Die Toten behalten unrecht


Ungestüm versammelt sich die Menge am Strande von Sevilla, um (wie Oviedo schreibt) »dieses einzige und hochberühmte Schiff zu bestaunen, dessen Fahrt die wunderbarste Sache und das größte Geschehnis darstellte, das jemals gesehen ward, seit Gott den ersten Menschen und die Welt geschaffen«. Erschüttert starren die Bürger, wie die achtzehn Männer die »Victoria« verlassen, wie sie, wandernde, wankende Skelette, einer nach dem andern schwanken Schritts das Land betreten, wie schwach, wie ausgemergelt, wie müde, wie krank, wie erschöpft sie vorwärtstaumeln, diese namenlosen Helden, jeder gealtert um ein Jahrzehnt in jenen drei unendlichen Jahren. Jubel und Mitleid umfängt sie zugleich: man bietet ihnen Zehrung, man lädt sie in die Häuser, man drängt sie, zu erzählen, zu erzählen, zu erzählen von ihren Abenteuern und Leiden. Aber die Heimgekehrten lehnen ab. Später, später dies alles! Jetzt nur die erste Pflicht erfüllen, das Gelöbnis einlösen, das sie in höchster Todesnot geleistet: den Bußgang zur Kirche Santa Maria de la Victoria und Santa Maria Antigua! Ehrfürchtig schweigend bildet das Volk frommes Spalier, um zuzusehen, wie diese achtzehn Übriggebliebenen barfuß und im weißen Sterbehemde, jeder eine brennende Kerze in der Hand, der Kirche zuschreiten, um Gott an der Stelle, wo sie Abschied genommen, für die unverhoffte Gnade zu danken, daß er sie aus solcher Bedrängnis errettet und heimkehren ließ in die Heimat. Wieder braust die Orgel, wieder hebt der Priester im Dunkel der Kathedrale über die Hingeknieten die Monstranz wie eine kleine strahlende Sonne. Nachdem sie dem Allmächtigen und seinen Heiligen Dank für die eigene Rettung gesagt, sprechen die Matrosen vielleicht auch noch ein Totengebet für alle die Brüder und Kameraden, mit denen sie hier vor drei Jahren gemeinsam hinknieten im Gebet. Denn wo sind sie, die damals aufblickten zu Magellan, ihrem Admiral, da er die damastene Fahne entfaltete, vom König ihm verliehen und vom Priester gesegnet? Ertrunken im Meer, ermordet von den Indios, verhungert, verdurstet, verschollen oder gefangen. Nur sie allein, nur sie hat das Schicksal in unerforschlicher Wahl auserlesen zum Triumph, nur sie gesegnet. Und so sprechen die Achtzehn mit leisen und zuckenden Lippen gemeinsam das Totengebet für den gefallenen Führer und die zweihundert Toten der Armada.


Mit feurigen Schwingen stürmt unterdes die Nachricht ihrer glücklichen Heimkehr über ganz Europa hin, zuerst maßloses Staunen erweckend und dann maßlose Bewunderung. Seit der Fahrt des Columbus hat kein Ereignis ähnlich die zeitgenössische Welt begeistert. Nun ist alle Unsicherheit zu Ende. Der Zweifel, dieser grimmigste Feind alles menschlichen Wissens, ist im geographischen Felde besiegt. Seit ein Schiff vom Hafen von Sevilla ausfuhr und in gerader Fahrt wieder in den Hafen von Sevilla zurückkehrte, ist unwiderleglich bewiesen, daß die Erde ein runder rotierender Ball ist und ein einziges verbundenes Meer alle Meere. Endgültig ist die Kosmographie der Griechen und Römer überflügelt, ein für allemal der Einspruch der Kirche und die einfältige Fabel von den Antipoden, die auf den Köpfen gehen, abgetan. Festgestellt ist für alle Zeiten die Weite des Erdumfangs, und damit endlich gewisses Maß des irdischen Kosmos gewonnen; noch können, noch werden andere kühne Entdecker manche Einzelheit im Erdbild ergänzen, aber die Grundform ist durch Magellan gegeben, unverändert bis auf den heutigen Tag und alle kommenden Tage. Ein abgegrenztes Revier ist nun die Erde, und die Menschheit hat es sich erobert. Glorreich erhebt sich mit diesem historischen Tage der Stolz der spanischen Nation. Unter ihrer Flagge hat Columbus das Werk der Weltentdeckung begonnen, unter ihrer Flagge Magellan es vollendet: ein einziges Vierteljahrhundert hat die Menschheit mehr über ihre Wohnstatt gelehrt als tausende und tausende Jahre vorher. Und unbewußt fühlt die Generation, die beglückt und berauscht diese Wandlung im Raum eines einzigen Lebensalters miterlebt: eine neue Zeit, die Neuzeit, hat begonnen.


Allgemein ist die Begeisterung über die große geistige Errungenschaft dieser Reise. Sogar die kommerziellen Unternehmer, welche die Flotte ausgerüstet haben, die Casa de Contratacion und Christopher de Haro, können guter Laune sein. Schon hatten sie die acht Millionen Maravedis, welche für die fünf Schiffe ausgelegt worden waren, in den Rauchfang geschrieben, und nun plötzlich löst dies eine heimgekehrte Schiff nicht nur alle Rechnungen ein, sondern bringt noch unvermuteten Überschuß. Die fünfhundertzwanzig »Quintals« (ungefähr sechsundzwanzig Tonnen) Gewürze, welche die »Victoria« von den Molukken heimgebracht, ergeben einen blanken Gewinn von etwa fünfhundert Golddukaten über die Kosten; die eine Schiffsladung hat voll den Verlust der vier andern Schiffe entschädigt – eine Rechnung freilich, in welcher der Verlust von zweihundert Menschenleben mit Null eingesetzt ist.


Nur ein Dutzend Männer im ganzen Weltall fühlen das Herz plötzlich vor Schrecken stocken, da sie die Nachricht vernehmen, ein Schiff von Magellans Armada habe die Welt umrundet und sei glücklich heimgekehrt. Es sind die meuterischen Kapitäne und ihr Pilot, die mit dem »San Antonio« desertiert und ein Jahr früher in Sevilla gelandet waren; wie Totengeläut klingt ihnen die freudige Botschaft in die Ohren. Längst hatten sie sich schon in der Hoffnung gewiegt, niemals werde dieser gefährliche Zeuge und Ankläger nach Spanien zurückkehren, offen hatten sie im Gerichtsprotokoll den kühnen Argonauten den Totenschein ausgestellt (»al juicio y parecer que han venido no volverê a Castilla el dielo Magellanes«). Mit solcher Sicherheit hatten sie angenommen, Schiffe und Mannschaften faulten längst auf dem Grunde des Ozeans, daß sie sich ihrer Rebellion unbekümmert als eines patriotischen Akts vor der königlichen Untersuchungskommission rühmten und sorgfältig dabei verschwiegen, daß Magellan die Durchfahrt in dem kritischen Augenblick schon gefunden hatte, da sie ihn verließen. Nur von einer »Bucht« erzählten sie etwas, in die sie eingefahren wären (»entraron in una bahia«), und daß der von Magellan gesuchte Weg zwecklos und ohne Vorteil sei (»inutil e sin prorecho«). Um so gründlicher klagen sie aber den Abwesenden an. Er habe die Vertrauensleute des Königs heimtückisch ermordet, um die Flotte den Portugiesen in die Hände zu spielen, und ihr eigenes Schiff hätten sie nur retten können, indem sie sich des eingeschmuggelten Vetters Mesquita bemächtigten.


Ganz hatte das königliche Gericht der Aussage der Meuterer freilich nicht Glauben geschenkt und mit anerkennenswerter Unparteilichkeit beide Teile für verdächtig erklärt. Sowohl die meuterischen Kapitäne und Piloten als auch der getreue Mesquita wurden gefangengesetzt, gleichzeitig aber auch der Frau Magellans – noch wußte sie nicht, daß sie seine Witwe war – verboten, die Stadt zu verlassen. Man solle abwarten, hatte das königliche Gericht beschlossen, bis die andern Schiffe und der Admiral als Zeugen zurückkehrten; als aber ein Jahr verging und fast ein zweites ohne Botschaft von Magellan, war den Meuterern das Herz wieder fest geworden. Doch mörderisch donnern die Salutschüsse, welche die Heimkehr eines Magellanschiffs melden, ihnen nun ins Gewissen. Jetzt sind sie verloren. Magellan ist seine Tat gelungen, fürchterlich wird er Rache nehmen an jenen, die gegen Eid und Seerecht ihn feige verlassen und seinen Kapitän meuterisch in Fesseln gelegt.


Welches Aufatmen aber dann, da sie erfahren, Magellan sei tot. Der Hauptankläger ist stumm. Und noch sicherer fühlen sie sich, sobald sie vernehmen, del Cano habe die »Victoria« heimgeführt. Del Cano – das ist ja ihr Komplice, ihr Mitmeuterer gewesen in jener Nacht von Port San Julian! Ach, der wird, der kann sie nicht anklagen eines Vergehens, das er selber begangen. Nicht gegen sie, nur für sie wird er Zeugenschaft leisten. Gesegnet darum Magellans Tod, gesegnet del Canos Zeugenschaft! Und sie behalten recht; zwar wird Mesquita aus dem Kerker entlassen und sogar entschädigt. Aber sie selbst gehen dank del Canos Hilfe straflos aus, und ihre Revolte bleibt vergessen in der allgemeinen Freude; immer behalten die Lebenden recht gegen die Toten.


Unterdes hat der Eilbote del Canos die Nachricht der glücklichen Heimkehr in das Schloß von Valladolid gebracht. Kaiser Karl ist eben aus Deutschland zurückgekehrt; von einem welthistorischen Augenblick schreitet er jetzt zum andern. Auf dem Reichstag zu Worms hat er mitangesehen, wie durch Luthers entschlossene Hand die geistige Einheit der Kirche für immer zerrissen wurde; hier erfährt er, daß gleichzeitig ein anderer Mann das Weltbild neu umgeschaffen und mit dem Opfer seines Lebens die räumliche Einheit der Ozeane erwiesen. Ungeduldig, mehr von der ruhmreichen Tat zu erfahren – denn an dieser Tat hat er persönlich mitgewirkt und sie ist vielleicht der vollkommenste, der dauerhafteste Triumph, den er erlebt –, sendet der Kaiser noch am gleichen Tage, am 13. September, an del Cano den Befehl, eiligst mit zwei seiner bewährtesten und intelligentesten Leute (»las mas cuerdas y de mejor razon«) zu Hofe zu kommen und ihm alle Schriften mitzubringen, die sich auf die Reise bezögen.


Die beiden Leute, die Sebastian del Cano nach Valladolid mitnimmt, dürften tatsächlich die bewährtesten, nämlich Pigafetta und der Pilot Alvaro, gewesen sein; dunkler dagegen erscheint del Canos Verhalten gegenüber dem andern Wunsch des Kaisers, ihm alle Papiere der Flotte einzuhändigen. Ein gewisser Verdacht beschattet hier seine menschliche Haltung, denn nicht eine einzige Zeile von Magellans Hand hat del Cano übermittelt (das einzige von Magellan gefertigte Dokument während der Fahrt dankt seine Erhaltung dem Umstand, daß es mit der »Trinidad« in die Hände der Portugiesen fiel). Nun kann man kaum ernstlich bezweifeln, daß Magellan, dieser exakte, pflichtfanatische Mann, im Bewußtsein der Wichtigkeit seiner Mission ein regelmäßiges Tagebuch geführt hat; nur eine eifersüchtige Hand kann es heimlich vernichtet haben. Wahrscheinlich schien es doch all jenen, die sich während der Reise gegen ihren Führer aufgelehnt hatten, allzu gefährlich, daß der Kaiser unparteiische Kunde von jenen üblen Vorgängen erhalten könne; so verschwindet mysteriös nach Magellans Tode jede Zeile von seiner Hand, und nicht minder merkwürdig verliert sich jenes große Tagebuch, das Pigafetta geführt und dessen eigenhändiges Original er dem Kaiser bei diesem Anlaß persönlich übergeben (»Fra le altre cose li detti uno libro, scritto de mia mano, de tutte le cose passate de giorno in giorno nel viaggio nostro«). Denn dieses Originaltagebuch kann auf keinen Fall mit der späteren, uns bekannten Reisebeschreibung identisch gewesen sein, die sichtbar nur einen zusammenfassenden Auszug jenes Diariums bildet, und daß es sich tatsächlich um zwei verschiedene Bücher handelt, beweist der Bericht des mantuanischen Botschafters, der am 21. Oktober ausdrücklich von einem Tag für Tag geführten Buch Pigafettas berichtet (»libro molto bello che de zorno in zorno li e scritto el viagio e paese che anno ricercato«), um dann drei Wochen später bloß einen kurzen Auszug daraus zu versprechen (»un breve extracto o summario del libro che hano portato quelli de le Indie«) – also genau das, was wir als Pigafettas Bericht heute kennen, der nur unzulänglich durch die Aufzeichnungen der verschiedenen Piloten sowie den Brief Peter Martyrs und Maximilian Transsylvanus’ ergänzt wird. Aus welchen Gründen dies eigenhändige Tagebuch Pigafettas so spurlos verschwunden ist, können wir nur vermuten; offenbar sollte nachträglich alles abgedunkelt werden, was über den Widerstand der spanischen Offiziere gegen den Portugiesen Magellan berichtete, um den Triumph del Canos, des baskischen Edelmanns, heller ins Licht zu setzen. Auch hier hat wie so oft in der Geschichte nationale Eitelkeit über die Gerechtigkeit obgesiegt.


Dieses bewußte In-den-Hintergrund-Stellen Magellans scheint schon den treuen Pigafetta schwer verstimmt zu haben. Er spürt, daß hier mit vertauschten Gewichten gewogen wird. Immer belohnt ja die Welt nur den Letzten, den Glückgetragenen, der eine Tat vollendet, und vergißt alle jene, die sie aus ihrem Geist und Blut vorausgestaltet und ermöglicht haben. Diesmal aber ist die Verteilung besonders und geradezu aufreizend ungerecht. Gerade derjenige, welcher Magellans Tat im entscheidenden Augenblicke verhindern wollte, der einstige Meuterer wider Magellan, Sebastian del Cano, scheffelt allen Ruhm, alle Ehren, alle Würden ein. Ein früheres Delikt (um dessentwillen er auf die Flotte Magellans gewissermaßen geflüchtet war), nämlich: ein Schiff an einen Ausländer verkauft zu haben, wird feierlich als abgegolten erklärt und ihm eine Pension von fünfhundert Goldgulden lebenslänglich bewilligt. Der Kaiser erhebt ihn in den Ritterstand und verleiht ihm ein Wappen, das sinnfällig del Cano als den Vollbringer der unsterblichen Tat bezeichnet. Zwei gekreuzte Zimtstäbe mit Muskatnüssen und Gewürznelken füllen das innere Schild, und ein Helm überhöht es, der die Erdkugel trägt mit der stolzen Rundschrift »Primus circumdedisti me«, »Als erster hast du mich umfahren«. Und noch toller wird die Ungerechtigkeit durch die Belohnung jenes Estevão Gomez, der in der Magellanstraße desertiert war und in Sevilla vor Gericht erzählt hatte, man habe gar keine Durchfahrt gefunden, nur eine offene Bucht. Gerade er, Estevão Gomez, der Magellans Entdeckung so frech abgeleugnet hatte, erhält den Adelstitel für das Verdienst, »als Führer und oberster Pilot die Durchfahrt gefunden zu haben«. Aller Ruhm, alle Leistung Magellans wird boshafterweise gerade jenen zugerechnet, die am erbittertsten während der Reise sein Lebenswerk zu hemmen gesucht hatten.


Pigafetta schweigt und denkt sich sein Teil. Zum erstenmal ahnt der bisher rührend gläubige, dieser wunderbar treue junge Mensch etwas von der ewigen Ungerechtigkeit, die unsere Welt erfüllt. Leise wendet er sich ab. »Me ne partii de lì al meglio potei« – »ich machte mich so rasch als möglich davon«. Mögen die Schranzen am Hofe von Magellan schweigen, mögen Unberufene sich vordrängen, die ihm gebührende Ehrung zu empfangen – er weiß, wessen Idee, wessen Werk, wessen Verdienst diese unsterbliche Tat gewesen. Hier bei Hof kann er nicht sprechen, aber um der Gerechtigkeit willen nimmt er sich vor, den großen Vergessenen vor der Nachwelt zu rühmen. Mit keinem Worte wird er in seiner Schilderung der Heimfahrt del Canos Namen erwähnen; nur »wir fuhren«, »wir beschlossen«, schreibt er, um anzudeuten, daß del Cano nicht mehr als alle anderen geleistet und getan. Möge jenen Zufallsgewinner der Hof belohnen, nur Magellan gebührt der wahre Ruhm, ihm, den keine andere Ehre mehr belohnen kann. Mit ergreifender Treue stellt Pigafetta sich auf die Seite des Besiegten und zeugt mit beredtem Wort für des Verstummten Recht. »Ich hoffe«, schreibt Pigafetta in der Widmung seines Buches an den Großmeister von Rhodos, »daß der Ruhm eines so großmütigen Kapitäns in unseren Zeiten nicht mehr erlöschen wird. Unter den vielen andern Tugenden, die ihn schmückten, war eine besonders bemerkenswert, daß er immer der Standhafteste von allen auch im größten Unglück geblieben ist. Er ertrug geduldiger den Hunger als jeder. Es gab keinen Mann auf der ganzen Erde, der mehr von der Wissenschaft der Karten und der Seefahrt verstand. Und daß dies wahr ist, ersieht man daraus, daß er Dinge zutage gebracht, die vor ihm niemand zu sehen oder zu entdecken gewagt.«


Immer erst enträtselt der Tod das letzte Lebensgeheimnis einer Gestalt; erst in dem letzten Augenblicke, da seine Idee sich sieghaft erfüllt, wird die innere Tragik dieses einsamen Menschen offenbar, dem immer bloß verstattet war, die Last der Aufgabe zu tragen, und nie, sich ihres endlichen Gelingens zu freuen. Nur zur Tat hatte das Schicksal aus der Masse unzählbarer Millionen diesen dunklen, schweigsamen, in sich selbst vermauerten Mann gewählt, der unbeugsam bereit war, alles, was er im Irdischen besaß, und dazu noch sein Leben für diese Idee einzusetzen. Nur zur Fron rief es ihn heran, nicht zur Freude, und wie einen Taglöhner schickte es ihn ohne Dank und Gnade vom vollbrachten Werke. Andere ernten den Ruhm seines Werks, andere raffen den Gewinn, andere feiern die Feste, denn streng, wie er selbst in allem und zu allen gewesen, wollte das Schicksal wider diesen harten Soldaten sein. Nur das eine, das er mit allen Kräften seiner Seele gewollt, verstattet es ihm: den Weg um die Erde zu finden. Aber den Triumph der Heimkehr, den seligeren Teil seiner Tat, gönnt es ihm nicht mehr. Nur schauen, nur fassen darf er den Kranz des Siegs, aber da er ihn sich auf das Haupt drücken will, sagt das Schicksal »genug«, und nieder schlägt es ihm die sehnsüchtig erhobene Hand.


Nur dies eine, dies einzige ist Magellan gegönnt, nur die Tat selbst, nicht ihr goldener Schatten, der zeitliche Ruhm. Nichts erschütternder darum, als in diesem Augenblicke, da sein Lebenswille Wahrheit geworden ist, Magellans Testament noch einmal zu überlesen. Alles, was er in jener Stunde der Ausfahrt erbeten, verweigert ihm das Geschick. Nichts von dem, was er für sich und die Seinen in jener »Capitulacion« erkämpft, fallt ihm zu. Nicht eine einzige – wahrhaft und wörtlich: nicht eine einzige! – Verfügung von all jenen, die er mit soviel Vorsicht und Bedacht in seinem letzten Willen festgelegt, bewilligt nach seinem heroischen Sterben das Leben seinen Nachfahren, unbarmherzig wird jeder, auch der reinste, der frömmste Wunsch ihm verwehrt. Magellan hatte bestimmt, in der Kathedrale von Sevilla begraben zu werden – und sein Leichnam fault an fremdem Strand. Dreißig Messen wollte er gelesen wissen über seinem Sarg – statt dessen heulte um den schamlos verstümmelten Leib die Horde Silapulapus Triumph. Drei Arme sollten bekleidet werden und gespeist an seinem Begräbnistage – aber nicht ein einziger erhält Schuh und grauen Rock und Zehrung. Niemand wird berufen, nicht der geringste Bettler, um für »das Heil seiner Seele zu beten«. Die Silberreale, die er dem heiligen Kreuzzug, die Almosen, die er den Gefangenen, die Stiftungen, die er den Klöstern und Siechenhäusern zugedacht, sie werden nicht ausbezahlt. Denn nichts und niemand ist da, seinen letzten Willen einzulösen, und hätten die Kameraden seine Leiche heimgebracht, es wäre kein Maravedi zur Stelle, ihr ein Sterbelinnen zu kaufen.


Aber sind nicht Magellans Erben wenigstens reiche Leute? Gebührt nicht nach dem Vertrage seinen Nachfahren ein Fünftteil aller Gewinne? Ist seine Witwe nicht eine der wohlhabendsten Frauen Sevillas? Werden seine Söhne, seine Enkel und Urenkel nicht Adelantados, nicht die erblichen Gouverneure der neuentdeckten Inseln sein? Nein, niemand erbt von Magellan, denn niemand seines Bluts ist mehr am Leben, sein Erbe anzufordern. In jenen drei Jahren sind Beatrix, seine Frau, und die beiden unmündigen Söhne ihm nachgestorben – erloschen ist mit einem Schlage Magellans ganzes Geschlecht. Nicht Bruder, nicht Neffe, kein Blutsverbundener ist da, das Wappen zu tragen, keiner, keiner, keiner! Vergebens war die Sorge des Edelmanns, vergebens die Sorge des Gatten, des Vaters, vergebens der fromme Wunsch des gläubigen Christen. Einzig Barbosa überlebt ihn noch, sein Schwiegervater, aber wie muß er den Tag verfluchen, da dieser dunkle Gast, dieser »fliegende Holländer« sein Haus betreten. Er hat die Tochter genommen, und sie ist gestorben, er hat den Sohn, den einzigen, mitgeführt auf die Fahrt und nicht wieder heimgebracht. Furchtbare Atmosphäre des Unglücks um diesen einen Mann! Wer ihm Freund war und Helfer, den hat er mitgerissen in sein dunkles Geschick, wer ihm vertraute, der hat es gebüßt. Allen, die um ihn, die für ihn waren, hat seine Tat vampirisch das Glück weggezehrt und das Leben; Faleiro, sein einstiger Partner, wird eingekerkert, da er Portugal betritt, Aranda, der ihm den Weg geebnet, in schimpfliche Untersuchung gezogen und verliert alles Geld, das er für Magellan gewagt. Enrique, dem er die Freiheit versprochen, wird sofort wieder als Sklave behandelt, Mesquita, sein Vetter, dreimal in Ketten gelegt, weil er ihm treu geblieben, Barbosa und Serrão reißt sein eigenes Verhängnis nach drei Tagen mit in seinen eigenen Tod, und nur der eine, der gegen ihn gewesen, Sebastian del Cano, rafft allen Ruhm der Treuen, der Toten, und allen Gewinn.


Und noch tragischer: selbst die Tat, der Magellan all dies und sich selber hingeopfert, auch sie scheint im äußern Sinne vergeblich getan. Die Gewürzinseln wollte Magellan Spanien gewinnen und gewinnt sie mit dem Einsatz seines Lebens, aber was er als heroische Unternehmung begonnen, endet als klägliches Maklergeschäft: um dreihundertfünfzigtausend Dukaten verkauft Kaiser Karl die Molukken an Portugal zurück. Der Weg nach Westen, den Magellan gefunden, wird kaum weiter beschritten, die Straße, die er eröffnet, sie bringt weder Geld noch Gewinn. Auch nach seinem Tode ist Unheil jedwedem nachgefolgt, der Magellan vertraute; fast alle spanischen Flotten, welche seine kühne Seemannstat wiederholen wollen, scheitern in der Magellanstraße; ängstlich meiden sie bald die Seefahrer, und lieber schleppen die Spanier ihre Waren in langen Karawanen über die Enge von Panama, statt sich in die finstern Fjorde Patagoniens zu wagen. So vollkommen wird schließlich um ihrer Gefährlichkeit willen die Straße Magellans geächtet, deren Entdeckung die ganze Welt mit Jubel begrüßte, daß sie noch innerhalb derselben Generation völlig in Vergessenheit gerät und wieder wie vordem zum Mythos wird. Achtunddreißig Jahre nach Magellans Durchfahrt findet man in dem berühmten Gedicht der »Araucana« ganz offen ausgesprochen, daß die Magellanstraße nicht mehr existiere, daß sie unauffindbar und unpassierbar geworden sei, weil entweder ein Berg sie verlegt oder eine Insel sich ihr vorgeschoben habe.


»Esta secreta senda descubierta
Quedó para nosotros escondida
Ora sea yerro de la altura cierta,
Ora que alguna isleta removida
Del tempestuoso mar y viento airado
Encallando en la boca la ha cerrado.«


So unbeachtet bleibt sie, so sagenhaft wird sie, daß der kühne Pirat Francis Drake ein halbes Jahrhundert später sie als sicheres Versteck nutzen, daß er aus ihr wie ein Habicht auf die ahnungslosen spanischen Kolonien der Westküste vorbrechen und die Silberschiffe plündern kann – dann erst besinnen sich die Spanier wieder ihres Vorhandenseins und bauen hastig eine Festung, um anderen Flibustiern den Durchzug zu hemmen. Aber Unglück verfolgt jeden, der Magellan nachfolgt. Die Flotte, die Sarmiento im Auftrag des Königs in die Meerenge führt, scheitert, die Festung, die er errichtet, geht erbärmlich zugrunde, und ihr Name porto hambre, der Hungerhafen, mahnt grauenhaft an den Hungertod seiner Kolonisten. Ein paar Walfischfänger, ab und zu ein verwegenes Segelschiff durchstreifen seitdem nur mehr die Straße, von der Magellan träumte, sie würde der große Handelsweg von Europa nach dem Orient werden. Und als an einem Herbsttag 1913 Präsident Wilson in Washington auf den elektrischen Knopf drückt, der die Schleusen des Panamakanals auftut und damit die beiden Ozeane, den Atlantischen und den Pazifischen, für immer verbindet, ist die Magellanstraße völlig überflüssig geworden. Endgültig ist ihr Schicksal besiegelt, und sie sinkt herab zu einem bloß historischen, zu einem bloß geographischen Begriff. Nicht die Bahn für tausende und tausende Schiffe ist der langgesuchte »paso« geworden, nicht der nächste und schnellste Weg nach Indien, nicht reicher Spanien, nicht mächtiger Europa an seiner Entdeckung: von allen Zonen der bewohnbaren Welt zählen noch heute die Küsten zwischen Patagonien und dem Feuerland zu den verlassensten und ärmsten der Erde.


Aber niemals bestimmt in der Geschichte die praktische Nützlichkeit den moralischen Wert einer Leistung. Nur jener bereichert dauerhaft die Menschheit, der ihr Wissen um sich selber vermehrt und ihr schöpferisches Bewußtsein steigert. In diesem Sinn aber übertrifft Magellans Tat alle Taten seiner Zeit, und besonderen Ruhm inmitten seines Ruhmes bedeutet es uns, daß er nicht wie die meisten Führer das Leben von Tausenden und Hunderttausenden für seine Idee aufgeopfert, sondern nur das eigene. Unvergeßlich um solcher wahrhaft heroischer Selbstaufopferung willen wird es bleiben, das herrliche Wagnis dieser fünf winzigen, schwächlichen, einsamen Schiffe, die ausfuhren zum heiligen Menschheitskrieg wider das Unbekannte, unvergeßlich er selbst, der diesen kühnsten Gedanken der Weltumrundung als erster gewagt und den das letzte seiner Schiffe bewältigt. Denn mit dem seit einem Jahrtausend vergeblich gesuchten Maß des Umfangs unserer Erde gewinnt die ganze Menschheit zum erstenmal ein neues Maß ihrer Kraft, an der Größe des überwundenen Weltraums wurde ihr erst mit neuer Lust und neuem Mut ihre eigene Größe bewußt. Immer gibt ein Mensch nur dann das Höchste, wenn er ein Beispiel gibt, und wenn eine, so hat diese eine fast vergessene Tat Magellans für alle Zeiten erwiesen, daß eine Idee, wenn vom Genius beschwingt, wenn von Leidenschaft entschlossen vorwärtsgetragen, sich stärker erweist als alle Elemente der Natur, daß immer wieder ein einziger Mensch mit seinem kleinen vergänglichen Leben, was hunderten Geschlechtern bloßer Wunschtraum gewesen, zu einer Wirklichkeit und unvergänglichen Wahrheit umzuschaffen vermag.

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