Die letzte Einsamkeit


Entlastung: das Letzte ist gesagt, noch einmal konnte frei das Gefühl entströmen. Nun ist es leichter, ruhig und gefaßt das Kommende zu erwarten. Marie Antoinette hat Abschied genommen von der Welt. Sie hofft nichts mehr, sie versucht nichts mehr. Auf den Wiener Hof, auf den Sieg der französischen Truppen ist nicht mehr zu zählen, und in der Stadt weiß sie, seit Jarjayes sie verlassen und der treue Toulan auf Befehl der Kommune entfernt ist, keine Retter mehr. Dank der Spionin Tison ist die Stadtverwaltung auf die Wächter aufmerksam geworden; war der Versuch einer Befreiung vordem schon gefahrvoll, nun wäre er unsinnig und selbstmörderisch.


Aber es gibt Naturen, welche gerade die Gefahr geheimnisvoll anzieht, Va-banque-Spieler des Lebens, die erst dann die Fülle ihrer Kraft fühlen, wenn sie das Unmögliche wagen, und denen das verwegene Abenteuer die einzig gemäße Form des Daseins ist. In mittleren Zeiten können solche Menschen nicht atmen; zu langweilig wird ihnen da das Leben, zu eng, zu feige jede Tat, sie brauchen tolle Aufgaben für ihre Tollkühnheit, wilde und wahnwitzige Ziele, und das Unsinnige, das Unmögliche zu versuchen, ist ihre tiefste Leidenschaft. Ein solcher Mann lebt damals in Paris, er heißt Baron de Batz. Solange das Königtum in Glanz und Ehren stand, hat sich dieser reiche Edelmann hochmütig im Hintergrunde gehalten; wozu seinen Nacken beugen um eine Stellung, eine Pfründe? Den Abenteurer in ihm lockt erst die Gefahr heraus. Erst, da alle den verurteilten König als verloren aufgeben, wirft sich dieser Don Quichotte der Königstreue unsinnig-heldisch in den Kampf, um ihn zu retten. Selbstverständlich bleibt dieser Tollkopf während der ganzen Revolution an der allergefährlichsten Stelle: unter Dutzenden von fremden Namen versteckt er sich in Paris, um als einzelne anonyme Person die Revolution zu bekämpfen. Er opfert sein ganzes Vermögen für zahllose Unternehmungen, von denen bisher die tollste gewesen, daß er, als Ludwig XVI. zur Hinrichtung geführt wurde, plötzlich mitten unter den achtzigtausend bewaffneten Menschen vorspringt, den Säbel schwingt und laut ruft: »Zu mir, wer den König retten will!« Aber niemand schließt sich an. In ganz Frankreich besitzt keiner so viel wahnwitzigen Mut, zu versuchen, einer ganzen Stadt, einer ganzen Armee am hell-lichten Tage einen einzelnen Mann entreißen zu wollen. Und so taucht Baron de Batz, ehe sich die Wachen von ihrer Überraschung erholen können, wieder in die Menge unter. Aber dieser Mißerfolg hat ihn nicht mutlos gemacht, und er rüstet, seine eigene Tat zu übertreffen, indem er nach der Hinrichtung des Königs sofort einen phantastisch kühnen Plan zur Rettung der Königin in Szene setzt.


Baron de Batz hat den schwachen Punkt der Revolution mit kundigem Blick erkannt, ihren innersten, geheimen Giftkeim, den Robespierre mit glühenden Eisen auszubrennen sucht: die beginnende Korruption. Mit der politischen Macht haben die Revolutionäre Staatsstellungen bekommen, und an allen Staatsstellungen klebt Geld, dieses gefährliche Korrosiv, das sich an die Seelen setzt wie Rost an den Stahl. Proletarische Existenzen, kleine Leute, die nie mit größeren Beträgen zu tun hatten, Handwerker, Schreiber und bisher beruflose Agitatoren haben jetzt plötzlich Riesensummen bei der Vergebung von Kriegslieferungen, bei den Requisitionen, beim Verkauf der Emigrantengüter ohne Kontrolle zu verwalten, und nicht allzu viele besitzen die katonische Strenge, dieser ungeheuren Versuchung standzuhalten. Zwischen Gesinnung und Geschäft bilden sich dunkle Verbindungen, nach den Verdiensten um die Republik wollen manche der wildesten Revolutionäre nun ganz wild an ihr verdienen. In diesen Karpfenteich der Korruptionisten, die sich grimmig um ihre Beute balgen, wirft Baron de Batz entschlossen seinen Angelhaken, indem er ein magisches Wort flüstert, das heute nicht minder als damals die Sinne benebelt, das Wort: Eine Million. Eine Million für all jene, welche die Königin aus dem Temple herausholen helfen! Mit einer solchen Summe kann man selbst die dicksten Gefängnismauern sprengen, denn Baron de Batz arbeitet nicht wie Jarjayes mit subalternen Helfern, mit Lampenanzündern und einzelnen Soldaten, er geht kühn und entschlossen auf das Ganze: er kauft nicht die Unterbeamten, sondern die Hauptorgane des Überwachungssystems, vor allem den wichtigsten Mann des Stadtrats, den früheren Limonadenhändler Michonis, dem die Inspektion aller Gefängnisse, also auch des Temple, untersteht. Sein zweiter Stein im Brett ist der militärische Leiter der ganzen Sektion, Cortey. Damit hat dieser von allen Amtsstellen und der Polizei Tag und Nacht steckbrieflich gesuchte Royalist sowohl die Zivilbehörde wie die Militärüberwachung des Temple in seiner Hand und kann, während man im Konvent und Sicherheitsausschuß laut gegen den »infamen Batz« donnert, gut gedeckt an seine Aufgabe gehen.


Mit solch nervenloser Kälte in der Berechnung und Bestechung verbindet dieser Meisterverschwörer Baron de Batz aber gleichzeitig einen flammenden persönlichen Mut. Er, hinter dem Hunderte von Spionen und Agenten verzweifelt im ganzen Lande herjagen – der Sicherheitsausschuß weiß bereits, daß er Plan um Plan für den Untergang der Republik ausheckt –, läßt sich als gewöhnlicher Soldat in die Wachkompagnie des Temple unter dem Namen Forguet einreihen, um persönlich das Terrain auszukundschaften. Das Gewehr in der Hand, in dem schmutzigen und verlotterten Kleid eines Nationalgardisten, macht der millionenreiche und verwöhnte Aristokrat mit all den andern Soldaten groben Kommißdienst vor den Türen der Königin. Ob es ihm gelungen ist, zu Marie Antoinette selbst vorzudringen, ist nicht bekannt, und dies war für den eigentlichen Plan auch nicht nötig, denn Michonis, der seinen reichlichen Anteil an der Million haben soll, hat zweifellos selbst die Königin verständigt. Gleichzeitig werden dank dem erkauften Einverständnis des Militärkommandanten Cortey unter die Mannschaft der Wachkompagnieen immer mehr und mehr Helfershelfer des Barons eingeschmuggelt. So ergibt sich schließlich eine der verblüffendsten und unwahrscheinlichsten Situationen der Weltgeschichte: an einem bestimmten Tage wird, 1793, mitten im revolutionären Paris das ganze Geviert des Temple, das kein Unberufener ohne Erlaubnis der Stadtverwaltung betreten darf, und darin Marie Antoinette, die geächtete, gefangene Königin von Frankreich, ausschließlich von Feinden der Republik, von einem Bataillon verkleideter Royalisten bewacht, ihr Führer aber ist der vom Konvent, vom Sicherheitsausschuß mit hundert Dekreten und Steckbriefen verfolgte Baron de Batz: eine tollere, kühnere Umstellung hat nie ein Dichter ersonnen.


Endlich scheint Batz die Stunde reif für den entscheidenden Handstreich. Die Nacht ist gekommen, die, wenn die Tat gelingt, eine der unvergeßlichen und schicksalumformenden der Weltgeschichte werden könnte, denn in ihr soll der neue König von Frankreich, Ludwig XVII., für immer aus dem Machtbereich der Revolution geholt werden. In dieser Nacht spielen Baron de Batz und das Schicksal um Gedeihen oder Verderben der Republik. Es wird Abend, es wird dunkel, alles ist bis ins einzelne vorbereitet. In den Hof marschiert der bestochene Cortey mit seinem Detachement ein, mit ihm der Führer des Komplotts, Baron de Batz. Cortey verteilt die Mannschaften derart, daß gerade die entscheidenden Ausgänge sich ausschließlich in den Händen der von Baron de Batz angeworbenen Royalisten befinden. Gleichzeitig hat der andere Bestochene, hat Michonis den Dienst in den Zimmern übernommen und bereits Marie Antoinette, Madame Elisabeth und die Tochter Marie Antoinettes mit Uniformmänteln versorgt. Um Mitternacht sollen diese drei, Militärmützen übergestülpt, das Gewehr über der Schulter, wie eine gewöhnliche Patrouille mit einigen andern der falschen Nationalgarden unter dem Befehl Corteys aus dem Temple hinausmarschieren, den kleinen Dauphin in ihrer Mitte. Alles scheint gesichert, der Plan klappt bis in die kleinste Einzelheit. Da Cortey als Kommandant der Garde das Recht hat, jederzeit die großen Tore für seine Patrouillen öffnen zu lassen, ist es so gut wie zweifellos, daß der von ihm persönlich geführte Trupp unbehelligt auf die Straße gelangen wird. Für alles Weitere hat der Meisterverschwörer Batz gesorgt, der unter falschem Namen ein eigenes Landhaus in der Nähe von Paris besitzt, in das noch nie Polizei eingedrungen ist: hier wird man zunächst die königliche Familie einige Wochen verstecken und sie bei erster, sicherer Gelegenheit über die Grenze bringen. Außerdem sind ein paar tüchtige, entschlossene junge Royalisten, jeder mit zwei Pistolen in der Tasche, auf der Straße postiert, um im Falle eines Alarms die Verfolger aufzuhalten. So irrwitzig verwegen er anmutet, der Plan ist bis ins kleinste durchdacht und eigentlich schon durchgeführt.


Es ist gegen elf Uhr. Marie Antoinette und die Ihren stehen bereit, jeden Augenblick den Befreiern zu folgen. Unten hören sie mit harten Schritten die Patrouille auf und ab marschieren, aber diese Bewachung schreckt sie nicht, denn sie wissen, unter dieser Sansculottenuniform schlagen befreundete Herzen. Michonis wartet nur auf das Zeichen des Baron de Batz. Da plötzlich – was ist geschehen? ängstlich fahren sie zusammen – hämmert es hart an das Tor des Gefängnisses. Um jeden Verdacht zu vermeiden, läßt man den Ankömmling sofort ein. Es ist der Schuster Simon, der ehrliche unbestechliche Revolutionär, Mitglied der Stadtverwaltung, der aufgeregt hereinstürzt, um sich zu überzeugen, ob die Königin nicht schon entführt sei. Vor einigen Stunden hat ihm ein Gendarm einen Zettel überbracht, Michonis plane für diese Nacht Verrat, und sofort hatte er die wichtige Nachricht den Stadtverordneten übermittelt. Diese glauben nicht recht an eine so romantische Geschichte; ihnen regnen tagtäglich Hunderte von Denunziationen auf den Tisch. Und dann, wie soll das möglich sein: Ist denn nicht der Temple von 280 Mann bewacht und von den verläßlichsten Kommissaren kontrolliert? Aber jedenfalls – was macht es aus? – beauftragen sie Simon, diese Nacht statt Michonis die Kontrolle über die Innenräume des Temple zu übernehmen. Sofort, als Cortey ihn kommen sieht, weiß er, daß alles verloren ist. Glücklicherweise vermutet Simon in ihm nicht im entferntesten den Mithelfer. »Da du hier bist, bin ich beruhigt«, sagt er kameradschaftlich zu ihm und geht zu Michonis hinauf, in den Turm.


Baron de Batz, der an diesem einen mißtrauischen Mann seinen ganzen Plan scheitern sieht, überlegt eine Sekunde: Soll er Simon nicht noch rasch nacheilen und ihm mit einem Pistolenschuß rechtzeitig den Schädel zerschmettern? Aber das hätte wenig Sinn. Denn der Schuß müßte die ganze übrige Wachmannschaft herbeirufen und dann: es muß ohnehin schon ein Verräter unter ihnen sein. Die Königin ist nicht mehr zu retten: jede Gewalttat würde ihr Leben unnötig gefährden. Jetzt heißt es, wenigstens jene heil aus dem Temple zu bringen, die sich verkleidet hineingeschlichen haben. Rasch formt Cortey, dem es gleichfalls arg schwül geworden ist, aus den Verschworenen eine Patrouille. Diese marschiert, unter ihnen Baron de Batz, ruhig aus dem Hofe des Temple auf die Straße hinaus: die Verschworenen sind gerettet, die Königin ist preisgegeben.


Unterdessen hat Simon zornig Michonis zur Rede gestellt; er solle sofort zur Rechenschaft vor die Stadtverwaltung. Michonis, der die Verkleidung rasch beiseite geschafft hat, bleibt unerschütterlich. Ohne Widerspruch folgt er dem gefährlichen Mann vor das gefährliche Tribunal. Aber sonderbar, man fertigt Simon dort ziemlich kühl ab. Man lobt zwar seinen Patriotismus, seinen guten Willen und seine Wachsamkeit, aber man gibt deutlich dem braven Simon zu verstehen, er habe Gespenster gesehen. Anscheinend nimmt der Stadtrat die ganze Verschwörung nicht ernst.


In Wirklichkeit – und dies gewährt tiefen Blick in die Schlangengänge der Politik – haben die Stadtverordneten diesen Fluchtversuch sehr ernst genommen und sich nur gehütet, darüber etwas verlauten zu lassen. Das beweist ein sehr merkwürdiger Akt, in dem der Wohlfahrtsausschuß ausdrücklich den öffentlichen Ankläger im Prozeß Marie Antoinettes anweist, alle Einzelheiten des großen, von Simon vereitelten Planes zu unterdrücken, in dem Batz und seine Helfershelfer mitwirkten. Nur über die Tatsache des Fluchtversuches sei zu sprechen, ohne die Einzelheiten zu nennen: der Stadtrat hatte Angst, die Welt wissen zu lassen, wie tief schon die Korruption seine besten Leute vergiftet hatte, und so blieb Jahre und Jahre eine der dramatischsten und unwahrscheinlichsten Episoden der Weltgeschichte verschwiegen.


Aber wenn der Stadtrat, über die Bestechlichkeit seiner scheinbar verläßlichsten Beamten bestürzt, öffentlich den Fluchthelfern keinen Prozeß zu machen wagt, so beschließt er, nunmehr schärfer zuzufassen und der verwegenen Frau, die, statt zu verzichten, mit dem Trotz ihres unbändigen Herzens immer wieder um ihre Freiheit kämpft, solche Versuche unmöglich zu machen. Zunächst werden die verdächtigen Kommissare, in erster Linie Toulan und Lepître, ihrer Stellung enthoben und Marie Antoinette wie eine Verbrecherin überwacht. Nachts um elf Uhr erscheint Hebert, der Rücksichtsloseste unter den Stadtverordneten, bei Marie Antoinette und Madame Elisabeth, die ahnungslos längst zu Bett gegangen sind, und macht von einem Befehl der Kommune, »nach Belieben« die Gemächer und Personen zu untersuchen, gründlichsten Gebrauch. Bis vier Uhr morgens wird jeder Raum, jedes Kleid, jede Lade und jedes Möbelstück durchstöbert.


Doch der Ertrag dieser Untersuchung bleibt ärgerlich gering – eine Brieftasche aus rotem Leder mit ein paar gleichgültigen Adressen, ein Bleistifthalter ohne Bleistift, ein Stück Siegellack, zwei Miniaturporträts und andere Erinnerungszeichen, ein alter Hut Ludwigs XVI. Die Durchforschungen werden erneuert, immer aber ohne belastendes Ergebnis. Marie Antoinette, die während der ganzen Revolutionszeit, um nicht unnötig ihre Freunde und Helfer bloßzustellen, beharrlich jedes Schriftstück sofort verbrannt hat, gibt auch diesmal den Untersuchungsbeamten nicht den geringsten Vorwand für eine Anklage. Verärgert, daß er die geistesgegenwärtige Kämpferin bei keiner beweisbaren Übertretung fassen kann, und doch anderseits überzeugt, daß sie von ihren undurchsichtigen Bemühungen nicht abläßt, entschließt sich der Stadtrat, die Frau dort zu verwunden, wo sie am empfindlichsten ist: in ihrem Muttergefühl. Diesmal trifft der Schlag mitten in ihr Herz. Am 1. Juli, wenige Tage nach der Aufdeckung der Verschwörung, erläßt der Wohlfahrtsausschuß im Auftrage des Stadtrats den Beschluß, daß der junge Dauphin, Louis Capet, von seiner Mutter getrennt und ohne jede Möglichkeit, sich mit ihr zu verständigen, im allersichersten Raum des Temple untergebracht oder, deutlicher und grausamer: der Mutter entzogen werden soll. Die Wahl des Erziehers wird dem Stadtrat vorbehalten, und dieser entscheidet sich, offenkundig aus Dankbarkeit für seine Wachsamkeit, für jenen Schuster Simon als den verläßlichsten und erprobtesten, weder durch Geld noch durch Empfindsamkeit und Gefühlsduselei zu erschütternden Sansculotten. Nun war Simon, ein einfacher, schlichter, grober Mann aus dem Volk, ein echter und rechter Proletarier, keineswegs jener wüste Trunkenbold und mörderische Sadist, zu dem ihn die Royalisten umgelogen haben; aber doch, welch gehässige Wahl eines Erziehers! Denn dieser Mann hat in seinem Leben wahrscheinlich nie ein Buch gelesen, er beherrscht, wie der einzige von ihm bekannte Brief beweist, nicht im entferntesten auch nur die Grundregeln der Orthographie: er ist ehrlicher Sansculotte, und das scheint 1793 schon genügend Eignung für jedes Amt. In scharfer Kurve hat sich die geistige Linie der Revolution seit den sechs Monaten niedergebogen, da man noch Condorcet, den vornehmen großen Schriftsteller, den Verfasser des »Progrès de l’esprit humain«, zum Erzieher des Thronfolgers von Frankreich in der Nationalversammlung in Aussicht nahm. Furchtbar ist dieser Unterschied gegenüber dem Schuster Simon. Aber von den drei Worten »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« hat der Begriff der Freiheit seit dem Überwachungsausschuß, jener der Brüderlichkeit seit der Guillotine beinahe so viel Entwertung erlitten wie die Assignaten; nur der Gedanke der Gleichheit, oder vielmehr der gewaltsamen Gleichmachung, beherrscht die letzte Phase, die radikale und gewalttätige, der Revolution. Bewußt wird damit die Absicht kundgegeben, der junge Dauphin solle nicht zu einem gebildeten, nicht einmal zu einem kultivierten Menschen erzogen werden, sondern geistig in der untersten ungebildetsten Volksklasse bleiben. Er soll völlig verlernen und vergessen, woher er stammt, und es damit den andern leichter machen, ihn zu vergessen.


Von diesem Entschluß des Konvents, das Kind ihrer mütterlichen Obhut zu entreißen, ahnt Marie Antoinette nicht das geringste, als um halb zehn Uhr abends sechs städtische Abgesandte an den Toren des Temple pochen. Die Methode der grausamen, der plötzlichen Überraschungen gehört zu Héberts System der Bestrafung. Immer erfolgen diese seine Inspektionen als plötzliche Überfälle spät nachts und ohne frühere Ansage. Das Kind ist längst zu Bett gebracht, die Königin und Madame Elisabeth sind noch wach. Die Stadtbeamten treten ein, mit Mißtrauen erhebt sich die Königin; noch keiner dieser nächtlichen Besuche hat ihr anderes als Erniedrigung oder schlechte Botschaft gebracht. Diesmal scheinen die Stadtbeamten selber ein wenig betreten. Es ist schwere Pflicht für sie, die meist selbst Familienväter sind, einer Mutter mitzuteilen, daß der Wohlfahrtsausschuß befohlen habe, sie müsse sofort, ohne jeden äußeren Grund und ohne recht von ihm Abschied nehmen zu können, ihren einzigen Sohn für immer fremder Obhut übergeben.


Über die Szenen, die sich zwischen der verzweifelten Mutter und den Magistratsbeamten in jener Nacht abspielten, haben wir keinen andern Bericht als jenen höchst unverläßlichen der einzigen Augenzeugin, der Tochter Marie Antoinettes. Ist es wahr, daß, wie die spätere Herzogin von Angoulême es schildert, Marie Antoinette diese Beamten, die doch nur ihren dienstlichen Auftrag auszuführen hatten, unter Tränen beschworen habe, ihr das Kind zu lassen? Daß sie ihnen zugerufen, sie sollten sie lieber selbst töten, als ihr den Sohn zu entreißen? Daß die Beamten (es klingt unwahrscheinlich, denn dazu hatten sie keinen Befehl) gedroht hätten, das Kind und die kleine Prinzessin bei längerer Weigerung umzubringen, und schließlich nach stundenlangem, handgreiflichem Kampf mit roher Gewalt das schreiende, schluchzende Kind mit sich geschleppt hätten? Der offizielle Bericht weiß nichts davon; ihrerseits melden die schönfärberischen Beamten: »Die Trennung hat sich mit allen Empfindungsausbrüchen vollzogen, die von einem solchen Augenblick zu erwarten waren. Die Vertreter des Volkes haben alle Rücksicht geübt, die sich mit der Strenge ihrer Pflicht in Einklang bringen ließ.« Hier steht also Bericht gegen Bericht, Partei gegen Partei, und wo Partei spricht, redet selten die Wahrheit. Aber eines ist nicht zu bezweifeln: Diese gewaltsame und unnötig grausame Trennung von ihrem Sohn ist vielleicht der schwerste Augenblick im Leben Marie Antoinettes gewesen. An diesem blonden, übermütigen, frühreifen Kind hat die Mutter besonders gehangen; dieser Knabe, in dem sie einen König erziehen wollte, er allein hat ihr mit seiner geschwätzigen Munterkeit, seiner neugierigen Fragelust die Stunden in dem einsamen Turm noch erträglich gemacht. Zweifellos hat er ihrem Herzen näher gestanden als die Tochter, die, ein mürrischer, düsterer, unfreundlicher Charakter, geistig träg und in jeder Beziehung unbedeutend, der ewig lebendigen Zärtlichkeit Marie Antoinettes nicht so viel Ausstrom bot wie dieser schöne, zarte und merkwürdig wache Junge, der auf so unsinnig gehässige und brutale Weise ihr nun für immer entrissen wird. Denn obwohl der Dauphin auch weiterhin das Geviert des Temple bewohnen darf, nur wenige Meter weit von dem Turm Marie Antoinettes, erlaubt ein unentschuldbarer Formalismus des Stadtrates der Mutter nicht, ein einziges Wort mit ihrem Kinde zu wechseln; selbst wenn sie hört, daß er krank ist, verbietet man ihr den Besuch: wie eine Pestkranke wird sie von jeder Begegnung ferngehalten. Sogar – abermalige sinnlose Grausamkeit – mit seinem sonderbaren Erzieher, dem Schuster Simon, darf sie nicht sprechen, jede Auskunft über ihren Sohn wird ihr verweigert; stumm und hilflos muß die Mutter ihr Kind im gleichen Luftraum nahe wissen, ohne es grüßen zu können, ohne mit ihm andere Fühlung haben zu dürfen, als die von keinem Erlaß zu verbietende des inneren Gefühls.


Endlich – kleiner unzulänglicher Trost! – entdeckt Marie Antoinette, daß man durch ein einziges winziges Treppenfenster des Turmes vom dritten Stock in jenen Teil des Hofes hinabspähen kann, in dem der Dauphin manchmal spielt. Und da steht nun stundenlang und unzählige Male vergeblich die geprüfte Frau, die einmal Königin des ganzen Reiches gewesen, und wartet, ob sie nicht verstohlenerweise (die Wächter sind nachsichtig) im Hofe ihres Gefängnisses ganz flüchtig den Umriß des geliebten hellen Schattens entdecken könnte. Das Kind, das nicht ahnt, daß von einer vergitterten Luke aus, den Blick oft von Tränen getrübt, seine Mutter jeder seiner Bewegungen folgt, spielt munter und unbesorgt (was weiß ein neunjähriges Kind von seinem Schicksal?). Der Knabe hat sich rasch, viel zu rasch in die neue Umwelt gefunden, er hat vergessen in seinem fröhlichen Dahin, wessen Kind er ist und wessen Blut und welchen Namens. Tapfer und laut singt er, ohne den Sinn zu ahnen, die »Carmagnole« und das »Ca ira«, das ihm Simon und dessen Gefährten eingelernt haben; er trägt die rote Mütze der Sansculotten und findet das lustig, er spaßt mit den Soldaten, die seine Mutter bewachen, – nicht nur durch die steinerne Mauer, sondern durch eine ganze Welt ist dieses Kind jetzt schon von ihr innerlich abgeschieden. Und trotzdem, das Herz schlägt der Mutter immer wieder stark und hell, wenn sie ihr Kind, das sie nur noch mit den Blicken, nicht mehr mit den Armen umfangen kann, so froh und unbekümmert spielen sieht, denn was wird aus dem Armen werden? Hat nicht Hébert, in dessen erbärmliche Hand der Konvent sie mitleidlos ausliefert, in seinem Schandblatt, dem »Père Duchesne«, schon die drohenden Worte geschrieben: »Arme Nation, dieser kleine Bengel wird dir früher oder später verhängnisvoll werden; je drolliger er jetzt ist, um so gefährlicher. Man sollte diese kleine Schlange und seine Schwester auf einer wüsten Insel aussetzen; man muß ihn um jeden Preis loswerden. Überdies, was zählt ein Kind, wenn es sich um das Wohl der Republik handelt?«


Was zählt ein Kind? Für Hébert nicht viel, die Mutter weiß es. Darum schauert sie jeden Tag, da sie ihren Liebling nicht im Hofe erspäht. Darum zittert sie auch immer vor wehrloser Wut, wenn dieser Feind ihres Herzens bei ihr eintritt, auf dessen Rat ihr das Kind entrissen wurde und der damit das verächtlichste Verbrechen innerhalb der moralischen Welt begangen hat: unnötige Grausamkeit gegen eine Besiegte. Daß die Revolution die Königin gerade Hébert, diesem ihrem Thersites, in die Hände gegeben, ist ein düsteres Blatt ihrer Geschichte, das man besser überschlägt. Denn selbst die reinste Idee wird niedrig und klein, sobald sie kleinen Menschen Macht gibt, in ihrem Namen Unmenschliches zu tun.


Lang sind jetzt die Stunden, und dunkler scheinen die vergitterten Räume im Turm, seit das Lachen des Kindes sie nicht mehr erhellt. Kein Laut, keine Nachricht kommt mehr von außen, die letzten Helfer sind verschwunden, die Freunde in der Ferne unerreichbar weit. Drei einsame Frauen sitzen beisammen, tagaus, tagein: Marie Antoinette, ihre kleine Tochter und Madame Elisabeth; sie haben einander längst nichts mehr zu erzählen, sie haben verlernt, zu hoffen, und vielleicht auch schon, zu fürchten. Sie gehen, obwohl es Frühling und schon Sommer wird, kaum noch in den kleinen Garten hinab, eine große Müdigkeit macht ihnen die Glieder schwer. Etwas erlischt auch in diesen Wochen der äußersten Prüfung in dem Antlitz der Königin. Blickt man jenes letzte Bild Marie Antoinettes an, das irgendein unbekannter Maler in diesem Sommer angefertigt, man würde kaum die einstige Königin der Schäferspiele, die Göttin des Rokoko darin erkennen, kaum auch die stolz und aufrecht kämpfende, majestätische Frau, die Marie Antoinette noch in den Tuilerien gewesen. Die Frau auf diesem ungelenken Bild, den Witwenschleier über dem weißgewordenen Haar, ist trotz ihrer achtunddreißig Jahre – sie hat zuviel erlitten – schon eine alte Frau. Das Glitzernde und Lebendige der einst so übermütigen Augen ist ausgeglommen, mit lässig niedergefallenen Händen in großer Müdigkeit sitzt sie da, bereit, jedem Ruf, und sei es auch dem zum Ende, willig und ohne Widerspruch zu folgen. Die einstige Anmut ihres Antlitzes ist einer gelassenen Trauer gewichen, die Unruhe einer großen Gleichgültigkeit. Von fern gesehen, würde man dies letzte Bild Marie Antoinettes für das einer Priorin, einer Äbtissin halten, einer Frau, die keine irdischen Gedanken mehr hat, keine Wünsche mehr an die Welt, die nicht mehr diesem, sondern schon einem andern Leben lebt. Nicht Schönheit fühlt man mehr darin, nicht mehr Mut, nicht mehr Kraft: nichts als eine große, eine stillduldende Gleichgültigkeit. Die Königin hat abgedankt, die Frau hat verzichtet; nur eine müde, matte Matrone hebt einen blauen klaren Blick, den nichts mehr erstaunen und erschrecken kann.


Sie erschrickt auch nicht, Marie Antoinette, als wenige Tage später um zwei Uhr morgens wiederum ein harter Schlag an ihrer Türe pocht. Was kann, nachdem man ihr den Mann, das Kind, den Geliebten, die Krone, die Ehre, die Freiheit genommen, die Welt noch gegen sie tun? Ruhig steht sie auf, kleidet sich an und läßt die Kommissare eintreten. Sie verlesen das Dekret des Konvents, das verlangt, die Witwe Capet solle, da Anklage gegen sie erhoben sei, in die Conciergerie eingeliefert werden. Marie Antoinette hört ruhig zu und antwortet nicht. Sie weiß, daß Anklage des Revolutionstribunals gleichbedeutend ist mit Verurteilung und Conciergerie mit dem Totenhaus. Aber sie bittet nicht, sie streitet nicht, sie ersucht nicht um Aufschub. Kein Wort erwidert sie diesen Menschen, die sie wie Mörder mit einer solchen Botschaft mitten in der Nacht überfallen. Gleichmütig läßt sie ihre Kleider durchsuchen und sich alles wegnehmen, was sie bei sich trägt. Nur ein Taschentuch darf sie behalten und ein kleines Fläschchen zur Herzstärkung. Dann muß sie noch einmal – wie oft hat sie es schon getan – Abschied nehmen, diesmal von ihrer Schwägerin und ihrer Tochter. Sie weiß, es ist der letzte. Aber die Welt hat sie an das Abschiednehmen schon gewöhnt.


Ohne sich umzuwenden, aufrecht und fest, schreitet Marie Antoinette zur Tür des Wohngemachs und sehr rasch die Treppe hinab. Jede Hilfe weist sie zurück, überflüssig war es, ihr das Fläschchen mit den starken Essenzen zu lassen für den Fall, daß ihre Kraft versagen sollte: schon ist sie selber von innen stark geworden. Das Schwerste ist längst erduldet: nichts mehr kann ärger sein als das Leben dieser letzten Monate. Jetzt kommt das Leichtere: das Sterben. Fast stürzt sie sich ihm entgegen. So hastig eilt sie fort aus diesem Turm der fürchterlichen Erinnerungen, daß sie – vielleicht umhüllen ihr Tränen die Augen – sich bei der niedern Ausgangspforte zu bücken vergißt und mit der Stirn heftig an den harten Balken stößt. Besorgt springen die Begleiter heran und fragen, ob sie sich wehe getan habe. »Nein«, antwortet sie ruhig, »jetzt kann mir nichts mehr wehe tun.«

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Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.