Zwölftes Kapitel – Der Weg zum Mord


22. Januar bis 9. Februar 1567


Nun hebt die dunkelste Strophe in der Ballade Maria Stuarts an. Diese Reise nach Glasgow, von der sie ihren noch kranken Gatten mitten in eine mörderische Verschwörung zurückführte, ist die umstrittenste Handlung ihres ganzen Lebens. Immer wieder drängt sich die Frage auf: War Maria Stuart wirklich eine atridische Gestalt, war sie eine Klytämnestra, die mit heuchlerischer Sorge ihrem heimgekehrten Gatten Agamemnon das warme Bad rüstet, indes schon Ägisth, der Mörder und Geliebte, im Schatten mit dem geschliffenen Beile sich verbirgt? War sie eine andere Lady Macbeth, die mit mildem und schmeichlerischem Wort König Duncan zum Schlaf geleitet, in dem Macbeth ihn ermorden wird, eine jener dämonischen Verbrecherinnen, wie sie die äußerste Leidenschaft oft gerade aus den mutigsten und hingegebensten Frauen formt? Oder war sie bloß willenloses Geschöpf dieses brutalen Zuhältermannes Bothwell, unbewußt handelnd in der Trance eines unwiderstehlich gegebenen Befehls, gutgläubig-gehorsame Marionette, unwissend all der Vorbereitungen zu dem fürchterlichen Geschehen? Unwillkürlich wehrt sich zunächst das Gefühl, dieses Verbrecherische für wahr zu halten, eine bisher menschlich empfindende Frau einer Mitwisserschaft, einer Mithelferschaft zu beschuldigen. Immer und immer wieder sucht man noch statt dessen nach einer anderen, einer menschlichen milderen Auslegung dieser Reise nach Glasgow. Abermals und abermals legt man alle Aussagen und Dokumente, die Maria Stuart belasten, als unzuverlässig zur Seite und durchprüft mit dem ehrlichen Willen, sich überzeugen zu lassen, alle die entschuldigenden Auslegungen, die ihre Verteidiger gefunden oder erfunden haben. Aber vergebens! Sosehr man ihnen glauben wollte, all diese Advokatenargumente haben keine überzeugende Kraft: fugenlos paßt der Ring der vollumschlossenen Tat in die Kette der Geschehnisse, indes jede entschuldigende Deutung, sobald man sie fester anfaßt, hohl in den Händen zerbricht.


Denn wie annehmen, liebende Sorge habe Maria Stuart an das Krankenlager Darnleys getrieben, um ihn aus seinem sicheren Refugium heimzuholen und daheim besser zu pflegen? Seit Monaten lebt das Ehepaar soviel wie völlig getrennt. Darnley ist ständig aus ihrer Gegenwart verbannt, und sosehr er mit aller Demut bittet, wieder ihr Lager als ihr Gemahl teilen zu dürfen, seine ehelichen Rechte werden ihm schroff verweigert. Die spanischen, die englischen, die französischen Gesandten sprechen längst in ihren Berichten über die Entfremdung als über ein unabänderliches, selbstverständliches Faktum; die Lords haben öffentlich die Scheidung beantragt und heimlich sogar gewaltsamere Form der Lösung erwogen. So gleichgültig leben schon die beiden nebeneinander, daß selbst auf die Nachricht von der lebensgefährlichen Erkrankung Maria Stuarts in Jedburgh der zärtliche Gemahl sich keineswegs beeilt, die schon mit den Sterbesakramenten Versehene zu besuchen. Mit der schärfsten Lupe kann man in dieser Ehe nicht den dünnsten Faden Liebe, kein Atom Zärtlichkeit mehr erkennen: unhaltbar also die Annahme, liebende Besorgnis habe Maria Stuart zu dieser Reise veranlaßt.


Aber – dies das letzte Argument ihrer À-tout-prix-Verteidiger – vielleicht wollte Maria Stuart gerade mit dieser Reise den unglückseligen Zwist aus der Welt schaffen? Am Ende war sie an sein Krankenbett bloß deshalb gereist, um sich mit ihm zu versöhnen? Doch leider, auch diese allerletzte für sie günstige Auslegung macht ein Dokument ihrer eigenen Hand zunichte. Denn noch einen Tag vor der Abreise nach Glasgow äußert sich die Unvorsichtige – nie hat Maria Stuart bedacht, daß ihre Briefe vor der Nachwelt gegen sie zeugen würden – in einem Schreiben an den Erzbischof Beaton in gehässigster, erregtester Weise über Darnley. »Was den König, unseren Gatten, betrifft, so weiß Gott, wie wir uns immer gegen ihn verhalten haben, und nicht minder sind Gott und der Welt seine Treibereien und Ungerechtigkeiten gegen uns bekannt; alle unsere Untertanen haben sie mit angesehen, und ich zweifle nicht, daß sie ihn dafür in ihren Herzen verurteilen.« Spricht so die Herzensstimme der Versöhnlichkeit? Ist dies die Gesinnung einer liebenden Frau, die voll Sorge zu ihrem kranken Gatten eilt? Und zweiter unwiderleglich belastender Umstand – Maria Stuart unternimmt diese Reise nicht etwa bloß, um Darnley zu besuchen und dann wieder heimzukehren, sondern mit der entschlossenen Absicht, ihn sofort nach Edinburgh zurückzubringen: auch dies etwas zu viel Sorge, um ehrlich und überzeugend zu wirken! Denn spottet es nicht aller Gesetze der Medizin und der Vernunft, einen Pockenkranken, einen Fieberkranken, dessen Gesicht noch vollkommen verschwollen ist, mitten im schärfsten Winter, im Januar, aus seinem Bette zu reißen und in einem offenen Wagen zwei Tagereisen weit zu transportieren? Maria Stuart aber hat im vorhinein gleich einen Leiterwagen mitgebracht, um Darnley jede Einspruchsmöglichkeit zu nehmen und ihn so schnell als möglich nach Edinburgh zu befördern, wo die Mordverschwörung gegen ihn in vollem Gange ist.


Aber vielleicht weiß Maria Stuart – immer geht man noch ihren Verteidigern einen Schritt entgegen, denn welche Verantwortung, ungerecht einen Menschen eines Mordes zu beschuldigen! –, vielleicht weiß sie gar nichts von dieser Verschwörung? Verhängnisvollerweise schließt auch in dieser Hinsicht ein an sie selbst gerichteter Brief Archibald Douglas’ jeden Zweifel aus. Denn Archibald Douglas, einer der Hauptverschwörer, suchte auf jener tragischen Reise nach Glasgow sie sogar persönlich auf, um ihre offene Zustimmung zu dem Mordkomplott zu gewinnen. Und wenn sie ihm damals auch keinerlei Zusage gab und jedes Einverständnis ablehnte, wie darf eine Gattin, wenn sie derartige Umtriebe im Gange weiß, zu einem solchen Antrag schweigen? Wie Darnley nicht warnen? Und wie gar, trotz der nun gewissen Überzeugung, gegen ihn sei etwas im Zuge, ihn doch zur Rückkehr in die Mordatmosphäre bereden? In einem solchen Falle ist Schweigen schon mehr als Mitwissen, es ist passive heimliche Mithilfe, denn wer um ein Verbrechen weiß und es nicht zu verhindern bemüht ist, fällt zum mindesten durch seine Gleichgültigkeit in Schuld. Das Günstigste, was man also von Maria Stuart sagen kann, ist, daß sie von dem geplanten Verbrechen nichts wußte, weil sie davon nichts wissen wollte, daß sie die Augen schloß und wegwendete, um dann sagen und beschwören zu können: Ich habe an dieser Tat nicht teilgehabt.


Das Empfinden einer gewissen Mitschuld Maria Stuarts an der Beseitigung ihres Gatten ist also unleugbar für einen unbefangen Forschenden: wer sie entschuldigen will, kann nur die herabgeminderte Willensfreiheit dieser Frau anführen und nicht ihre Ahnungslosigkeit. Denn nicht freudig handelt die Hörige, nicht frech, nicht bewußt, nicht aus freiem Willen, sondern aus einem andern, einem fremden Willen heraus. Nicht kalt, berechnend, tückisch und zynisch ist Maria Stuart nach Glasgow gegangen, um Darnley heimzulocken, sondern im entscheidenden Augenblick – dies bezeugen die Kassettenbriefe – hat sie Widerwillen und Grauen vor ihrer aufgezwungenen Rolle empfunden. Gewiß, sie hat mit Bothwell den Plan der Zurückholung nach Edinburgh besprochen; aber wunderbar wird aus ihrem Brief offenbar, wie im selben Augenblicke, da sie eine Tagesreise von ihrem Auftraggeber entfernt ist und die Hypnose seiner Gegenwart damit schwächer wird, das eingeschläferte Gewissen in dieser magna peccatrix sich regt. Immer scheidet sich am Kreuzweg einer Tat der Mensch, der durch eine geheimnisvolle Macht zum Verbrechen getrieben wird, von dem wirklichen, dem innerlichen Verbrecher, das tückische, vorbedachte Unternehmen von dem spontanen »crime passionnel«, und die Tat Maria Stuarts ist vielleicht eines der vollkommensten Beispiele dieser Art Verbrechen, die nicht von einem Menschen selbst, sondern in seiner Hörigkeit von einem andern, stärkeren Willen getan werden. Denn in dem Augenblicke, da Maria Stuart den besprochenen, den gebilligten Plan wirklich ausführen soll, da sie dem Opfer gegenübersteht, das an die Schlachtbank zu locken ihr befohlen ist, da verlischt in dieser Frau plötzlich aller Haß und jedes Rachegefühl, verzweifelt beginnt das Urmenschliche ihrer Natur einen Kampf mit dem Unmenschlichen ihres Auftrags. Aber zu spät schon und vergebens: Maria Stuart ist in diesem Verbrechen nicht nur die Jägerin, die listig ihr Opfer anschleicht, sie selbst ist eine Gejagte. Hinter sich spürt sie die Peitsche, die sie vorwärts treibt. Sie zittert vor dem Zuhälterzorn ihres Geliebten, falls sie ihm das vereinbarte Opfer nicht heranschleppt, und zittert zugleich, durch Ungehorsam seine Liebe zu verlieren. Nur daß hier eine Willenlose ihre Tat im tiefsten nicht will, daß eine seelisch Wehrlose sich wehrt gegen die aufgenötigte Zwangshandlung, nur dies allein läßt diese Tat, wenn auch im Sinne der Gerechtigkeit nicht vergeben, so doch im Sinne des Menschlichen verstehen.


In diesem milderen Sinn verständlich wird das grauenhafte Geschehen einzig durch jenen berühmten Brief, den sie vom Bett des kranken Darnley an Bothwell richtet und den törichterweise ihre Verteidiger immer ableugnen wollen: nur er gibt dem Widrigen der Tat noch einen versöhnlichen Schimmer von Menschlichkeit. Dank dieses Briefes sieht man wie durch eine aufgerissene Wand in die furchtbaren Stunden von Glasgow hinein. Mitternacht ist längst vorüber, Maria Stuart sitzt in einem fremden Zimmer an ihrem Tische im Nachtgewand. Ein Feuer flackert im Kamin, die Schatten zucken wild an den hohen, kalten Wänden. Aber dies Feuer wärmt nicht den einsamen Raum und nicht die frierende Seele. Immer wieder läuft ein Schauer der nur flüchtig bekleideten Frau über die Schultern: es ist kalt, und sie ist müde, sie möchte schlafen und kann doch nicht schlafen vor Aufgewühltheit und Erregung. Zu viel und zu Erschütterndes hat sie erlebt in diesen letzten Wochen, diesen letzten Stunden, noch beben und brennen die Nerven davon bis in die schmerzhaftesten Spitzen. Voll Grauen vor der Tat, aber willenlos gehorsam dem Herrn ihres Willens, hat die Seelensklavin Bothwells die schlimme Fahrt unternommen, um den eigenen Gatten aus der Sicherheit in den noch sichereren Tod zu locken, und man hat ihr den Betrug nicht leicht: gemacht. Schon vor dem Tore hält sie ein Bote von Darnleys Vater Lennox auf. Dem alten Manne scheint es verdächtig, daß die Frau, die seinen Sohn seit Monaten haßvoll gemieden, mit einem Male so zärtlich an sein Krankenbett eilt. Alte Männer haben Ahnung für Unheil; und vielleicht erinnert sich Lennox auch, daß jedesmal, wenn Maria Stuart seinem Sohne scheinbar zu Willen war, sie immer nur einen Vorteil für sich persönlich zu erheucheln suchte. Mit Mühe war es ihr gelungen, alle Fragen des Boten abzuwehren, sie ist glücklich bis an das Bett des Kranken vorgedrungen, welcher sie gleichfalls – zu oft hat sie vor ihm falsches Spiel gespielt – mit mißtrauischer Seele empfängt. Wozu sie den Leiterwagen mitgebracht habe, will er sofort wissen; noch flackert Verdacht unruhig in seinen Blicken. Und ehern mußte sie das Herz in die Faust fassen, um bei solchen Fragen nicht durch ein stockendes Wort, durch ein Erblassen oder Erröten sich zu verraten. Aber die Furcht vor Bothwell hat sie Verstellung gelehrt. Mit streichelnden Händen, mit schmeichelnden Worten hat sie allmählich Darnleys Mißtrauen eingeschläfert, Zug um Zug ihm den Willen aus dem Leibe gewunden und dafür den ihren, den stärkeren, eingetan. Bereits am ersten Nachmittag ist das halbe Werk vollbracht.


Und jetzt sitzt sie nachts allein in ihrem dunklen Zimmer, es ist kalt und leer, gespenstig flackern die Kerzen, und solche Stummheit steht in dem Raum, daß ihre geheimsten Gedanken vernehmlich werden und die Seufzer ihres getretenen Gewissens. Sie kann nicht schlafen, sie kann nicht ruhen, unermeßlich ist in ihr das Bedürfnis, irgendeinem das Schwere anzuvertrauen, das ihr auf der Seele lastet, irgend jemanden anzusprechen in dieser letzten und einsamsten Not. Und da er nicht nahe ist, er, der Einzige auf Erden, zu dem sie sprechen kann über all diese Dinge, die niemand wissen darf als er und er allein, über diese furchtbaren, verbrecherischen Dinge, die sie selber Angst hat, sich einzugestehen, so nimmt sie ein paar Blätter und beginnt zu schreiben. Es wird ein endloser Brief. Nicht in dieser Nacht wird sie ihn beenden und nicht am nächsten Tage, erst in der nächsten Nacht; hier ringt ein Mensch mitten im Verbrechen mit seinem eigenen Gewissen. In tiefster Müdigkeit, in äußerster Verwirrung ist dieser Brief geschrieben, trunken und erschöpft taumelt alles durcheinander, Torheit und tiefster Sinn, Schrei und leeres Geschwätz und verzweifelte Klage, wie Fledermäuse flattern im Zickzack die schwarzen Gedanken durcheinander. Bald berichtet sie bloß von läppischen Einzelheiten, bald bäumt sich die Not ihres Gewissens schreiend empor, Haß blitzt auf, Mitleid zwingt ihn nieder, und immer dazwischen strömt groß und glühend das überquellende Liebesgefühl zu diesem Einen, dessen Wille sie beherrscht und dessen Hand sie vorwärts in diesen Abgrund gestoßen. Dann merkt sie wieder mit einem Male, daß ihr das Papier ausgegangen ist. So schreibt sie weiter, nur weiter, denn sie fühlt, das Grauen würde sie erwürgen, die Stille sie ersticken, wenn sie sich nicht wenigstens mit Worten an ihn klammerte, an den sie gekettet ist, Verbrecherin an den Verbrecher, Blut an Blut. Aber während die Feder in der zitternden Hand wie abgelöst über die Blätter läuft, merkt sie, daß alles, was sie hinschreibt, nicht so gesagt ist, wie sie es sagen möchte, daß sie nicht Kraft hat, die Gedanken zu zügeln, zu ordnen. Das weiß sie gleichzeitig in einer anderen Sphäre des Bewußtseins und beschwört Bothwell deshalb, er möge den Brief zweimal lesen. Aber gerade, daß dieser Brief von dreitausend Worten nicht wach und klar gedacht und geschrieben ist, daß konfus und stammelnd, wie mit verschlossenen Augen, die Gedanken durcheinandertaumeln, gerade dies macht ihn zu einem so einzigartigen Dokument der Seelengeschichte. Denn hier spricht nicht der bewußte Mensch, sondern hier spricht das innere Ich aus einer Trance der Müdigkeit und des Fiebers, hier spricht das sonst nie zu belauschende Unterbewußtsein, das nackte, von keiner Scham mehr umhüllte Gefühl. Obere Stimmen und untere Stimmen, klare Gedanken und solche, die sie in voller Wahrheit gar nicht würde wagen auszusprechen, wechseln ab in diesem unkonzentrierten Zustande. Sie wiederholt sich, sie widerspricht sich im Schreiben, chaotisch wogt alles durcheinander in diesem Dampf und Schwall der Leidenschaft. Nie oder nur ganz selten ist uns ein Bekenntnis überliefert worden, in dem der geistige, der seelische Überreizungszustand inmitten eines Verbrechens so vollkommen enthüllt ist – nein, kein Buchanan und kein Maitland, keiner dieser bloß klugen Köpfe hätte mit seiner Bildung und Gescheitheit so magisch genau den halluzinierten Monolog eines verstörten Herzens ersinnen können, die schaurige Situation der Frau, die mitten in ihrer Tat keine andere Rettung vor ihrem Gewissen weiß, als daß sie an ihren Geliebten schreibt und schreibt, um sich zu verlieren, zu vergessen, zu entschuldigen und zu erklären, die in dies Schreiben flüchtet, um nicht in der Stille ihr Herz so rasend in der Brust hämmern zu hören. Abermals muß man unwillkürlich an Lady Macbeth denken, wie sie gleichfalls im losen Nachtgewande schaudernd im Dunkel des Schlosses umherirrt, belagert und bedrängt von grauenhaften Gedanken, und in erschütterndem Monolog ihre Tat somnambulisch verrät. Nur ein Shakespeare, nur ein Dostojewskij kann so dichten und ihr erhabenster Meister: die Wirklichkeit.


Welch großartiger Ton, das Herz treffend bis in seine letzte Tiefe, schon in diesem ersten Auftakt. »Ich bin müde und bin schläfrig, und doch kann ich mich nicht zurückhalten, solange das Papier noch reicht… Verzeihe, wenn ich so schlecht schreibe, Du mußt dann die andere Hälfte ahnen… Und doch bin ich froh, Dir schreiben zu können, während die anderen schlafen, weil ich fühle, ich könnte es nicht infolge meines Verlangens, das in Deine Arme drängt, mein teures Leben.« Mit unwiderstehlicher Eindringlichkeit schildert sie, wie der arme Darnley über ihr unvermutetes Kommen beglückt war; man glaubt ihn zu sehen, den braven Jungen, das Gesicht heiß vom Fieber und noch vom Ausschlag gerötet. Allein ist er gelegen, Nächte und Tage, und hat sich das Herz zerrissen, weil sie, der er mit Leib und Seele verfallen ist, ihn zurückgestoßen und verlassen hat. Und jetzt ist sie plötzlich da, die geliebte, die junge, die schöne Frau, zärtlich sitzt sie mit einmal wieder an seinem Bette. In seinem Glück glaubt der arme Tor »zu träumen« und bekennt, »so glücklich zu sein, sie zu sehen, daß er meine, er müsse vor Freude sterben«. Manchmal freilich brennen noch die alten Wunden des Mißtrauens in ihm schmerzhaft auf. Zu unvermutet erscheint ihm dies gekommen, zu unwahrscheinlich, und doch, sein Herz ist zu kümmerlich, einen so ungeheuren Betrug sich auszudenken, sooft sie ihn auch schon betrogen hat. Denn es ist so süß für einen schwachen Menschen, zu glauben, zu vertrauen, es ist so leicht, einem eitlen Menschen einzureden, er sei geliebt. Es dauert nicht lange, und Darnley wird schwach, wird gerührt; vollkommen wieder hörig, wie damals in jener andern Nacht nach Rizzios Ermordung, bittet der gute Junge sie um Vergebung für alles, was er ihr angetan. »So viele Deiner Untertanen haben Fehler begangen und Du hast sie ihnen vergeben, und ich bin so jung. Du wirst sagen, daß Du mir schon oftmals vergeben hast und daß ich immer wieder in meine Fehler zurückgefallen bin. Aber ist es nicht natürlich, daß man in meinem Alter, schlecht beraten, zwei- oder dreimal wieder in seine Fehler zurückfällt und seine Versprechungen nicht einhält und erst schließlich sich selbst durch seine Erfahrungen im Zaume hält? Wenn ich diesmal Deine Verzeihung erlange, schwöre ich, daß ich nie wieder einen Fehler begehen werde. Und ich verlange nichts anderes, als daß wir in Bett und Heim als Mann und Frau zusammen leben mögen, und wenn Du nicht willst, so werde ich von diesem Bett nie aufstehen… Gott weiß, wie sehr ich bestraft bin, einen Gott aus Dir gemacht zu haben und an nichts anderes als an Dich zu denken.«


Wieder blickt man durch diesen Brief in den fernen umschatteten Raum hinein. Maria Stuart sitzt an dem Bette des Kranken und hört diesen Ausbruch seiner Liebe, diesen Aufschwall seiner Demut. Jetzt sollte sie frohlocken, denn ihr Plan ist gelungen, sie hat dem einfältigen Jungen das Herz wieder weich gemacht. Aber sie schämt sich ihres Betruges zu sehr, um sich zu freuen, mitten in der beabsichtigten Tat würgt der Ekel sie vor dem Erbärmlichen ihres Tuns. Düster, mit abweisenden Augen, mit verstörten Sinnen sitzt sie bei dem Kranken, und sogar Darnley fällt es nun auf, daß irgend etwas Dunkles und Unverständliches diese geliebte Frau bedrängt. Der arme, verratene Betrogene sucht noch – geniale Situation! – die Verräterin, die Betrügerin zu trösten, er will ihr helfen, er will sie heiter, will sie fröhlich, will sie glücklich machen. Er fleht sie an, die Nacht bei ihm im Zimmer zu bleiben, er träumt, der unselige Narr, schon wieder von Liebe und Zärtlichkeit. Erschütternd ist es, durch diesen Brief hindurch zu fühlen, wie dieser Schwache sich schon wieder gläubig an sie anklammert, wie er sich ihrer ganz sicher fühlt. Nein, er kann nicht aufhören, sie anzuschauen, unermeßlich genießt er die Lust dieser erneuten und so lange entbehrten Vertraulichkeit. Er bittet sie, ihm das Fleisch vorzuschneiden, er spricht und spricht und plaudert in seiner Torheit alle Geheimnisse aus; er nennt die Namen aller seiner Zubringer und Späher, er bekennt ihr, ohne zu ahnen, daß sie Bothwell mit Leib und Seele verfallen ist, seinen tödlichen Haß gegen Maitland und Bothwell. Und – man versteht es – je vertrauensvoller, je liebender er sich verrät, um so schwerer macht er es damit dieser Frau, den Ahnungslosen, den Hilflosen zu verraten. Wider ihren Willen wird sie gerührt von der Widerstandslosigkeit, von der Leichtgläubigkeit ihres Opfers. Und mit Gewalt muß sie sich zwingen, diese verächtliche Komödie weiter und weiter zu spielen. »Niemals hättest Du ihn besser und demütiger sprechen hören können, und hätte ich nicht gewußt, daß sein Herz so weich ist wie Wachs, und wäre meines nicht wie ein Diamant, kein Gebot als das von Deiner Hand hätte es vermocht, daß ich nicht Mitleid mit ihm gehabt hätte.« Man sieht: sie selbst fühlt gegen diesen Armen, der aus seinem fiebrig entzündeten Gesicht sie mit zärtlichen, hungrigen Augen anblickt, längst keinen Haß mehr, sie hat alles vergessen, was dieser kleine dumme Lügner vordem ihr angetan, im innersten Gefühl möchte sie ihn gern retten. In heftiger Ablehnung wirft sie darum die Tat auf Bothwell zurück: »Um meiner eigenen Rache willen würde ich es nicht tun.« Nur um ihrer Liebe willen und für keinen andern Preis wird sie das Gräßliche vollbringen, das kindliche Vertrauen dieses Menschen auszubeuten, und herrlich bricht sie aus in den anklagenden Schrei: »Du zwingst mich zu einer solchen Verstellung, daß ich selbst voll Schrecken und Grauen bin, und läßt mich die Rolle des Verräters spielen. Aber erinnere Dich, wäre es nicht, um Dir zu gehorchen, so wollte ich lieber tot sein. Mein Herz blutet dabei.«


Jedoch ein Höriger kann sich nicht wehren. Er darf nur aufstöhnen, wenn die Peitsche ihn grimmig vorwärts treibt. Und mit demütiger Klage senkt sie gleich wieder vor dem Herrn ihres Willens das Haupt. »Wehe mir! Ich habe niemals jemanden betrogen, aber ich tue alles in Deinem Willen. Sende mir nur ein Wort, was ich tun soll, und was immer mir geschehen möge, ich will Dir gehorchen. Denke auch daran, ob Du nicht ein geheimeres Verfahren finden kannst durch Arznei, denn er soll Arznei und Bäder in Craigmillar nehmen.« Man sieht, wenigstens einen milderen Tod möchte sie für den Unseligen erfinden und die grobe, gemeine Gewalttat vermeiden; wäre sie nicht so völlig außer sich geraten und so völlig Bothwell anheimgegeben, wäre noch Kraft in ihr, nur ein einziger Funke moralischer Selbständigkeit, sie würde jetzt, man fühlt es, Darnley retten. Aber sie wagt keinen Ungehorsam, weil sie fürchtet, damit Bothwell, dem sie sich verschworen hat, zu verlieren, und zugleich fürchtet sie auch – geniale Psychologie, von keinem Dichter zu ersinnen –, daß Bothwell sie am Ende gerade darum verachten könnte, weil sie sich zu so erbärmlichem Geschäfte hergegeben. Flehend erhebt sie die Hände, er möge sie »nicht minder darum achten, da er ja doch die Ursache sei«, und ihre Seele wirft sich in die Knie zum letzten verzweifelten Anruf, er möge doch alle Qual, die sie jetzt um seinetwillen erdulde, durch Liebe belohnen. »Alles opfere ich auf, Ehre, Gewissen, Glück und Größe, erinnere Dich daran und laß Dich nicht bereden von Deinem falschen Schwager gegen die treueste Geliebte, die Du je hattest oder haben wirst. Und achte auch nicht auf sie (Bothwells Frau) mit ihren falschen Tränen, sondern auf mich und die hingebungsvolle Tat, die ich erdulde, um ihren Platz zu verdienen, und um derentwillen ich gegen meine eigene Natur alle betrüge. Gott vergebe mir und schenke Dir; mein teurer Freund, alles Glück und alle Gnade, die Deine untertänigste und getreueste Geliebte Dir wünscht, sie, die bald hofft, Dir noch mehr zu sein als Entgelt für ihre Qual.« Wer unbefangen aus diesen Worten das gequälte, gepeinigte Herz dieser unglückseligen Frau sprechen hört, wird sie nicht Mörderin nennen, obwohl alles, was diese Frau in diesen Nächten und Tagen tut, einem Morde dient. Denn man spürt, tausendmal stärker als ihr eigener Wille ist ihr Gegenwille, ihr Widerwille; vielleicht ist in manchen dieser Stunden diese Frau dem Selbstmord näher gewesen als dem Mord. Aber Verhängnis der Unterjochung: wer seinen Willen von sich gegeben, der kann nicht mehr seinen Weg wählen. Nur dienen kann er und gehorchen. Und so taumelt sie vorwärts, Magd ihrer Leidenschaft, unbewußte und doch grausam bewußte Somnambule ihres Gefühls, in den Abgrund ihrer Tat.


Am zweiten Tag hat Maria Stuart alles restlos vollbracht, was ihr zu tun auferlegt war; der feinere, der gefährlichere Teil der Aufgabe ist glücklich bewältigt. Sie hat den Verdacht in Darnleys Seele beschwichtigt, der arme, kranke, dumme Junge, nun ist er mit einmal heiter, sicher, ruhig, froh und sogar glücklich. Schon versucht er, obzwar noch schwach und erschöpft und entstellt durch die Pockennarben, kleine Zärtlichkeiten mit seiner Gattin. Er möchte sie küssen, umarmen, und sie hat alle Mühe, ihren Widerwillen zu verbergen und seine Ungeduld zurückzuhalten. Gehorsam Maria Stuarts Wünschen, genau so gehorsam wie sie selbst den Befehlen Bothwells, erklärt er sich, der Hörige einer selbst Hörigen, bereit, mit ihr nach Edinburgh zurückzukehren. Vertrauensvoll läßt er sich aus seinem sichern Schlosse in den Leiterwagen bringen, das Gesicht mit einem feinen Tuch bedeckt, damit niemand seine Entstellung gewahre: nun ist das Opfer endlich auf dem Wege zum Hause des Schlächters. Die gröbere Arbeit, die blutige, kann nun Bothwell besorgen, und sie wird dem harten und zynischen Manne tausendmal leichter fallen als Maria Stuart der Verrat an ihrem Gewissen.


Langsam rollt der Leiterwagen, von Berittenen begleitet, den winterlich kalten Weg; scheinbar restlos versöhnt nach Monaten ruhelosen Zwistes, kehrt das königliche Paar wieder nach Edinburgh zurück. Nach Edinburgh doch wohin? Selbstverständlich nach Holyrood Castle, möchte man meinen, in die königliche Residenz, in das behagliche und fürstliche Schloß! Aber nein, Bothwell, der Allmächtige, hat es anders angeordnet. Der König soll nicht in seinem eigenen Heim, in Holyrood wohnen, angeblich, weil die Ansteckungsgefahr noch nicht vorüber sei. Dann wohl in Stirling oder in Edinburgh Castle, der stolzen uneinnehmbaren Festung, oder allenfalls als Gast in einem anderen fürstlichen Haus, etwa dem bischöflichen Palast? Abermals nein! Höchst verdächtigerweise wird ein ganz unscheinbares, abgelegenes Haus gewählt, an das bisher niemand gedacht hat, ein gar nicht fürstliches Haus, ein Haus in anrüchiger Gegend, außerhalb der Stadtwälle, mitten in Gärten und Wiesen, halb verfallen und seit Jahren unbewohnt, ein Haus, das schlecht zu bewachen und zu beschützen ist – sonderbare und sehr bedeutsame Wahl. Unwillkürlich fragt man, wer für den König gerade dieses verdächtig abgelegene Haus in Kirk o’Field gewählt haben könne, zu dem nur die Thieves Row, ein nächtlicher Diebsweg, hinausführt. Und sieh, es war Bothwell, der jetzt »all in all« ist. Immer und immer wieder findet man denselben roten Faden im Labyrinth. Immer und immer wieder in allen Briefen, Dokumenten und Aussagen geht die blutige Spur ausschließlich auf diesen Einen und Einzigen zurück.


Dieses kleine, eines Königs unwürdige Haus inmitten von unbebauten Feldern, benachbart nur dem eines Mannes aus Bothwells vertrautester Gefolgschaft, enthält im ganzen nur einen Vorraum und vier Zimmer. Unten wird ein Schlafraum für die Königin improvisiert, da sie plötzlich das dringende Bedürfnis äußert, den bisher ängstlich gemiedenen Gatten auf das zärtlichste zu pflegen, ein zweiter für ihr Gesinde; das Zimmer im ersten Stock wird als Schlafraum für den König eingerichtet und das anliegende für seine drei Bedienten. Allerdings, sie werden reich ausgestattet, diese niederen Räume in dem anrüchigen Haus, von Holyrood schafft man Teppiche und Tapisserien herüber, eigens wird eines der prachtvollen Betten, die Marie von Guise aus Frankreich mitbrachte, für den König aufgestellt und ein zweites im untern Stockwerk für die Königin. Und nun kann Maria Stuart sich mit einmal gar nicht genug tun, ihre Sorge und Zärtlichkeit für Darnley möglichst sichtbarlich zu bezeigen. Täglich kommt sie mehrmals mit ihrem ganzen Troß herüber, um dem Kranken Gesellschaft zu leisten, sie, die – man muß immer wieder daran erinnern – seit Monaten vor seiner Nähe geflüchtet. Sie schläft sogar die drei Nächte vom 4. bis zum 7. Februar statt in ihrem bequemen Palast in diesem abgelegenen Haus. Jeder in Edinburgh soll also sehen, daß König und Königin wieder liebende Gatten geworden sind, demonstrativ und sogar verdächtig aufdringlich wird das neue Einvernehmen zwischen dem feindlichen Paar vor der ganzen Stadt plakatiert: man denke, wie sonderbar dieser Neigungsumschwung vor allem die Lords angemutet haben muß, die noch knapp vordem mit Maria Stuart alle Mittel erwogen hatten, sich Darnleys zu entledigen. Und nun auf einmal diese stürmische, diese allzu betonte Liebe zwischen Mann und Frau! Der Klügste unter ihnen, Moray, macht sich heimlich seinen Reim, wie sein Verhalten bald dartun wird; er zweifelt nicht einen Augenblick, daß in diesem auffällig abgelegenen Hause schlimmes Spiel im Gange sei, und trifft seinerseits still und diplomatisch seine Vorbereitungen.


Es gibt vielleicht nur einen einzigen in Stadt und Land, der an den Stimmungsumschwung Maria Stuarts ehrlich glaubt: Darnley, der unglückselige Gatte. Seiner Eitelkeit schmeichelt die Sorge, mit der sie ihn umgibt, er sieht stolz, daß mit einmal die Lords, die bisher ihm verächtlich ausgewichen, wieder mit gebeugten Rücken und teilnehmenden Gesichtern seinem Krankenbette nahen. Dankbar rühmt er am 7. Februar in einem Brief an seinen Vater, wie sehr seine Gesundheit sich gebessert habe durch die teilnehmende Sorge der Königin, die sich wie eine wirkliche und liebende Gattin zu ihm verhalte. Schon haben ihm die Ärzte die frohe Zusicherung der Genesung gemacht, schon beginnen die letzten Spuren der entstellenden Krankheit zu schwinden, schon wird ihm die Übersiedlung in sein Schloß gestattet, für Montag morgen sind bereits die Pferde bestellt. Ein Tag noch, und er wird wieder in Holyrood thronen, um dort wieder »bed and board« mit Maria Stuart zu teilen und endlich wieder Herr seines Landes, Herr ihres Herzens zu sein.


Aber vor diesem Montag, dem 10. Februar, kommt noch ein Sonntag, der 9. Februar, für den abends ein heiteres Fest in Holyrood angesagt ist. Zwei der getreuesten Diener Maria Stuarts sollen Hochzeit feiern; für diesen Anlaß sind ein großes Bankett und ein Ball gerüstet, bei welchem zu erscheinen die Königin ihrem Gesinde versprochen hat. Aber nicht dies Offenkundige ist das eigentliche Ereignis des Tages, sondern ein anderes, dessen Bedeutung erst später ersichtlich sein wird; an diesem Morgen nimmt nämlich der Earl of Moray plötzlich für einige Tage Abschied von seiner Schwester, angeblich, um seine erkrankte Frau auf einem seiner Schlösser zu besuchen. Und das ist ein schlimmes Zeichen. Denn immer, wenn Moray vom politischen Schauplatz plötzlich abtritt, hat er seine guten Gründe. Immer geschieht dann ein Umsturz oder ein Unglück, immer kann er dann rückkehrend glorreich nachweisen, nicht die Hand im Spiele gehabt zu haben. Wer Witterung für kommenden Sturm hat, müßte unruhig werden, wenn er jetzt abermals diesen berechnenden und weitblickenden Mann sich sacht empfehlen sieht, ehe das Wetter losbricht. Noch ist es nicht ein Jahr, da war er morgens nach der Ermordung Rizzios in Edinburgh scheinbar ebenso ahnungslos eingeritten, wie er jetzt mit gespielter Ahnungslosigkeit am Morgen eines Tages abreist, an dem eine noch fürchterlichere Tat geschehen soll, andern die Gefahr überlassend, sich die Ehre wahrend und den Gewinn.


Auch ein zweites Zeichen könnte zu denken geben. Angeblich hatte Maria Stuart schon Befehl erteilt, ihr kostbares Bett mit den Pelzdecken aus ihrem Schlafraum von Kirk o’Field wiederum nach Holyrood zu schaffen. An sich scheint die Maßnahme ganz naheliegend, denn während dieser Nacht des angesagten Festes wird die Königin nicht in Kirk o’Field, sondern in Holyrood schlafen, und am nächsten Tage ist die Trennung doch ohnehin zu Ende. Aber diese Vorsicht, das kostbare Bett so eilig hinüberzuschaffen, sie wird durch die Ereignisse eine gefährliche Deutung oder Mißdeutung finden. Zur Zeit zwar, nachmittags und abends, ist von düstern Geschehnissen oder wirklicher Gefahr nicht das mindeste wahrzunehmen und das Verhalten Maria Stuarts so unauffällig wie nur möglich. Bei Tag besucht sie mit ihren Freunden den fast schon genesenen Gemahl, abends sitzt sie mit Bothwell, Huntly und Argyll höchst leutselig zwischen dem Gesinde im Kreise der Hochzeitsleute. Aber wie rührend: noch einmal – wie auffallend rührend – noch einmal wandert sie, obwohl Darnley doch schon am nächsten Morgen nach Holyrood zurückkehren wird, in der kalten Winternacht hinüber in das verlassene Haus von Kirk o’Field! Eigens unterbricht sie die muntre Festfreude, um nur noch ein wenig an Darnleys Lager zu sitzen und mit ihm zu plaudern. Bis elf Uhr nachts – man muß die Stunde genau anmerken – verweilt Maria Stuart in Kirk o’Field, dann erst kehrt sie nach Holyrood zurück: weithin sichtbar durch die dunkle Nacht funkelt und lärmt der berittene Zug mit vorausgeschwungenen Fackeln und Lichtern und Lachen. Die Tore werden aufgeschlossen, ganz Edinburgh muß gesehen haben, daß die Königin von dem sorglichen Besuche bei ihrem Gatten nach Holyrood heimgekehrt ist, wo bei Bratschen und Dudelsackpfeifen der Tanz des Gesindes schwingt. Noch einmal mischt sich freundlich und gesprächig die Königin unter die Hochzeitsgäste. Dann erst, es ist schon nach Mitternacht, zieht sie sich zum Schlaf in ihre Gemächer zurück.


Um zwei Uhr nachts donnert die Erde. Eine furchtbare Explosion, »als hätte man fünfundzwanzig Kanonen gleichzeitig abgefeuert«, erschüttert die Luft. Und sofort sieht man in wilder Eile verdächtige Gestalten aus der Richtung von Kirk o’Field laufen: etwas Gewalttätiges muß im Hause des Königs geschehen sein. Schrecken und Erregung bemächtigen sich der aus dem Schlaf geweckten Stadt. Die Stadttore werden aufgerissen. Boten stürmen nach Holyrood, um das Entsetzliche zu melden, das einsame Haus in Kirk o’Field sei mit dem König und allen seinen Dienern in die Luft gesprengt worden. Bothwell, der bei den Hochzeitsfeierlichkeiten anwesend war – offenkundigerweise, um ein Alibi zu haben, während seine Leute die Tat vorbereiteten –, wird aus dem Schlaf geweckt oder vielmehr aus dem Bette geholt, in dem er scheinbar schlafend liegt. Hastig zieht er sich an und eilt mit Bewaffneten an den Ort des Verbrechens. Man findet die Leichen Darnleys und des Dieners, der in seinem Zimmer geschlafen hat, nur mit einem Hemd bekleidet, im Garten, das Haus selbst durch eine Pulverexplosion vollkommen zerstört. Mit dieser ihn scheinbar sehr überraschenden und erregenden Feststellung begnügt sich Bothwell. Da er den wahren Sachverhalt besser als jeder andere kennt, macht er keine weiteren Anstrengungen, die volle Wahrheit zu entschleiern. Er befiehlt, die Leichen aufzubahren, und kehrt nach einer knappen halben Stunde ins Schloß zurück. Und dort weiß er der gleichfalls aus ahnungslosem Schlaf bös erweckten Königin nichts als die nackte Tatsache zu melden, daß ihr Gatte, der König Heinrich von Schottland, auf unbegreifliche Art von unbekannten Tätern ermordet worden sei.

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Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.