Fouché überbracht zu haben, der eine Vertrauensmännerbesprechung in Basel einleiten soll. Napoleon schäumt vor Wut: Briefe mit solchen Praktiken vom Minister seiner Feinde an seinen Minister, das bedeutet Hochverrat. Und sein erster Gedanke ist der natürliche: den ungetreuen Diener sofort verhaften und seine Papiere beschlagnahmen zu lassen. Aber seine Vertrauten raten ihm ab, noch sei kein Beweis erbracht und zweifellos bei der oft erprobten Vorsicht des Herzogs von Otranto niemals in seinen Papieren eine Spur seiner Machenschaften zu finden. So beschließt der Kaiser zunächst die Probe auf Fouchés Ergebenheit. Er läßt ihn rufen und spricht mit einer ihm sehr ungewohnten Verstellung, die er von seinem eigenen Minister gelernt hat, sondierend über die Lage, ob es nicht doch möglich sei, mit Österreich in Verhandlungen zu kommen? Fouché, ahnungslos, daß jener Bote längst die ganze Sache ausgeplaudert, erwähnt mit keinem Wort das Billett Metternichs, und gleichmütig, scheinbar gleichmütig entläßt ihn der Kaiser, nun vollkommen von der Schurkerei seines Ministers überzeugt. Aber um ihn ganz zu überführen, inszeniert er– mitten in der erbittertsten Stimmung – eine raffinierte Komödie mit dem ganzen Quiproquo eines Molièrischen Lustspiels. Durch den Agenten weiß man das Stichwort für die Zusammenkunft mit dem Vertrauten Metternichs. So schickt der Kaiser einen Vertrauten hin, der als Vertrauter Fouchés auftreten soll – ihm wird der österreichische Agent zweifellos alle Konfidenzen machen, und endlich wird der Kaiser wissen, nicht nur daß, sondern wie weit ihn Fouché verraten hat. Noch am selben Abend reist der Bote Napoleons: in zwei Tagen muß Fouché entlarvt und in seiner eigenen Falle gefangen sein.


Aber so rasch man greift – einen Aal oder eine Schlange, die richtigen Kaltbluttiere fängt man nicht mit der bloßen Hand. Die Komödie, die der Kaiser aufspielen läßt, hat, wie jedes vollendete Lustspiel, auch eine Gegenhandlung, quasi einen doppelten Boden. So wie Napoleon hinter dem Rücken Fouchés eine geheime Polizei, so hat wieder Fouché im Rücken Napoleons seine gekauften Schreiber und geheimen Berichterstatter: seine Kundschafter arbeiten nicht minder flink als die des Kaisers. Noch am selben Tage, da der Agent Napoleons zu jenem Maskenspiel ins Hotel »Drei Könige« in Basel abreist, hat Fouché bereits Lunte gerochen, einer der »Vertrauten« Napoleons hat ihm die Komödie anvertraut. Und der überrascht werden sollte, überrascht nun seinen Herrn gleich am nächsten Morgen beim täglichen Vortrag. Mitten im Gespräch fährt er sich plötzlich an die Stirn mit der Nachlässigkeit eines Mannes, dem irgendeine ganz, ganz unwichtige Belanglosigkeit entfallen ist: »Ach, richtig, Sire, ich habe vergessen, Ihnen zu sagen, daß ich ein Billett von Metternich bekommen habe, man ist ja mit wichtigeren Dingen beschäftigt. Und dann, sein Gesandter hat mir nicht das Pulver übergeben, um die Schrift lesbar zu machen, und ich vermutete zuerst eine Mystifikation. So kann ich Ihnen erst heute berichten.«


Nun kann sich der Kaiser nicht mehr halten: »Sie sind ein Verräter, Fouché«, schreit er ihn an, »ich sollte Sie hängen lassen.«


Und kühl: »Ich bin nicht dieser Meinung Eurer Majestät«, antwortet der unerschütterlichste, kaltblütigste Minister.


Napoleon bebt vor Wut. Wieder ist ihm durch dieses unerwünscht vorzeitige Geständnis der Fra Diavolo entschlüpft. Und der Agent, der zwei Tage später ihm den Bericht über die Unterredung in Basel überbringt, hat wenig Entscheidendes zu melden und viel Unerfreuliches. Wenig Entscheidendes: denn aus dem Verhalten des österreichischen Agenten ergibt sich, daß Fouché, der Vorsichtige, viel zu raffiniert war, sich nachweislich bindend einzulassen, daß er nur hinter dem Rücken seines Herrn sein Lieblingsspiel spielte: alle Möglichkeiten in einer Hand. Aber viel Unerfreuliches auch bringt der Bote mit: nämlich, daß die Mächte mit jeder Regierungsform in Frankreich einverstanden seien, nur mit einer nicht, mit Napoleon Bonaparte. Zornig beißt der Kaiser die Zähne in die Lippen. Seine Schlagkraft ist gelähmt. Er hat den Schattengänger von rückwärts heimlich treffen wollen und bei diesem Zweikampf aus dem Dunkel selbst eine tödliche Wunde empfangen.


Der richtige Augenblick ist durch die Parade Fouchés versäumt, Napoleon weiß es: »Es liegt auf der flachen Hand, daß er mich verrät«, äußert er zu seinen Vertrauten, »und ich bedaure, ihn nicht weggejagt zu haben, ehe er mir die Eröffnung seines Verkehres mit Metternich mitteilte. Jetzt ist der Augenblick versäumt, und es fehlt an einem Vorwand. Er würde überall ausstreuen, ich sei ein Tyrann, der alles seinem Argwohn opfere.« Mit voller Hellsichtigkeit erkennt der Kaiser seine Unterlegenheit, aber er kämpft weiter bis zur letzten Minute, ob man den Doppelseitigen nicht doch zu sich hinüberreißen könne oder irgendeinmal überraschen und zerschmettern. Alle Register zieht er auf. Er versucht es mit Vertrauen, mit Freundlichkeit, mit Nachsicht und mit Vorsicht, aber sein starker Wille prallt ohnmächtig von diesem nach allen Facetten hin gleich kalt und blendend geschliffenen Stein: Diamanten kann man zertrümmern oder wegschleudern, nie durchdringen. Schließlich reißen dem von Argwohn Gepeinigten die Nerven durch; Carnot erzählt die Szene, in der sich die Ohnmacht des Kaisers gegen seinen Peiniger dramatisch enthüllt. »Sie verraten mich, Herzog von Otranto, ich habe Beweise dafür«, schreit Napoleon einmal inmitten des Ministerrats den Unerschütterlichen an, und ein elfenbeinernes Messer, das auf dem Tisch liegt, erfassend: »Da, nehmen Sie das Messer, und stoßen Sie es mir in die Brust, das wäre loyaler als das, was Sie tun. Es läge nur an mir, Sie erschießen zu lassen, und die ganze Welt würde einem solchen Akt zustimmen. Aber wenn Sie mich fragen, warum ich es nicht tue, so ist es, weil ich Sie verachte und Sie nicht eine Unze schwer in meiner Wage wiegen.« Man sieht, sein Mißtrauen ist schon zu Wut geworden, seine Gequältheit zu Haß. Nie wird er diesem Mann vergessen, ihn dermaßen herausgefordert zu haben, und das weiß Fouché. Aber er rechnet klar die armseligen Machtmöglichkeiten des Kaisers durch. »In vier Wochen wird mit diesem Wütenden alles zu Ende sein«, sagt er hellsehend und verächtlich zu seinem Freunde. Darum denkt er gar nicht daran, jetzt zu paktieren; einer muß nach der Entscheidungsschlacht aus dem Wege: Napoleon oder er. Er weiß, Napoleon hat angekündigt, der erste Bote vom siegreichen Schlachtfeld werde seine Entlassung nach Paris bringen, vielleicht auch den Befehl zu seiner Verhaftung. Und mit einem Ruck springt die Uhr zwanzig Jahre zurück, 1793, wo gleichfalls der Mächtigste seiner Zeit, Robespierre, ebenso entschlossen gesagt, in vierzehn Tagen müsse ein Kopf fallen: der Fouchés oder der seine. Aber der Herzog von Otranto ist seitdem selbstbewußt geworden. Und überlegen erinnert er einen seiner Freunde, der ihn vor Napoleons Zorn warnt, an jene Drohung von einst und fügt lächelnd hinzu: »Aber der seine ist gefallen.«


Am 18. Juni beginnen plötzlich die Kanonen vor dem Invalidendom zu dröhnen. Die Bevölkerung von Paris zuckt begeistert auf. Sie kennt seit fünfzehn Jahren diese eherne Stimme. Ein Sieg ist erfochten, erfolgreiche Schlacht geschlagen – vollständige Niederlage Blüchers und Wellingtons meldet der »Moniteur«. Begeistert fluten die Menschenscharen über die sonntäglich überfüllten Boulevards, die allgemeine Stimmung, schwankend noch vor wenigen Tagen, springt plötzlich in Kaisertreue und Begeisterung um. Nur der feinste Gradmesser, die Rente, sinkt um vier Punkte, denn jeder Sieg Napoleons bedeutet Verlängerung des Krieges. Und nur ein Mann zittert vielleicht im Innersten bei diesem erzenen Schall: Fouché. Ihm kann der Sieg des Despoten den Kopf kosten.


Aber tragische Ironie: zur gleichen Stunde, wo in Paris französische Kanonen Salut schießen, schmetterten die englischen bei Waterloo längst die Kolonnen der Infanterie und der Garde zusammen, und während die Hauptstadt ahnungslos illuminiert, jagen staubwirbelnd die Rosse der preußischen Kavallerie die letzte lose Spreu der flüchtenden Armee vor sich her.


Noch einen zweiten Tag des Vertrauens hat das ahnungslose Paris. Erst am zwanzigsten sickern unheimliche Nachrichten durch. Blaß, mit zuckenden Lippen, flüstert der eine dem andern beunruhigendes Gerücht zu. In den Kammern, auf der Straße, an der Börse, in den Kasernen, überall raunen und reden die Leute von einer Katastrophe, obwohl die Zeitungen wie gelähmt schweigen. Alles redet, zaudert, murrt, klagt und hofft in der plötzlich verschüchterten Hauptstadt.


Nur einer handelt: Fouché. Kaum daß er (natürlich allen anderen voraus) die Nachricht von Waterloo erfahren hat, betrachtet er Napoleon nur noch als einen lästigen Kadaver, den es schleunigst wegzuschaffen gilt. Und sofort setzt er den Spaten an, um sein Grab zu schaufeln. Unverzüglich schreibt er an den Herzog von Wellington, um vonvornherein mit dem Siegerin Fühlung zu kommen, gleichzeitig warnt er mit einer psychologischen Voraussicht ohnegleichen die Abgeordneten, daß Napoleon als erste Handlung versuchen werde, sie alle nach Hause zu schicken. »Er wird wütender zurückkommen als je und sofort die Diktatur verlangen.« Rasch ihm also einen Prügel in den Weg! Am Abend ist das Parlament bereits eingespielt, der Ministerrat gegen den Kaiser gewonnen, die letzte Möglichkeit, die Macht wieder zu ergreifen, Napoleon aus der Hand geschlagen, und all dies, noch ehe er den Fuß nach Paris gesetzt hat. Der Herr der Stunde ist nicht mehr Napoleon Bonaparte, sondern endlich, endlich, endlich Joseph Fouché.


Knapp vor dem Frührot noch, den schwarzen Mantel der Nacht wie ein Leichentuch um sich geschlagen, rollt eine schlechte Karosse (die eigene mit dem Thronschatz, dem Degen und den Papieren hat Blücher erbeutet) durch das Tor von Paris und dem Elysee zu. Der vor sechs Tagen in seinem Armeebefehl pathetisch geschrieben: »Für jeden Franzosen, welcher Mut hat, ist der Augenblick gekommen, zu siegen oder zu sterben«, hat weder gesiegt, noch ist er gestorben, wohl aber sind bei Waterloo und Ligny noch einmal sechzigtausend Menschen für hingefallen. Jetzt ist er nur rasch heimgereist wie seinerzeit von Ägypten, wie von Rußland, um die Macht zu retten: mit Absicht hat er die Fahrt verlangsamen lassen, nur um heimlich, vom Dunkel gedeckt, einzutreffen. Und statt geradeswegs in die Tuilerien zu treten zu den Volksvertretern Frankreichs in seinen kaiserlichen Palast, verbirgt er seine zerschlagenen Nerven in dem kleineren und abseitigeren Elysee.


Ein müder, zerschmetterter Mensch steigt aus dem Wagen, zusammenhanglose, verwirrte Worte stammelnd, nachträgliche Erklärungen und Entschuldigungen suchend für das Unvermeidliche. Ein heißes Bad lockert ihn auf, dann erst beruft er seinen Rat. Unruhig, zwischen Zorn und Mitleid schwankend, respektvoll ohne inneren Respekt, hören sie den wirren und fiebrigen Reden des Geschlagenen zu, der von neuem von hunderttausend Mann phantasiert, die er ausheben will, von der Requirierung der Luxuspferde, der ihnen (die genau wissen, daß man keine hundert Mann mehr aus dem ausgepreßten Land herausholen kann) vorrechnet, in vierzehn Tage könne er den Verbündeten wieder zweihunderttausend Mann entgegenstellen. Die Minister, darunter Fouché, stehen mit gesenkten Stirnen. Sie wissen, daß derartige Fieberreden nur noch die letzten Zuckungen jenes riesigen Machtwillens sind, der in diesem Giganten noch immer und immer nicht sterben will. Genau, was Fouché vorausgesagt hat, fordert er: die Diktatur, Vereinigung aller militärischen und politischen Macht in eine, in seine Hand – und er fordert sie vielleicht nur, um sie sich von den Ministern ablehnen zu lassen, um ihnen einmal später vor der Geschichte die Schuld zuzuschieben, eine letzte Möglichkeit des Sieges versäumt zu haben (die Gegenwart kennt Analogieen für solche Umstellungen!).


Aber alle Minister äußern sich vorsichtig, jeder voll Scham, diesem Leidenden, diesem wahnwitzig Fiebernden durch ein hartes Wort wehzutun. Nur Fouché braucht nicht zu reden. Er schweigt, denn er hat längst gehandelt und alle Vorkehrungen getroffen, um diesen letzten Ansturm Napoleons auf die Macht zu hindern. Mit sachlicher Neugier, der eines Arztes, wenn er die wilden letzten Zuckungen eines Sterbenden klinisch kalt betrachtet und im voraus berechnet, wann der Puls stocken, der Widerstand zerbrechen wird, hört er ohne Mitleid diesen vergeblichen Krampfreden zu: kein Wort kommt über seine eigene, dünne, blutlose Lippe. Moribundus, ein Verlorener, ein Aufgegebener, was zählen dessen verzweifelte Reden noch! Er weiß, während der Kaiser sich hier selbst berauscht, um mit gewaltsamen Phantastereien auch die anderen zu berauschen, entscheidet tausend Schritte weiter, in den Tuilerien, schon die Ratsversammlung unbarmherzig logisch nach seinem, Fouchés, endlich ungehemmten Geheiß und Willen.


Er selbst freilich erscheint, genau wie am 9. Thermidor, an diesem 21. Juni nicht in der Deputiertenversammlung. Er hat – und das genügt – im Dunkel seine Batterieen aufgefahren, den Schlachtplan entworfen, den rechten Mann und die rechte Minute für den Angriff gewählt: Napoleons tragischen und beinahe grotesken Gegenspieler, Lafayette. Als Held des amerikanischen Freiheitskrieges vor einem Vierteljahrhundert heimgekehrt, ein blutjunger Edelmann und doch schon mit dem Ruhm zweier Welten gekrönt, Fahnenschwinger der Revolution, Bahnbrecher der neuen Idee, Liebling seines Volkes, hatte Lafayette früh, allzu früh, alle Ekstasen der Macht gekannt. Und dann war plötzlich aus dem Nichts, aus dem Schlafzimmer Barras’, ein kleiner Korse gekommen, irgendein Leutnant mit halbzerrissenem Mantel und abgetretenen Schuhen, und hatte in zwei Jahren alles an sich gerissen, was er aufgebaut und begonnen, ihm seinen Platz raubend, seinen Ruhm; derlei vergißt sich nicht. Grollend bleibt der gekränkte Edelmann auf seinem Landgut, während jener im gestickten Kaisermantel die Fürsten Europas zu seinen Füßen empfängt und eine neue Despotie, die härtere des Genies, einführt für die einstige des Adels. Keinen Sonnenstrahl Gunst wirft diese aufsteigende Sonne hinüber in das entlegene Landgut; und wenn der Marquis de Lafayette in seinem schlichten Kleid einmal nach Paris kommt, beachtet der Emporkömmling ihn kaum, die goldgestickten Röcke der Generale, die Uniformen der im Blutbrei gebackenen Marschälle überglänzen seinen schon verstaubten Ruhm. Lafayette ist vergessen, niemand nennt seinen Namen zwanzig Jahre lang. Das Haar wird ihm grau, hager und ausgetrocknet die kühne Gestalt, und niemand ruft ihn, nicht zur Armee, nicht in den Senat, verächtlich läßt man ihn Rosen pflanzen in La Grange und dicke Kartoffeln. Nein, derlei vergißt ein Ehrgeiziger nicht. Und wie nun das Volk, 1815 der Revolution sich erinnernd, seinen einstigen Liebling wieder als Vertreter wählt und Napoleon gezwungen ist, das Wort an ihn zu richten, antwortet Lafayette nur kühl und abwehrend – zu stolz, zu ehrlich, zu aufrichtig, um seine Feindschaft zu verbergen.


Jetzt aber, von Fouché im Rücken gestoßen, tritt er vor, der rückgestaute Haß in ihm wirkt beinahe wie Klugheit und Kraft. Zum erstenmal hört man wieder die Stimme des alten Bannerträgers von der Tribüne: »Wenn ich seit so viel Jahren zum erstenmal wieder meine Stimme erhebe, welche die alten Freunde der Freiheit wieder erkennen werden, fühle ich mich gedrängt, von den Gefahren des Vaterlandes zu euch zu sprechen, dessen Rettung jetzt allein in eurer Gewalt steht.« Zum ersten Male ist das Wort Freiheit wieder ausgesprochen, und das bedeutet in dieser Minute: Befreiung von Napoleon. Lafayettes Antrag pariert im voraus jeden Versuch, die Kammer aufzulösen, noch einmal einen Staatsstreich zu versuchen; begeistert wird beschlossen, daß die Volksvertretung sich in Permanenz erkläre und jeden als Verräter des Vaterlandes betrachte, der sich des Versuches schuldig macht, sie aufzulösen.


An welche Adresse solche harte Botschaft sich wendet, ist nicht zu verkennen; kaum ist sie ihm überbracht, fühlt Napoleon schon den Faustschlag mitten ins Gesicht. »Ich hätte diese Leute vor meiner Abreise wegschicken sollen«, sagt er wütend. »Jetzt ist es vorbei.« In Wahrheit ist es weder vorbei noch zu spät. Noch könnte er mit dem Federstrich rechtzeitiger Abdankung seinem Sohn die Kaiserkrone retten, sich selber die Freiheit, noch könnte er andrerseits die tausend Schritte vom Elysee hinüber in den Sitzungssaal tun und dort durch seine Gegenwart der unsicheren Hammelherde seinen Willen aufzwingen; aber immer wieder zeigt die Weltgeschichte das gleiche verblüffende Phänomen, daß gerade die energischsten Gestalten im Scheitelpunkt der Entscheidung eine seltsame Unentschlossenheit überfällt, gleichsam eine Lähmung der Seele. Wallenstein vor dem Abfall, Robespierre in der Nacht vom 9. Thermidor und nicht zum mindesten die Führer des letzten Krieges, sie alle zeigen gerade dort, wo selbst Voreiligkeit geringerer Irrtum wäre, eine verhängnisvolle Unentschlossenheit. Napoleon parlamentiert, er diskutiert vor den paar Ministern, die ihn gleichgültig anhören, er beredet gerade in der Stunde, die seine Zukunft entscheiden soll, fruchtlos alle Fehler der Vergangenheit, er klagt an, er phantasiert, er holt Pathos aus sich, echtes und theatralisches, aber keinen Mut. Er redet, aber er handelt nicht. Und als ob Geschichte innerhalb eines Lebenskreises je sich wiederholte, als ob nicht immer Analogieen die gefährlichsten Denkfehler in der Politik wären, schickt er wie am 18. Brumaire seinen Bruder Lucien statt seiner als Redner hinüber, um die Abgeordneten zu gewinnen. Aber damals stand Lucien der Sieg des Bruders als beredter Anwalt zur Seite und harthändige Grenadiere, entschlossene Generale als Komplizen. Und ferner, das hat Napoleon verhängnisvollerweise vergessen: zwischen diesen fünfzehn Jahren liegen zehn Millionen Tote. Und als Lucien jetzt auf die Tribüne tritt und das französische Volk beschuldigt, es lasse die Sache seines Bruders undankbar im Stich, da bricht plötzlich in Lafayette der zurückgestaute Zorn der enttäuschten Nation gegen ihren Schlächter aus, unvergeßliche Worte, die, wie Funken ins Pulverfaß geworfen, mit einem Schlage die letzte Hoffnung Napoleons zersprengen: »Wie«, donnert er Lucien an, »Sie wagen uns den Vorwurf zu machen, wir hätten nicht genug für Ihren Bruder getan? Haben Sie vergessen, daß die Gebeine unserer Söhne, unserer Brüder überall von unserer Treue Zeugnis geben? In den Sandwüsten Afrikas, an den Ufern des Guadalquivir und des Tajo, an den Gestaden der Weichsel und auf den Eisfeldern von Moskau sind seit mehr als zehn Jahren drei Millionen Franzosen für einen Mann umgekommen! Für einen Mann, der noch heute mit unserm Blut gegen Europa kämpfen will. Das ist genug, übergenug für einen Mann! Jetzt ist unsere Pflicht, das Vaterland zu retten.« Der donnernde Beifall von allen, denkt man, könnte Napoleon belehren, daß es nun höchste Zeit wäre, freiwillig zu entsagen. Aber nichts scheint schwieriger auf Erden, als Abschied zu nehmen von der Macht. Napoleon zögert. Und dieses Zögern kostet seinem Sohn das Kaiserreich und ihm selbst die Freiheit.


Nun aber reißt Fouché die Geduld. Will der Unbequeme nicht freiwillig, so eben weg mit ihm; nur rasch die Hebel richtig ansetzen, dann stürzt auch so kolossalischer Nimbus. In der Nacht bearbeitet er die ihm ergebenen Abgeordneten, und prompt am nächsten Morgen verlangt die Kammer befehlshaberisch die Abdankung. Aber auch dies scheint nicht deutlich genug für einen, dem die Welle der Macht im Blut braust. Noch immer parlamentiert Napoleon hin und her, bis auf einen Fingerdruck Fouchés hin Lafayette das entscheidende Wort ausspricht: »Wenn er mit der Abdankung zögert, werde ich die Absetzung vorschlagen.«


Eine Stunde Zeit geben sie dem Herrn der Welt zu ehrenvollem Abgang, eine Stunde dem Machtmenschen zu endgültigem Verzicht; aber er nützt sie genau wie 1814 vor seinen Generalen in Fontainebleau bloß theatralisch, statt politisch. »Wie«, ruft er empört aus, »Gewalt? Wenn es so aussieht, werde ich nicht abdanken. Die Kammer ist nur eine Rotte von Jakobinern und Ehrgeizigen, die ich der Nation hätte denunzieren und auseinanderjagen sollen! Aber die Zeit, die ich verloren habe, läßt sich wieder einbringen.« In Wirklichkeit will er sich noch dringlicher bitten lassen, um das Opfer zu erhöhen, und tatsächlich, genau wie 1814 die Generale, sprechen ihm nun seine Minister rücksichtsvoll zu. Nur Fouché schweigt. Nachrichten auf Nachrichten kommen, die Uhr läuft unbarmherzig weiter auf dem Zifferblatt. Endlich wirft der Kaiser einen Blick auf Fouché, einen, wie die Zeugen erzählen, gleichzeitig spöttischen und von leidenschaftlichem Haß erfüllten Blick. »Schreiben Sie den Herren«, herrscht er ihn verächtlich an, »sie sollen sich ruhig verhalten, ich werde sie zufriedenstellen.« Sofort wirft Fouché mit Bleistift ein paar Zeilen auf einen Zettel an seine Drahtzieher in der Kammer, der Eselstritt sei nicht mehr nötig; und Napoleon begibt sich in ein abgelegenes Zimmer, um seinem Bruder Lucien die Abdankung zu diktieren.


Nach einigen Minuten tritt er wieder in das Hauptkabinett zurück. Wem das inhaltsschwere Blatt übergeben? Furchtbare Ironie: gerade dem, der es ihm in die Feder gezwungen und nun unbeweglich wartend steht wie Hermes, der unerbittliche Bote. Ohne ein Wort reicht der Kaiser es ihm hin. Ohne ein Wort nimmt Fouché die schwer erkämpfte Urkunde und verbeugt sich. Dies aber war seine letzte Verbeugung vor Napoleon.


In der Sitzung der Kammer hat Fouché, der Herzog von Otranto, gefehlt: Jetzt, da der Sieg entschieden ist, tritt er ein und langsam die Stufen empor, das welthistorische Blatt in der Hand. Sie mag ihm gebebt haben vor Stolz, die schmale, harte Intrigantenhand, in dieser Minute, denn er hat gesiegt, zum zweitenmal über den stärksten Mann Frankreichs, und dieser 22. Juni heißt für ihn abermals 9. Thermidor. In ein erschüttertes Schweigen spricht er, selber kalt und unbewegt, ein paar Abschiedsworte für seinen einstigen Herrn, Papierblumen auf ein frisch geschaufeltes Grab. Dann aber keine Sentimentalitäten mehr! Man hat diesem Riesen nicht die Macht aus der Faust geschlagen, um sie lose zu Boden kollern zu lassen, jedem Geschickten zur Beute. Jetzt gilt es, selber zuzufassen, die Minute zu nützen, die seit Jahren ersehnte. So stellt er den Antrag, sofort eine provisorische Regierung, ein Direktorium von fünf Männern zu wählen, im voraus gewiß, jetzt endlich selbst gewählt zu werden. Jedoch noch einmal droht ihm die solange ersehnte Selbständigkeit aus der Hand zu gleiten; zwar gelingt es, bei der Wahl dem gefährlichsten Konkurrenten Lafayette, der ihm eben mit seinem Geradsinn und seiner republikanischen Überzeugung so treffliche Sturmbockdienste geleistet hat, auf heimtückische Weise ein Bein zu stellen; jedoch im ersten Wahlgang erhält Carnot 324 Stimmen, er selbst, Fouché, nur 293, so daß der Vorsitz der neuen provisorischen Regierung unzweifelhaft Carnot zufällt.


Aber in diesem entscheidenden Augenblick, knapp einen Zoll vor dem Ziele, schlägt Fouché, der gerissene Glücksspieler, noch einmal die bezauberndste und infamste seiner Volten. Nach diesen Wahlziffern gehört der Vorsitz selbstverständlich Carnot, und er, Fouché, wäre wie immer auch in dieser Regierung nur der Zweite, während er endlich der Erste sein will, der unumschränkte Gebieter. So greift er zu einer raffinierten List: kaum daß sich der Rat der Fünf versammelt hat und Carnot den ihm gebührenden Präsidentschaftsfauteuil einnehmen will, schlägt Fouché wie etwas Selbstverständliches den Kollegen vor, sich zu konstituieren. »Was verstehen Sie unter Konstituieren?« fragt ganz erstaunt Carnot. »Nun«, antwortet der naive Fouché, »unseren Schriftführer und Präsidenten wählen.« Und fügt mit falscher Bescheidenheit gleich hinzu: »Ich gebe Ihnen selbstverständlich meine Stimme für den Präsidentenplatz.« Carnot läßt sich übertölpeln und antwortet höflich: »Und ich Ihnen die meine.« Aber zwei der Mitglieder sind im geheimen schon für Fouché gewonnen, so hat er drei Stimmen gegen zwei und sitzt, ehe Carnot noch begreifen kann, wie sehr er genarrt wurde, auf dem Präsidentenstuhl. Nach Napoleon und Lafayette ist glücklich nun auch Carnot überspielt, der populärste Mann, und statt seiner der gerissenste, nämlich Joseph Fouché, Herr der Geschicke Frankreichs. Innerhalb von fünf Tagen, vom 13. bis 18. Juni, hat der Kaiser die Macht verloren, in fünf Tagen, vom 17. bis 22. Juni, hat Joseph Fouché sie an sich gerissen, endlich nicht Diener mehr, zum erstenmal unbeschränkter Herr Frankreichs, frei, göttlich frei für das geliebte und verwirrende Spiel der Weltpolitik.


Erste Maßnahme nun: Weg mit dem Kaiser! Selbst der Schatten eines Napoleon erdrückt einen Fouché, und genau wie Napoleon als Herrscher sich nicht wohlfühlte, solange er diesen unberechenbaren Fouché in Paris wußte, so fühlt Fouché nicht den Atem frei, wenn nicht zwischen ihm und dem grauen Mantel ein paar tausend Meilen liegen. Ihn persönlich noch zu sprechen, vermeidet er – wozu Sentimentalitäten? –; nur Diktate schickt er ihm hinüber, dünn noch mit einem Rosapapier von Wohlwollen umkleidet. Aber auch diese matte, höfliche Verhüllung reißt er bald ab und zeigt mitleidslos dem Gestürzten seine Machtlosigkeit. Eine pathetische Proklamation, die Napoleon an seine Armee zum Abschied richtet, wirft er glatt unter den Tisch, und vergebens und verblüfft sucht am nächsten Morgen Napoleon seine kaiserlichen Worte im »Moniteur«. Fouché hat ihr Erscheinen verboten. Fouché verbietet dem Kaiser! Noch kann er nicht an die grenzenlose Verwegenheit glauben, mit der sein einstiger Diener sich über ihn hinwegsetzt, aber mit einer zwingenden Nachdrücklichkeit wird er von Stunde zu Stunde von dieser harten Faust gepufft, bis er schließlich nach Malmaison übersiedelt. Doch dort bleibt er sitzen und stemmt sich. Er will nicht weiter, obwohl schon die Dragoner der Armee Blücher heranrücken, obwohl ihn von Stunde zu Stunde Fouché immer grimmiger mahnen läßt, er solle doch endlich Vernunft annehmen und verschwinden. Aber immer krampfhafter, je mehr er sich stürzen fühlt, klammert sich Napoleon an die Macht. Und schließlich, während die Reisekutsche im Hof schon bereit steht, fällt ihm noch eine großartige Geste ein; er erbietet sich, er, der Kaiser, als einfacher General an die Spitze der Truppen zu treten, um wieder einmal zu siegen oder zu sterben. Aber Fouché, der Nüchterne, nimmt derlei romantische Offerte nicht ernst: »Treibt dieser Mensch seinen Spott mit uns?« ruft er zornig aus. »Seine Gegenwart an der Spitze der Armee wäre nur eine neue Herausforderung für Europa, und der Charakter Napoleons gestattet nicht, ihm irgendeine Gleichgültigkeit gegen die Macht zuzutrauen.«


Er schnauzt den General an, wie er die Kühnheit haben könne, solche Botschaften überhaupt zu bestellen, statt den Kaiser zu expedieren, und befiehlt ihm, sofort die Abreise des Lästigen durchzuführen. Napoleon selbst würdigt er überhaupt keiner Antwort. Besiegte sind für Fouché keine Unze Tinte wert.


Nun ist er frei, nun ist er am Ziel: nach der Erledigung Napoleons steht in seinem sechsundfünfzigsten Jahre Joseph Fouché, der Herzog von Otranto, endlich allein und unbeschränkt auf dem Gipfel der Macht. Unendlicher Irrweg durch das Labyrinth eines Vierteljahrhunderts: vom kleinen, blassen Kaufmannssohn zum tristen, tonsurierten Priesterlehrer, dann empor zum Volkstribunen und Prokonsul, schließlich zum Herzog von Otranto, Diener eines Kaisers, und nun endlich niemandes Diener mehr, endlich Alleingebieter in Frankreich. Die Intrige hat triumphiert über die Idee, das Geschick über das Genie. Eine Generation Unsterblicher rings um ihn ist zur Tiefe gestürzt: Mirabeau tot, Marat ermordet, Robespierre, Desmoulins, Danton guillotiniert, sein Mitkonsul Collot verbannt auf die Fieberinsel von Guayana, Lafayette erledigt, alle, alle dahin und verschwunden, seine Kameraden aus der Revolution. Während er nun in Frankreich entscheidet, frei gewählt vom Vertrauen aller Parteien, flüchtet Napoleon, der Herr der Welt, in ärmlicher Verkleidung, mit falschem Paß als Sekretär eines kleinen Generals an die Küste; Murat und Ney erwarten ihre Füsilierung, die kleinen Familienkönige von Napoleons Gnaden irren mit leeren Taschen und ohne Land von Versteck zu Versteck. Die ganze ruhmreiche Generation dieser einzigen Weltwende ist gesunken, nur er allein aufgestiegen dank seiner beharrlichen, im Dunkeln planenden, unterirdisch wühlenden Geduld. Wie Wachs schmiegen sich jetzt das Ministerium, der Senat und die Volksversammlung seiner meisterlichen Hand, die sonst so herrischen Generale, zitternd um ihre Pensionen, lammfromm ordnen sie sich dem neuen Präsidenten unter; Bürgerschaft und Volk eines ganzen Landes warten auf seine Entscheidung. Ludwig XVIII. sendet ihm Boten, Talleyrand seine Grüße, Wellington, der Sieger von Waterloo, vertrauliche Mitteilung – zum erstenmal laufen die Fäden des Weltgeschicks herrlich offen und frei durch seine Hand. Unermeßliche Aufgabe wartet seiner: ein zerschlagenes, besiegtes Land zu schützen vor den heranmarschierenden Feinden, nutzlosen pathetischen Widerstand zu verhindern, billige Bedingungen zu erlangen, die richtige Staatsform, den rechten Herrscher zu finden, aus dem Chaos neue Norm, eine dauernde Ordnung zu schaffen. Das erfordert Meisterschaft, eine äußerste Behendigkeit des Geistes, und tatsächlich, in dieser Stunde, wo alle verwirrt die Fassung verlieren, zeigen Fouchés Maßnahmen höchste Energie, seine doppelten und viergleisigen Pläne eine erstaunliche Sicherheit. Mit allen ist er Freund, um alle zu narren und nur einzig das zu tun, was ihm persönlich richtig und nützlich dünkt. Obwohl er vor dem Parlament den Sohn Napoleons zu fordern scheint, vor Carnot die Republik, vor den Verbündeten den Herzog von Orleans, schiebt er doch leise das Steuer dem früheren König Ludwig XVIII. entgegen. Ganz unmerklich, mit leisen, geschickten Wendungen, und ohne daß seine nächsten Kameraden die eigentliche Zielrichtung gewahren, paddelt er durch einen Sumpf von Bestechungen zu den Royalisten hinüber und verhandelt die ihm anvertraute Regierung an die Bourbonen, während er im Ministerrat und in der Kammer noch unentwegt den Bonapartisten und Republikaner spielt. Psychologisch gesehen, war seine Lösung die einzig richtige. Nur rasche Kapitulation vor dem König kann dem ausgebluteten, zerstörten, von fremden Truppen überfluteten Frankreich Schonung sichern, einen reibungslosen Übergang. Fouché allein begreift mit seinem Wirklichkeitssinn sofort diese Notwendigkeit und verwirklicht sie gegen den Widerstand des Rates, des Volkes, der Armee, der Kammer und des Senats aus eigenem Willen und aus eigener Kraft.


Aber alle Klugheit besitzt Fouché in diesen Tagen, nur eine – dies seine Tragik! –, die letzte, die höchste, die reinste nicht: sich selbst, seinen Vorteil um der Sache willen zu vergessen. Jene letzte, die ihm gebieten würde, nach dieser Meisterleistung zu entsagen, sechsundfünfzig Jahre alt, auf der Höhe des Erfolges, zehn- oder zwanzigfacher Millionär, geachtet und geehrt von seiner Zeit und der Geschichte. Aber wer zwanzig Jahre gelechzt nach der Macht, wer zwanzig Jahre von ihr gelebt und doch sich nicht satt gegessen, der wird unfähig, zu entsagen – genau wie Napoleon, vermag Fouché nicht eine Minute früher abzudanken, ehe er nicht gestoßen wird. Und da er jetzt keinen Herrn zu verraten hat, bleibt ihm nichts, als sich selbst zu verraten, seine eigene Vergangenheit. Das besiegte Frankreich jetzt seinem alten Herrscher zurückzugeben, war in diesem Augenblick eine wirkliche Tat gewesen, richtige und kühne Politik. Aber diese Entscheidung sich bezahlen zu lassen mit dem Trinkgeld eines königlichen Ministerpostens, das war Niedertracht und mehr als ein Verbrechen: eine Dummheit. Und diese Dummheit begeht jetzt der tollwütig Ehrgeizige, nur um noch ein paar Weltstunden »avoir la main dans la pâte«, die Finger im Brei zu haben – seine erste Dummheit und seine größte, jene untilgbare, die ihn für immer erniedrigt vor der Geschichte. Tausend Stufen ist er geschickt, geschmeidig, geduldig emporgestiegen: und mit einem einzigen ungeschickten, unnötigen Kniefall stürzt er sie alle hinab.


Wie dieser Verkauf der Regierung an Ludwig den Achtzehnten gegen das Entgelt eines Ministerpostens zustande kommt, dafür besitzen wir glücklicherweise ein charakteristisches Dokument, eines der wenigen, das eine diplomatische Unterredung des sonst vorsichtigen Fouché wortwörtlich aufzeichnet. Während der hundert Tage hatte ein einziger entschlossener Königsanhänger, der Baron von Vitrolles in Toulouse, eine Armee zusammengebracht und den wiedergekehrten Napoleon bekämpft. Gefangen genommen und nach Paris gebracht, wollte der Kaiser ihn sofort erschießen lassen, aber Fouché hatte sich eingemengt; er war immer für Schonung, besonders gegen Feinde, die man allenfalls noch brauchen konnte. So hatte man sich begnügt, bis zur Erledigung des kriegsgerichtlichen Verfahrens den Baron Vitrolles im Militärgefängnis einzusperren. Aber kaum hört am 23. Juni die Frau des Gefährdeten, daß Fouché Gebieter Frankreichs geworden ist, so eilt sie schon zu ihm, Vitrolles Freilassung zu erbitten, die Fouché sofort gewährt, denn ihm ist viel daran gelegen, sich bei den Bourbonen einen Stein ins Brett zu schieben. Am nächsten Tage erscheint schon der Baron Vitrolles, der befreite Royalistenführer, bei dem Herzog von Otranto, um sich zu bedanken.


Nun ergibt sich folgendes politisch freundschaftliche Gespräch zwischen dem republikanisch gewählten Oberhaupt und dem geschworenen Erzroyalisten. Fouché sagt zu ihm: »Nun, was denken Sie jetzt zu tun?« – »Ich beabsichtige, mich nach Gent zu begeben, mein Postwagen wartet vor dem Tor.« – »Das ist das Klügste, was Sie tun können, denn hier sind Sie nicht in Sicherheit.« – »Haben Sie mir nichts für den König mitzugeben?« – »Ach, mein Gott, nein. Gar nichts. Sagen Sie, bitte, nur Seiner Majestät, Sie möge auf meine Ergebenheit zählen und daß es leider nicht von mir abhängt, daß Er bald wieder in die Tuilerien einziehe.« – »Aber ich glaube, es hängt doch nur einzig von Ihnen ab, daß dies bald geschieht.« – »Weniger, als Sie denken. Die Schwierigkeiten sind groß. Allerdings hat die Kammer die Situation vereinfacht. Sie wissen ja«, (und dabei lächelt Fouché) »daß sie Napoleon den Zweiten proklamierte.« – »Wie, Napoleon den Zweiten?« – »Natürlich, damit mußte man beginnen.« – »Aber ich vermute, das ist doch nicht ernst zu nehmen?« – »Das kann man wohl sagen. Je mehr ich darüber nachdenke, um so mehr bin ich überzeugt, daß diese Ernennung ganz sinnlos ist. Aber Sie können sich ja nicht vorstellen, wie viele Leute noch diesem Namen anhängen. Einige meiner Kollegen, vor allem Carnot, sind überzeugt, daß mit Napoleon dem Zweiten alles gerettet sei.« – »Und wie lange soll dieser Spaß dauern?« – »Wahrscheinlich soviel Zeit, wie uns nottut, um uns von Napoleon dem Ersten zu befreien.« – »Und dann, was soll dann geschehen?« – »Wie soll ich das wissen? In Augenblicken wie diesen, ist es schwer, für den nächsten Tag vorauszusehen.« – »Aber wenn Herr Carnot, Ihr Kollege, so sehr an Napoleon hängt, wird es Ihnen vielleicht doch schwerfallen, dieser Kombination auszuweichen.« – »Bah, Sie kennen Carnot nicht! Es genügt, um ihn davon abzubringen, die Regierung des ›französischen Volkes‹ auszurufen. Französisches Volk, wenn er das hört, denken Sie einmal!« – Und nun lachen alle beide, der republikanisch gewählte Herzog von Otranto, der seinen Kollegen ausspottet, und der royalistische Sendling. Sie beginnen einander bereits zu verstehen. »So ist es recht, so wirds schon gehen«, nimmt Herr Baron Vitrolles das Gespräch wieder auf, »aber ich hoffe, nach Napoleon dem Zweiten und dem französischen Volk’ werden Sie endlich an die Bourbonen denken.«– »Selbstverständlich«, antwortet Fouché, »dann kommt die Reihe an den Herzog von Orleans.« – »Wie, den Herzog von Orleans?« ruft der Baron Vitrolles überrascht aus, »den Herzog von Orleans? Glauben Sie denn, daß der König jemals eine so ausgebotene und an alle Welt verhandelte Krone annehmen wird?« Fouché schweigt nur und lächelt. Aber der Baron de Vitrolles hat bereits verstanden. Mit diesem hinterhältig ironischen, scheinbar lässigen Gespräch hat ihm Fouché seine Absichten gezeigt. Er hat ihn deutlich fühlen lassen, daß, wenn er will, Schwierigkeiten vorhanden sind, daß man statt des Königs Ludwig des Achtzehnten auch Napoleon den Zweiten oder das französische Volk oder den Herzog von Orleans proklamieren könnte, daß er, Fouchée, aber persönlich an keiner dieser Möglichkeiten sonderlich hängt und ruhig bereit ist, sie alle drei zugunsten Ludwigs XVIII. auszuschalten, wenn… Dieses Wenn ist nicht ausgesprochen, aber Baron de Vitrolles hat es bereits verstanden, vielleicht an einem Lächeln im Blick, vielleicht an einer Geste. Jedenfalls entschließt er sich plötzlich, seine Reise aufzugeben und in Paris bei Fouché zu bleiben, freilich unter der Bedingung, daß er frei mit dem König korrespondieren könne. Er stellt seine Bedingungen: zunächst fünfundzwanzig Pässe für seine Agenten nach Gent ins Hauptquartier des Königs. »Fünfzig, hundert, so viele Sie wollen«, antwortet der heiter gelaunte republikanische Polizeiminister dem Vertreter der Gegner der Republik. »Und dann bitte ich, Sie jeden Tag einmal sprechen zu dürfen.« Wieder antwortet heiter der Herzog: »Einmal, das ist nicht genug! Zweimal, einmal morgens, einmal abends.« Nun kann der Baron von Vitrolles ruhig in Paris bleiben und unter dem Schutz des Herzogs von Otranto mit dem König verhandeln und ihm mitteilen, daß ihm die Tore von Paris offenstehen, wenn… ja eben, wenn Ludwig XVIII. bereit ist, den Herzog von Otranto als Minister in der neuen königlichen Regierung in Kauf zu nehmen.


Als man Ludwig dem Achtzehnten vorschlägt, sich die Tore von Paris durch Fouché gegen das Trinkgeld eines Ministerpostens bequem öffnen zu lassen, schäumt der sonst dickblütige Bourbone auf. »Niemals!«, schreit er die ersten an, die diesen verhaßten Namen auf die Liste setzen wollen. Und wirklich, welch absurde Zumutung, sich einen Königsmörder, einen von denen, die das Todesurteil seines eigenen Bruders unterzeichnet haben, einen abgesprungenen Priester, wütenden Atheisten und Napoleonsdiener ins Haus zu nehmen! »Niemals!« schreit er entrüstet. Aber man kennt diese Niemals der Könige, der Politiker und Generale aus der Geschichte, sie sind fast immer der Auftakt einer Kapitulation. Ist Paris nicht eine Messe wert? Haben seit Heinrich dem Vierten die Könige, seine Ahnen, nicht ähnliche sacrifici dell’ inteletto, solche Opfer im Geiste und im Gewissen um der Herrschaft willen gemacht? Von allen Seiten gedrängt, von den Höflingen, den Generalen, von Wellington und vor allem von Talleyrand (der als verheirateter Bischof an diesem Hofe noch eine schwärzere Folie braucht), wird Ludwig XVIII. allmählich schwankend. Sie alle versichern ihm, nur ein Mann könne ihm ohne Widerstand die Tore von Paris öffnen: nur Fouché! Nur er, der Mann aller Parteien und Gesinnungen, der beste, der ewige Steigbügelhalter aller Kronprätendenten, würde Blutvergießen ersparen. Und dann: der alte Jakobiner sei längst braver Konservativer geworden, er habe bereut und Napoleon trefflich verraten. Schließlich legt der König, um sein Gewissen zu entlasten – »Armer Bruder, könntest du mich jetzt sehen!« soll er ausgerufen haben –, die Beichte ab und erklärt sich bereit, Fouché heimlich in Neuilly zu empfangen – heimlich, denn in Paris darf ja niemand ahnen, daß für einen Ministerposten ein erwählter Führer des Volks sein Land und ein Kronprätendent für einen Königsreif seine Ehre verkauft: im Dunkel, nur den aufgesprungenen Bischof als Zeugen, wird dieses schamloseste Geschäft der neueren Geschichte zwischen dem Exjakobiner und dem Nochnichtkönig heimlich zu Ende gebracht.


Dort in Neuilly ereignet sich jene unheimliche und phantastische Szene, eines Shakespeare würdig oder eines Aretino: der König Ludwig der Achtzehnte, Abkömmling Ludwigs des Heiligen, empfängt den Mitmörder seines Bruders, den siebenfachen Eidbrecher Fouché, den Minister des Konvents, des Kaisers und der Republik, um ihm den Eid abzunehmen, den achten Treueid. Und Talleyrand, einstmaliger Bischof, dann Republikaner, dann Diener des Kaisers, führt seinen Kumpan herein. Der Hinkende legt, um besser auszuschreiten, seinen Arm auf die Schulter Fouchés – »das Laster, gestützt auf den Verrat«, wie Chateaubriand höhnisch vermerkt –, und so nähern sich die beiden Atheisten, Opportunisten brüderlich dem Erben Ludwigs des Heiligen. Tiefe Verbeugung vorerst. Dann übernimmt Talleyrand die peinliche Pflicht, dem König den Mörder seines Bruders als Minister vorzuschlagen. Noch blasser ist der hagere Mann als gewöhnlich, da er jetzt vor dem »Tyrannen«, dem »Despoten« das Knie beugt zum Eid und die Hand küßt mit dem gleichen Blut, das er vergießen half, da er den Eid schwört im Namen desselben Gottes, dessen Kirchen er geplündert und mit seinen Horden in Lyon geschändet. Immerhin ein starkes Stück, selbst für einen Fouché! Darum auch blickt er immer noch blaß, der Herzog von Otranto, wie er das Audienzzimmer des Königs verläßt; jetzt ist es eher der Hinkefuß Talleyrand, der ihn stützen muß. Er spricht kein Wort. Auch die ironischen Bemerkungen dieses abgebrühten Zynikerbischofs, der eine Messe las, wie er Karten spielt, können ihn nicht aus diesem betroffenen Schweigen herauslocken. Nachts fährt er, das unterschriebene Ministerdekret in der Tasche, zurück nach Paris zu den ahnungslosen Kollegen in den Tuilerien, die er morgen alle hinauswerfen und übermorgen in die Acht erklären wird: es dürfte ihm einigermaßen unbehaglich zumute sein in ihrer Mitte. Einmal war dieser ungetreueste Diener frei gewesen, aber – wunderbares Widerspiel des Geschicks! – niemals können subalterne Seelen die Freiheit ertragen, zwanghaft flüchten sie aus ihr immer wieder in neue Knechtschaft zurück. Und so erniedrigt sich Fouché, gestern noch stark und selbstherrlich, abermals einem Herrn, abermals kettet er seine freien Hände an die Galeere der Macht (und vermeint, sie sei die Ruderbank des Geschickes). Aber bald wird er auch das Abzeichen der Galeere, das Brandmal, tragen.


Am nächsten Morgen rücken die Truppen der Verbündeten ein. Der geheimen Abrede gemäß besetzen sie die Tuilerien und sperren den Abgeordneten einfach die Türen zu. Das gibt dem scheinbar überraschten Fouché willkommenen Anlaß, seinen Kollegen vorzuschlagen, als Protest gegen die Bajonette die Regierung niederzulegen. Die Genarrten fallen auf die pathetische Geste hinein – so ist, wie verabredet, der Thronsessel plötzlich leer, es gibt einen Tag lang keine Regierung in Paris. Und Ludwig XVIII. braucht nur unter dem von seinem neuen Polizeiminister mit Geld arrangierten Jubel sich den Toren zu nähern, und er wird begeistert als Retter empfangen: Frankreich ist wieder Königreich.


Jetzt erst begreifen die Kollegen Fouchés, wie raffiniert er sie überspielt. Jetzt, aus dem »Moniteur«, erfahren sie auch den Kaufpreis für Fouché. In diesem Augenblick bricht in dem anständigen, gesinnungstüchtigen, unantastbaren (nur ein wenig bornierten) Carnot die Wut hoch. »Wohin habe ich mich jetzt zu begeben, Verräter?« herrscht er verächtlich den neugebackenen royalistischen Polizeiminister an.


Aber ebenso verächtlich antwortet Fouché: »Wohin du willst, Dummkopf.«


Und mit diesem lakonischen Charakterdialog der beiden alten Jakobiner, der letzten des 9. Thermidor, endet das erstaunlichste Drama der Neuzeit, die Revolution und ihre funkelnde Phantasmagorie: der Napoleonszug durch die Weltgeschichte. Die Epoche der heroischen Abenteuer ist verloschen, Bürgerzeit beginnt.

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Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.