Debüt in Versailles
Noch heute wirkt Versailles als die großartigste und herausforderndste Geste der Autokratie; ganz ohne sichtlichen Anlaß erhebt sich mitten im Lande abseits von der Hauptstadt auf einem künstlich errichteten Hügel ein riesiges Schloß und blickt mit Hunderten von Fenstern über künstlich geschaffene Kanäle und künstlich geschnittene Gärten ins Leere hinein. Kein Fluß, Handel und Wandel befördernd, strömt hier vorbei, keine Straßen, keine Bahnen treffen zusammen; völlig zufallshaft, die versteinerte Laune eines großen Herrn, hält dieser Palast seine sinnlos riesige Pracht dem verwunderten Blick entgegen.
Dies gerade aber wollte der cäsarische Wille Ludwigs XIV.: seinem eigenen Selbstbewußtsein, seiner Neigung zur Selbstvergöttlichung einen schimmernden Altar errichten. Entschlossener Autokrat, machtherrischer Mensch, hatte er seinen Einheitswillen siegreich dem zerspaltenen Lande aufgezwungen, einem Reiche die Ordnung, einer Gesellschaft die Sitte, einem Hof die Etikette, einem Glauben die Einheit, der Sprache die Reinheit vorgeschrieben. Von seiner Person war dieser Vereinheitlichungswille ausgestrahlt, zu seiner Person sollte darum aller Glanz wieder zurückfluten. »Wo ich bin, da ist der Staat«, wo ich wohne, da ist der Mittelpunkt Frankreichs, der Nabel der Welt: um diese völlige Uneingeschränktheit seiner Stellung zu versinnlichen, verlegt der Roi-soleil seinen Palast mit Absicht weg von Paris. Eben indem er seine Residenz völlig ins Leere stellt, betont er, ein König von Frankreich brauche nicht die Stadt, die Bürger, die Masse als Stütze oder Folie seiner Macht. Genug, daß er den Arm ausstreckt und gebietet, und schon entstehen auch aus Sumpf und Sand Gärten und Wald, Kaskaden und Grotten, der schönste und mächtigste Palast; von diesem astronomischen Punkt, den seine Willkür eigenmächtig gewählt, geht von nun ab die Sonne seines Reiches auf und unter. Versailles ist erbaut, um Frankreich sinnfällig zu beweisen, daß das Volk nichts ist und der König alles.
Aber schöpferische Kraft, sie bleibt immer nur an den Menschen gebunden, den sie erfüllt; nur der Kronreif vererbt sich, nicht die ihm eingeschlossene Macht und Majestät. Enge, gefühlsschwache und genießerische Seelen, nicht mehr gestaltende, erben mit Ludwig XV. und Ludwig XVI. den weiten Palast, das groß gegründete Reich. Äußerlich bleibt unter ihnen alles unverändert: die Grenzen, die Sprache, die Sitte, die Religion, die Armee; zu stark hat jene entschlossene Hand die Formen geprägt, als daß sie in hundert Jahren verlöschen könnten, aber bald fehlt den Formen der Inhalt, die glühende Materie des schöpferischen Triebes. Als Bild verändert sich Versailles unter Ludwig XV. nicht, nur an Bedeutung: noch immer wimmeln in prachtvollen Livreen dreitausend, viertausend Bediente in den Gängen und Höfen, noch immer stehen zweitausend Pferde in den Ställen, noch immer funktioniert in wohlgeölten Scharnieren der künstliche Apparat der Etikette bei allen Bällen, Empfängen, Redouten und Maskeraden, noch immer paradieren durch die Spiegelsäle und goldschimmernden Gemächer die Kavaliere und Damen in brokatenen, seidenplissierten und edelsteinbesetzten Prunkkleidern, noch immer ist dieser Hof der berühmteste, raffinierteste und kultivierteste des damaligen Europa. Aber was vordem Ausdruck strömender Machtfülle gewesen, ist längst nur noch Leerlauf und seelenloser, sinnloser Betrieb. Wieder ist ein Ludwig König, aber er ist kein Herrscher mehr, sondern ein gleichgültiger Frauenknecht; auch er versammelt Erzbischöfe, Minister, Feldherren, Architekten, Dichter, Musiker um den Hof, aber so wie er selbst kein Ludwig XIV., so sind jene keine Bossuets mehr, keine Turennes, Richelieus, keine Mansarts, Colberts, Racines und Corneilles, sondern ein stellengieriges, geschmeidiges, ränkesüchtiges Geschlecht, das bloß genießen will, statt zu gestalten, nur am Geschaffenen schmarotzen, statt es mit Willen und Geist zu durchbluten. In diesem marmornen Treibhaus entfalten sich keine kühnen Pläne mehr, keine entschlossenen Neuerungen, keine dichterischen Werke, nur die Sumpfpflanzen der Intrige und Galanterie schießen hier üppig auf. Nicht die Leistung entscheidet mehr, sondern die Kabale, nicht das Verdienst, sondern die Protektion; wer am tiefsten beim Lever vor der Pompadour oder Dubarry den Rücken bückt, kommt am höchsten hinauf; statt der Tat gilt das Wort, statt des Wesens der Schein. Nur füreinander spielen sich diese Menschen in ewiger Inzucht ihre Rollen als König, als Staatsmann, als Priester, als Feldherr mit sehr viel Grazie völlig zwecklos vor; Frankreich, die Wirklichkeit, haben sie alle vergessen, nur an sich denken sie, an ihre Karriere, ihr Vergnügen. Versailles, von Ludwig XIV. als Forum Maximum Europas gedacht, sinkt unter Ludwig XV. herab zu einem Gesellschaftstheater adeliger Amateure, allerdings dem künstlichsten und kostspieligsten, das jemals die Welt gekannt hat.
Auf dieser großartigen Bühne erscheint jetzt mit dem zaudernden Schritt der Debütantin zum erstenmal ein fünfzehnjähriges Mädchen. Sie spielt zunächst nur eine kleine Proberolle: die der Dauphine, der Thronfolgerin. Aber die hochadelige Zuschauerschaft weiß, dieser kleinen blonden Erzherzogin aus Österreich ist für später die Hauptrolle in Versailles zugedacht, die Rolle der Königin, deshalb richten sich sofort nach ihrer Ankunft alle Blicke neugierig auf sie. Der erste Eindruck ist vortrefflich: seit langem hat man kein so reizvolles Mädchen hier auftreten sehen, das bezaubernd schlanke Figürchen wie aus Sèvres-Biskuit, der Teint wie bemaltes Porzellan, muntere blaue Augen, ein behender, übermütiger Mund, der auf das kindlichste zu lachen, auf anmutigste Weise zu schmollen versteht. Tadellos die Haltung: ein beschwingter graziöser Schritt, entzückend im Tanz, aber doch – man ist nicht umsonst Tochter einer Kaiserin – eine sichere Art, aufrecht und stolz durch die Spiegelgalerie zu schreiten und nach rechts und links ohne Befangenheit zu grüßen. Mit schlecht verhehltem Ärger erkennen die Damen, die in Abwesenheit einer Primadonna noch die erste Rolle spielen dürfen, in diesem schmalschulterigen und noch nicht ausgewachsenen Mädchen die siegreiche Rivalin. Nur einen Haltungsfehler muß die strenge Hofgesellschaft allerdings einmütig vermerken: dieses fünfzehnjährige Kind hat den merkwürdigen Wunsch, statt steif, sich kindlich unbefangen in diesen heiligen Hallen zu bewegen; ein Wildfang von Natur, saust die kleine Marie Antoinette fliegenden Rocks im Spiel mit den jüngeren Brüdern ihres Gatten herum; noch kann sie sich nicht an die öde Abgemessenheit, an die gefrorene Zurückhaltung gewöhnen, die hier von der Gemahlin eines königlichen Prinzen unablässig gefordert wird. Bei großen Gelegenheiten weiß sie sich tadellos zu benehmen, da sie ja selbst in einer ebenso pompösen, der spanisch-habsburgischen Etikette aufgewachsen ist. Aber in der Hofburg und in Schönbrunn gebärdete man sich nur bei feierlichen Anlässen so feierlich, man holte zu Empfängen das Zeremoniell wie ein Galakleid hervor, um es aufatmend abzulegen, sobald die Heiducken die Tür hinter den Gästen geschlossen hatten. Dann lockerte man sich auf, wurde gemütlich und familiär, die Kinder durften munter tollen und lustig sein; man bediente sich zwar in Schönbrunn der Etikette, aber man diente ihr nicht sklavisch wie einem Gott. Hier jedoch, an diesem preziösen und überalterten Hof, lebt man nicht, um zu leben, sondern einzig, um zu repräsentieren, und je höher einer im Rang steht, um so mehr Vorschriften. Also um Himmels willen nie eine spontane Geste, nur um keinen Preis sich natürlich geben, das wäre ein nicht wieder gutzumachender Verstoß gegen die Sitte. Von früh bis nachts, von nachts bis früh immer nur Haltung, Haltung, Haltung, sonst murrt das unerbittliche Schranzenpublikum, dessen Daseinszweck sich darin erschöpft, in diesem Theater und für dieses Theater zu leben.
Für diesen gräßlichen gravitätischen Ernst, für diese Zeremonieenheiligkeit von Versailles hat Marie Antoinette weder als Kind noch als Königin je Verständnis gehabt; sie begreift die fürchterliche Wichtigkeit nicht, die hier alle Menschen einem Kopfnicken, einem Voranschreiten beimessen, und wird sie niemals verstehen. Von Natur aus eigenwillig, trotzig und vor allem hemmungslos aufrichtig, haßt sie jede Art Eingeschränktheit; als echte Österreicherin will sie sich gehen lassen, sich leben lassen und nicht ständig diese unerträgliche Wichtigtuerei und Wichtignehmerei erdulden. Wie sie sich zu Hause von ihren Schulaufgaben gedrückt hat, so sucht sie auch hier bei jeder Gelegenheit ihrer strengen Hofdame, Madame de Noailles – die sie höhnisch »Madame Etikette« nennt, – zu entwischen; unbewußt will dieses von der Politik zu früh verschacherte Kind das einzige, was man ihr inmitten des Luxus ihrer Stellung vorenthält: ein paar Jahre wirklicher Kindheit.
Ab er eine Kronprinzessin soll und darf nicht mehr Kind sein: alles verbündet sich, um ihr die Verpflichtung zur unerschütterbaren Würde in Erinnerung zu bringen. Die Haupterziehung fällt neben der frömmlerischen Obersthofmeisterin den drei Tanten zu, den Töchtern Ludwigs XV., drei sitzen gebliebenen bigotten und bösartigen Jungfern, deren Tugend auch das böseste Schandmaul nicht zu bezweifeln wagt. Madame Adelaide, Madame Victoire, Madame Sophie, diese drei Parzen, nehmen sich der von ihrem Gatten vernachlässigten Marie Antoinette scheinbar freundschaftlich an; in ihrem versteckten Schmollwinkel wird sie in die ganze Strategie des höfischen Kleinkriegs eingeweiht, sie soll dort die Kunst der médisance, der heimtückischen Bosheiten, der unterirdischen Intrige lernen, die Technik der kleinen Nadelstiche. Anfangs macht diese neue Lehre der kleinen unerfahrenen Marie Antoinette Spaß, arglos plappert sie die gesalzenen Bonmots nach, aber im Grunde widerstrebt ihre eingeborene Aufrichtigkeit solchen Böswilligkeiten. Sich zu verstellen, ihre Gefühle in Haß oder Zuneigung zu verbergen, hat Marie Antoinette zu ihrem Schaden niemals erlernt, und bald macht sie sich auch aus richtigem Instinkt von der Vormundschaft der Tanten frei: alles Unehrliche ist ihrer geraden und hemmungslosen Natur zuwider. Ebensowenig Glück hat die Komtesse de Noailles mit ihrer Schülerin; unablässig empört sich das unbändige Temperament der Fünfzehnjährigen, der Sechzehnjährigen gegen die »mesure«, gegen die abgezirkelte, immer an einen Paragraphen gebundene Tageseinteilung. Aber daran darf nichts geändert werden. Sie schildert selbst ihren Tag: »Ich stehe um neuneinhalb oder um zehn Uhr auf, kleide mich an und sage mein Morgengebet. Dann frühstücke ich und gehe zu den Tanten, wo ich gewöhnlich den König treffe. Das währt bis zehneinhalb Uhr. Hierauf, um elf, gehe ich mich frisieren. Zu Mittag ruft man meinen Hofstaat, und da dürfen alle eintreten, außer Leuten ohne Rang und Namen. Ich lege Rot auf und wasche mir vor den Versammelten die Hände, dann entfernen sich die Männer, die Damen bleiben, und ich kleide mich vor ihnen an. Um zwölf ist Kirchgang. Ist der König in Versailles, so gehe ich mit ihm, meinem Gatten und den Tanten zur Messe. Ist er abwesend, so gehe ich allein mit dem Herrn Dauphin, aber immer zur selben Zeit. Nach der Messe essen wir öffentlich zu Mittag, aber das ist um einhalb zwei Uhr zu Ende, denn wir essen beide sehr rasch. Hierauf gehe ich zum Herrn Dauphin, und wenn er beschäftigt ist, kehre ich in mein Zimmer zurück, ich lese, schreibe oder arbeite, denn ich mache für den König einen Rock, mit dem es nur langsam vorwärts geht, aber ich hoffe, daß er mit Hilfe Gottes in einigen Jahren fertig sein wird. Um drei Uhr gehe ich wieder zu den Tanten, bei denen sich der König um diese Zeit einfindet; um vier Uhr kommt der Abbé zu mir, um fünf Uhr der Klavierlehrer oder der Gesangslehrer, bis sechs Uhr. Um einhalb sieben gehe ich fast immer zu den Tanten, wenn ich nicht spazieren gehe. Du mußt wissen, daß mein Gatte fast immer mit mir zu den Tanten geht. Von sieben bis neun Uhr spielt man, aber wenn es schön ist, gehe ich spazieren, und dann findet das Spiel nicht bei mir, sondern bei den Tanten statt. Um neun Uhr speisen wir zu Abend, und wenn der König nicht da ist, essen die Tanten bei uns. Aber wenn der König anwesend ist, gehen wir nach dem Nachtessen zu ihnen. Wir erwarten den König, der gewöhnlich um dreiviertel elf Uhr kommt. Ich aber lege mich inzwischen auf ein großes Kanapee und schlafe bis zur Ankunft des Königs, aber wenn er nicht da ist, gehen wir um elf Uhr schlafen. So ist meine Tageseinteilung.«
In diesem Stundenplan bleibt für Amüsements nicht viel Raum, gerade danach aber verlangt ihr ungeduldiges Herz. Das jugendlich moussierende Blut in ihr möchte sich noch austollen, sie möchte spielen, lachen, Unfug treiben, aber sofort hebt dann »Madame Etikette« den strengen Finger und mahnt, dies und jenes und eigentlich alles, was Marie Antoinette wolle, sei unmöglich vereinbar mit der Stellung einer Dauphine. Noch schlimmer trifft es der Abbé Vermond mit ihr, der einstige Lehrer, jetzt ihr Beichtvater und Vorleser. Eigentlich hätte Marie Antoinette noch furchtbar viel zu lernen, denn ihre Bildung steht tief unter dem Durchschnitt: mit fünfzehn Jahren hat sie ihr Deutsch schon ziemlich vergessen, das Französische noch nicht völlig erlernt, ihre Schrift ist jämmerlich ungelenk, ihr Stil strotzt von Unmöglichkeiten und orthographischen Fehlern; noch immer muß sie sich die Briefe vom hilfreichen Abbé aufsetzen lassen. Außerdem soll er ihr täglich eine Stunde vorlesen und sie selbst zum Lesen zwingen, denn Maria Theresia fragt fast in jedem Brief nach der Lektüre. Sie glaubt nicht recht dem Bericht, daß ihre Toinette wirklich jeden Nachmittag liest oder schreibt. »Such Dir doch den Kopf mit guter Lektüre auszutapezieren«, mahnt sie, »sie ist für Dich notwendiger als für jeden anderen. Ich warte seit zwei Monaten auf die Liste des Abbé und fürchte, Du hast Dich damit nicht befaßt, und die Esel und Pferde haben die für die Bücher bestimmte Zeit weggetragen. Vernachlässige jetzt im Winter diese Beschäftigung nicht, da Du doch keine andere recht beherrschst, weder Musik noch Zeichnen, Tanz, Malerei oder andere schöne Wissenschaften.« Leider hat Maria Theresia mit ihrem Mißtrauen recht, denn mit einer gleichzeitig naiven und geschickten Art weiß die kleine Toinette den Abbé Vermond – man kann doch eine Dauphine nicht zwingen oder strafen! – so völlig zu umgarnen, daß die Lesestunde immer zur Plauderstunde wird; sie lernt wenig oder nichts und ist durch kein Drängen der Mutter mehr zu einer ernsten Beschäftigung zu bringen. Eine gerade, eine gesunde Entwicklung ist durch die zu früh erzwungene Ehe gestört. Dem Titel nach Frau, in Wirklichkeit noch Kind, soll Marie Antoinette bereits Würde und Rang majestätisch vertreten, anderseits noch auf der Schulbank die untersten Kenntnisse einer Volksschulbildung nachlernen; bald behandelt man sie als große Dame, bald wird sie gerüffelt wie ein kleines unmündiges Kind; die Hofdame verlangt von ihr Repräsentation, die Tanten Intrigen, die Mutter Bildung; ihr junges Herz aber will nichts, als leben und jung sein, und in diesen Widersprüchen des Alters und der Stellung, des eigenen Willens und jenes der andern entsteht in diesem sonst durchaus gerade gewachsenen Charakter jene unbändige Unruhe und Ungeduld nach Freiheit, die später Marie Antoinettes Schicksal so verhängnisvoll bestimmt.
Um diese gefährliche und gefährdete Stellung ihrer Tochter an dem fremden Hofe weiß Maria Theresia Bescheid, sie weiß auch, daß dieses viel zu junge, unernste und flatterige Geschöpf nie imstande sein wird, aus eigenem Instinkt alle die Fuchsfallen der Intrigen und Fallstricke der Palast-Politik zu umgehen. So hat sie ihr den besten Mann, den sie unter ihren Diplomaten besitzt, den Grafen Mercy, als getreuen Eckart beigegeben. »Ich fürchte«, hatte sie ihm mit wunderbarer Offenheit geschrieben, »das Übermaß an Jugend bei meiner Tochter, das Zuviel an Schmeichelei um sie, ihre Trägheit und ihren mangelnden Sinn für ernste Tätigkeit, und ich beauftrage Sie, da ich Ihnen ganz vertraue, darüber zu wachen, daß sie nicht in schlechte Hände gerate.« Die Kaiserin hätte keine bessere Wahl treffen können. Geborener Belgier, aber ganz der Monarchin ergeben, ein Mensch von Hof, aber kein Höfling, kühl denkend, aber darum nicht kalt, klarsinnig, wenn auch nicht genial, übernimmt dieser reiche, unehrgeizige Junggeselle, der nichts anderes im Leben will, als seiner Monarchin vollendet dienen, diesen Schutzposten mit allem erdenklichen Takt und rührender Treue. Scheinbar der Botschafter der Kaiserin am Hofe von Versailles, ist er in Wahrheit nur das Auge, das Ohr, die hilfreiche Hand der Mutter: wie durch ein Fernrohr kann, dank seiner genauen Berichte, Maria Theresia von Schönbrunn aus ihre Tochter beobachten. Sie weiß jedes Wort, das sie spricht, jedes Buch, das sie liest oder vielmehr nicht liest, sie kennt jedes Kleid, das sie anzieht, sie erfährt, wie Marie Antoinette jeden Tag verbringt oder vertut, mit welchen Menschen sie spricht, welche Fehler sie begeht, denn Mercy hat mit großer Geschicklichkeit das Netz um seinen Schützling ganz eng gezogen. »Ich habe mich dreier Personen aus dem Dienstpersonal der Erzherzogin versichert, ich lasse sie Tag für Tag durch Vermond beobachten, und ich weiß von der Marquise Durfort bis auf das letzte Wort, was sie mit ihren Tanten plaudert. Ich habe noch mehr Mittel und Wege, um zu erfahren, was sich beim König ereignet, wenn die Dauphine sich dort befindet. Dazu füge ich noch meine eigenen Beobachtungen, so daß es keine einzige Stunde des Tages gibt, von der ich nicht Rechnung legen könnte, was sie getan, gesagt oder gehört hat. Und ich dehne meine Nachforschungen immer nur so weit aus, als zur Beruhigung Eurer Majestät notwendig ist.« Was er hört und erspäht, berichtet dieser treuredliche Diener in völlig schonungsloser Wahrhaftigkeit. Besondere Kuriere übermitteln, weil der gegenseitige Postdiebstahl damals die Hauptkunst der Diplomatie darstellte, diese intimen, ausschließlich für Maria Theresia bestimmten Berichte, die dank verschlossener Umschläge mit der Aufschrift »tibi soli« nicht einmal dem Staatskanzler und Kaiser Joseph zugänglich sind. Manchmal allerdings wundert sich die arglose Marie Antoinette, wie rasch und genau man in Schönbrunn über jede Einzelheit ihres Lebens unterrichtet ist, aber nie ahnt sie, daß jener grauhaarige väterlich freundliche Herr der intime Spion ihrer Mutter ist und daß die mahnenden, geheimnisvoll allwissenden Briefe ihrer Mutter von Mercy selbst erbeten und abgestimmt sind. Denn Mercy hat kein anderes Mittel, um das unbändige Mädchen zu beeinflussen, als die mütterliche Autorität. Als Botschafter eines fremden, wenn auch befreundeten Hofes, ist es ihm nicht erlaubt, einer Thronfolgerin moralische Verhaltungsmaßregeln zu erteilen, er darf sich nicht anmaßen, die zukünftige Königin von Frankreich erziehen oder beeinflussen zu wollen. So bestellt er immer, wenn er etwas erreichen will, einen jener liebevoll strengen Briefe, die Marie Antoinette mit Herzklopfen empfängt und öffnet. Niemandem auf Erden sonst Untertan, hat dieses unernste Kind doch eine heilige Scheu, wenn sie die Stimme der Mutter – und sei es nur im geschriebenen Wort – vernimmt; ehrfürchtig beugt sie auch vor dem härtesten Tadel das Haupt.
Dank dieser unablässigen Überwachung ist Marie Antoinette die ersten Jahre vor der äußersten Gefahr bewahrt: vor ihrem eigenen Übermaß. Ein anderer, ein stärkerer Geist, die große und weitblickende Intelligenz ihrer Mutter denkt für sie, ein entschlossener Ernst wacht über ihre Leichtfertigkeit. Und was die Kaiserin an Marie Antoinette verschuldet, indem sie zu früh dieses junge Leben der Staatsräson hinopferte, sucht die Mutter mit tausend Sorgen wieder zurückzukaufen.
Gutmütig, herzlich und gedankenfaul hat Marie Antoinette, das Kind, eigentlich gegen alle diese Leute um sie herum keine Antipathie. Sie mag den angeheirateten Großpapa Ludwig XV., der sie freundlich tätschelt, recht gern, sie verträgt sich leidlich mit den alten Jungfern und der »Madame Etikette«, sie hegt Vertrauen zu dem guten Beichtiger Vermond und eine kindlich respektvolle Neigung für den stillen freundlichen Freund ihrer Mutter, den Botschafter Mercy. Aber doch, aber doch, alle die sind alte Leute, alle ernst, gemessen, feierlich, gravitätisch, und sie, die Fünfzehnjährige, möchte gern mit jemand unbefangen befreundet, heiter und zutraulich sein; Spielkameraden möchte sie und nicht nur Lehrer, Aufpasser und Zurechtweiser; ihre Jugend dürstet nach Jugend. Aber mit wem hier heiter sein in diesem grausam feierlichen Haus aus kaltem Marmor, mit wem hier spielen? Der rechte Spielkamerad dem Alter nach wäre ihr eigentlich zugesellt, der eigene Gatte, bloß um ein einziges Jahr älter als sie. Aber muffig, verlegen, und aus Verlegenheit oft sogar grob, weicht dieser linkische Geselle jeder Vertraulichkeit mit seiner jungen Frau aus; auch er hat nie das mindeste Verlangen gezeigt, so früh verheiratet zu werden, und es braucht gute Zeit, bis er sich überhaupt entschließt, mit diesem fremden Mädchen halbwegs höflich zu sein. So bleiben nur die jüngeren Brüder des Gatten, die Grafen von Provence und Artois; mit dem vierzehnjährigen und dreizehnjährigen treibt Marie Antoinette manchmal kindlichen Spaß, sie borgen sich Kostüme zusammen und spielen heimlich Theater, doch rasch muß alles versteckt werden, sobald »Madame Etikette« naht: eine Dauphine darf sich nicht beim Spiel ertappen lassen! Aber irgend etwas zum Lustigsein, zum Zärtlichsein braucht dieses unbändige Kind; einmal wendet sie sich an den Botschafter, man möchte ihr aus Wien einen Hund, »un chien Mops«, schicken, ein andermal entdeckt die strenge Gouvernante, daß sich die Thronfolgerin von Frankreich – Entsetzen! – die zwei kleinen Kinder einer Aufwartefrau in ihr Zimmer geholt hat und ohne Achtung für die schönen Kleider auf dem Boden mit ihnen herumrutscht und tollt. Von der ersten Stunde bis zur letzten kämpft der freie, natürliche Mensch in Marie Antoinette gegen die Unnatürlichkeit dieser erheirateten Umwelt, gegen das Preziös-Pathetische dieser Reifrock- und Schnürbrusthaltung. Immer hat sich diese leichte und lockere Wienerin in dem tausendfenstrigen feierlichen Palast von Versailles als Fremde gefühlt.
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Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.