Die letzte Nacht in Versailles


Nie ist im tausendjährigen Frankreich so rasch die Saat gereift wie in diesem Sommer 1789. Hoch schießt das Korn in die Halme, aber rascher noch, nachdem einmal mit Blut gedüngt, die ungeduldige Saat der Revolution. Versäumnisse von Jahrzehnten, Ungerechtigkeiten von Jahrhunderten tilgt ein einziger Federstrich, nun wird die andere unsichtbare Bastille niedergerissen, in der die Rechte des französischen Volkes von ihren Königen eingekerkert waren. Am 4. August stürzt unter endlosem Jubel die uralte Zwingburg des Feudalismus ein, die Adeligen verzichten auf Fron und Zehnten, die Kirchenfürsten auf Zins und Salzsteuer, frei werden die Bauern, frei die Bürger, frei die Presse erklärt, die Menschenrechte werden verkündet; alle Träume Jean Jacques Rousseaus hat dieser Sommer wahr gemacht. Die Fenster klirren bald vom Jubel, bald vom Streit in diesem Saal der »Menus plaisirs« (von den Königen für ihre Vergnügungen, vom Volke nun für sein Recht bestimmt): hundert Schritte entfernt hört man schon das unaufhörliche Surren dieses menschlichen Bienenschwarms. Doch tausend Schritte weiter, im großen Palast von Versailles herrscht betroffene Stille. Erschreckt blickt der Hof aus den Fenstern hinüber auf diesen lärmenden Gast, der, obwohl nur zur Beratung entboten, sich bereits anschickt, den Herrn des Herrschers zu spielen. Wie diesen Zauberlehrling wieder heimschicken? Ratlos berät sich der König mit seinen Räten, die einer dem anderen widersprechen; am besten, man wartet ab, denken die Königin und der König, bis dieser Sturm sich ausgetobt hat. Nur stillhalten jetzt und sich im Hintergrund halten. Nur Zeit gewinnen, dann ist alles gewonnen.


Aber die Revolution will vorwärts, sie muß vorwärts, wenn sie nicht versanden soll, denn Revolution ist flutende Bewegung. Stehen bleiben wäre für sie Verhängnis, Rücklauf ihr Ende, sie muß verlangen, immer mehr verlangen, um sich zu behaupten, sie muß erobern, um nicht besiegt zu werden. Die Trommeln für diesen ruhelosen Vormarsch schlagen die Zeitungen; diese Kinder, diese Gassenbuben der Revolution laufen lärmend und zügellos der eigentlichen Armee voraus. Ein einziger Federstrich hat dem geschriebenen, dem gesprochenen Wort die Freiheit gegeben, jene, die in ihrem ersten Überschwang immer zu Wildheit und Maßlosigkeit wird. Zehn, zwanzig, dreißig, fünfzig Zeitungen entstehen. Mirabeau gründet eine, Desmoulins, Brissot, Loustalot, Marat, und da jede sich Leser herantrommeln und eine die andere an Bürgerpatriotismus überbieten will, so prasseln sie ohne Rücksicht los; im ganzen Land hört man nur sie. Nur recht laut, nur recht wild, je lauter, um so besser, und allen Haß auf den Hof gehäuft! Der König plane Verrat, die Regierung hindere die Kornzufuhr, fremde Regimenter rückten schon heran, die Versammlungen zu sprengen, es drohe eine neue Bartholomäusnacht. Wacht auf, Bürger! Wacht auf, Patrioten! Rataplan, rataplan, rataplan! trommeln die Zeitungen Tag und Nacht Angst, Mißtrauen, Wut, Erbitterung in Millionen Herzen hinein. Und hinter den Trommlern steht schon, mit Piken und Säbeln, und vor allem mit einem unermeßlichen Zorn bewehrt, die bisher noch unsichtbare Armee des französischen Volkes.


Dem König geht es zu schnell, der Revolution zu langsam, der vorsichtige beleibte Mann kann nicht Schritt halten mit dem leidenschaftlichen Vormarsch so junger Ideen. Versailles zögert und verzögert: also vorwärts, Paris! Mach ein Ende mit diesem langwierigen Parlamentieren, mit diesem unerträglichen Kuhhandel zwischen König und Volk, so trommeln die Zeitungen. Du hast hunderttausend, zweihunderttausend Fäuste, und in den Arsenalen liegen die Flinten, warten die Kanonen: hol sie heraus und hol dir den König, die Königin aus Versailles, nimm sie und damit dein Schicksal fest in die Hand! Im Hauptquartier der Revolution, im Palais des Herzogs von Orléans, dem Palais Royal, wird die Parole ausgegeben: schon ist alles gerüstet, und einer der Überläufer vom Hofe, der Marquis de Huruge, manövriert bereits heimlich die Expedition ein.


Aber zwischen dem Schloß und der Stadt laufen dunkle unterirdische Gänge. Die Patrioten in den Klubs wissen durch bestochene Dienstleute alles, was im Schloß geschieht, das Schloß wieder erfährt durch Agenten von dem geplanten Angriff. Man beschließt in Versailles, zu handeln, und bestellt, da die französischen Soldaten gegen ihre Mitbürger nicht mehr verläßlich genug sind, ein flandrisches Regiment zum Schutz des Palastes. Am ersten Oktober marschieren die Truppen von ihren Standquartieren nach Versailles, und um sie warm zu machen, bereitet der Hof ihnen einen feierlichen Empfang. Der große Opernsaal wird für ein Bankett ausgeräumt und ohne Rücksicht darauf, daß in Paris grimmige Lebensmittelnot herrscht, mit Wein und guten Speisen nicht gespart: auch die Treue geht, wie die Liebe, oft durch den Magen. Um die Truppen für ihren König noch besonders zu begeistern, begeben sich – bisher nie dagewesene Ehre – der König und die Königin mit dem Dauphin auf dem Arm in den Festsaal.


Marie Antoinette hat niemals die nützliche Kunst verstanden, durch bewußte Klugheit, durch Berechnung oder Schmeichelei Menschen zu gewinnen. Aber von Natur her ist ihrem Körper, ihrer Seele eine gewisse Hoheit eingeprägt, die auf jeden, der ihr zum erstenmal begegnet, gewinnend wirkt: weder ein Einzelner noch die Masse konnten sich jemals dieser merkwürdigen Magie des ersten Eindrucks (sie verflüchtigt sich dann nach näherer Bekanntschaft) entziehen. Auch diesmal springen bei dem hoheitsvollen und gleichzeitig liebenswürdigen Eintreten dieser schönen jungen Frau die Offiziere, die Soldaten von ihren Sitzen, begeistert fliegen die Degen aus den Scheiden, brausend wird ein »Vivat« auf den Herrscher und die Herrscherin ausgebracht und dabei wahrscheinlich jenes vorgeschriebene auf die Nation vergessen. Die Königin geht durch die Reihen. Sie kann bezaubernd lächeln, auf eine wunderbar unverbindliche Art freundlich sein, sie weiß, wie ihre autokratische Mutter, wie ihre Brüder, wie fast alle Habsburger (und diese Kunst hat sich in der österreichischen Aristokratie weitervererbt), bei innerlich unerschütterlichem Hochmut gerade mit den geringsten Leuten auf die natürlichste Weise höflich und zutunlich zu sein, ohne deshalb herablassend zu wirken. Mit einem ehrlich beglückten Lächeln, denn wie lange hat sie dies »Vive la Reine!« nicht mehr gehört, umschreitet sie mit ihren Kindern den Bankettisch, und der Anblick dieser gütig huldvollen, dieser wahrhaft königlichen Frau, die zu ihnen, den groben Soldaten, als Gast kommt, versetzt Offiziere und Mannschaft in eine Ekstase der Königstreue: in dieser Stunde ist jeder bereit, für Marie Antoinette zu sterben. Aber auch die Königin ist beseligt, da sie diese lärmende Runde verläßt; mit dem dargebotenen Willkommstrunk hat sie auch den goldenen Wein der Zuversicht wieder in sich getrunken: es gibt noch Treue, noch Sicherheit für den Thron in Frankreich.


Aber am nächsten Tage rasseln schon die Trommeln der patriotischen Journale, rataplan, rataplan, rataplan, die Königin und der Hof haben Mörder gegen das Volk gedungen. Man hat die Soldaten mit rotem Wein berauscht, damit sie das rote Blut ihrer Mitbürger gehorsam vergießen, sklavische Offiziere haben die dreifarbige Kokarde zu Boden getreten und verhöhnt, man hat knechtische Lieder gesungen – und all dies unter dem herausfordernden Lächeln der Königin. Merkt ihr es noch immer nicht, Patrioten? – Man will Paris überfallen, die Regimenter marschieren schon. Also auf jetzt, Bürger, auf zum letzten Kampf, auf zur Entscheidung! Sammelt euch, Patrioten, – rataplan, rataplan, rataplan…


Zwei Tage später, am 5. Oktober, entsteht Tumult in Paris. Er entsteht, und dies gehört zu den vielen undurchdringlichen Geheimnissen der Französischen Revolution, wie er eigentlich entstanden ist. Denn dieser Tumult, scheinbar elementar, erweist sich als wunderbar weitgedacht organisiert, als politisch unübertrefflich eingesetzt, der Schuß geht so gerade und genau von einer richtigen Stelle aufs richtige Ziel los, daß sehr kluge, sehr wissende, sehr geschickte und geübte Hände ihn abgefeuert haben müssen. Schon dies war ein Meistergedanke würdig eines Psychologen wie Choderlos de Laclos, der ja im Palais Royal für den Herzog von Orléans den Feldzug um die Krone leitet –, nicht mit einer Männerarmee, sondern mit einem Trupp von Frauen den König gewaltsam aus Versailles zu holen. Männer kann man Aufständische und Rebellen nennen; auf Männer schießt gehorsam ein gut kommandierter Soldat. Frauen aber wirken bei Volksaufständen immer bloß als Verzweifelte, vor ihrer weichen Brust zuckt das schärfste Bajonett zurück, und überdies, die Anstifter wissen es, ein so ängstlicher und sentimentaler Mann wie der König wird niemals Befehl geben, Kanonen auf Frauen zu richten. Also erst die Erregung hoch gespannt, indem – wieder weiß man nicht, durch wessen Hände und welche Machenschaften – die Brotzufuhr nach Paris zwei Tage künstlich zurückgehalten wird, damit Hunger entstehe, diese einzigartige Triebfeder des Volkszornes. Und dann, sobald der Wirbel in Gang kommt, die Frauen rasch heran, die Frauen nach vorn in die erste Reihe!


Tatsächlich ist es eine junge Frau, und man behauptet, sie hätte reich beringte Hände gehabt, die am Morgen des 5. Oktober in ein Wachlokal einbricht und eine Trommel ergreift. Hinter ihr sammelt sich im Nu ein Zug rasch anströmender Weiber, die laut nach Brot schreien. Der Tumult ist da, bald mengen sich verkleidete Männer in den Schwarm und geben dem brausenden Strom die vorbestimmte Richtung gegen das Stadthaus. Eine halbe Stunde später ist es gestürmt, Pistolen und Piken und sogar zwei Kanonen sind geraubt, und plötzlich – wer hat ihn bestellt und beeinflußt? – ist ein Führer da, namens Maillard, der diese ordnungslos quirlende Masse zur Armee ordnet und sie aufreizt, nach Versailles zu marschieren, angeblich um Brot, in Wirklichkeit um den König nach Paris zu holen. Zu spät, wie immer – es ist das Verhängnis dieses edelgläubigen und ehrlich ungeschickten Mannes, immer eine Stunde hinter den Ereignissen zu sein –, kommt Lafayette, der Befehlshaber der Nationalgarde, heran auf seinem weißen Pferd. Seine Aufgabe wäre natürlich – und er möchte sie redlich durchsetzen –, den Abmarsch zu verhindern, aber seine Soldaten folgen ihm nicht. So bleibt ihm nur übrig, mit seiner Nationalgarde der Weiberarmee nachzumarschieren, um die offene Revolte nachträglich mit einem Schein von Gesetzlichkeit zu bemänteln. Kein edles Amt, er weiß es, der alte Freiheitsschwärmer, und ist seiner Aufgabe nicht froh. Auf seinem berühmten Schimmel trabt Lafayette düster hinter der Revolutionsarmee der Weiber her, Sinnbild der kühlen, logisch berechnenden, machtlos menschlichen Vernunft, die sich vergebens bemüht, die herrlich unlogische Leidenschaft der Elemente einzuholen.


Der Hof von Versailles ahnt bis Mittag nichts von der tausendköpfig anmarschierenden Gefahr. Wie tagtäglich hat der König sein Jagdpferd satteln lassen und ist in die Wälder von Meudon geritten; die Königin wiederum ist am frühen Morgen allein zu Fuß nach Trianon gegangen. Was soll sie in Versailles, dem riesigen Schloß, aus dem der Hof und die besten Freunde längst geflohen sind und wo nebenan in der Nationalversammlung jeden Tag die »factieux« neue gehässige Anträge gegen sie stellen? Ach, sie ist müde all dieser Erbitterungen, dieses Kämpfens ins Leere, müde der Menschen, müde selbst ihres Königinseins. Nur rasten jetzt, nur ein paar Stunden still sitzen, ohne Menschen, weit weg von aller Politik, im herbstlichen Park, dem Oktobersonne die Blätter verkupfert! Nur still die letzten Blumen in den Beeten pflücken, ehe der Winter kommt, der furchtbare, und vielleicht noch die Hühner füttern und die chinesischen Goldfische im kleinen Teich. Und dann ausruhen, endlich ausruhen von all den Aufregungen und Verstörungen; nichts tun, nichts wollen, als mit gelösten Händen da in der Grotte, im einfachen Morgenkleid sitzen, ein aufgeschlagenes Buch auf der Bank, ohne es zu lesen, die große Müdigkeit der Natur nachfühlen und den Herbst im eigenen Herzen.


So sitzt die Königin in der Grotte auf der Felsenbank – längst hat sie vergessen, daß man sie einst die »Liebesgrotte« nannte –, da sieht sie auf dem Weg einen Pagen kommen, einen Brief in der Hand. Sie steht auf und geht ihm entgegen. Der Brief ist vom Minister Saint-Priest und meldet, der Pöbel marschiere nach Versailles, die Königin möge unverzüglich zurück ins Schloß kommen. Rasch rafft sie ihren Hut, ihren Mantel zusammen und eilt hinüber mit ihrem jung und beschwingt gebliebenen Schritt, so rasch wahrscheinlich, daß sie gar keinen Blick mehr zurückwendet auf das kleine geliebte Schloß und die mit soviel spielerischer Mühe künstlich erbaute Landschaft. Denn wie kann sie ahnen, daß sie diese weichen Wiesen, diesen zärtlichen Hügel mit dem Liebestempel und dem herbstlichen Teich, daß sie ihr Hameau, ihr Trianon zum letztenmal im Leben gesehen hat, daß dies schon der Abschied für immer gewesen!


Im Schlosse findet Marie Antoinette Adelsherren und Minister in ratloser Erregung. Nur ungewisse Gerüchte vom Anmarsch aus Paris sind von einem vorausgeeilten Diener hergebracht worden, alle späteren Boten haben die Weiber unterwegs festgehalten. Da, endlich, jagt ein Reiter heran, springt vom schäumenden Pferd und hastig die Marmortreppe hinauf: Fersen. Beim Anzeichen der Gefahr hat sich der immer sich Aufopfernde in den Sattel geschwungen und ist der Weiberarmee, den »achttausend Judiths«, wie sie Camille Desmoulins pathetisch nennt, in scharfem Galopp vorausgeprescht, um im Augenblicke der Gefahr an der Seite der Königin zu sein. Endlich taucht auch der König im Rate auf. Man hat ihn im Walde bei der Porte de Châtillon aufgefunden und bei seinem liebsten Vergnügen stören müssen. Ärgerlich wird sein Tagebuch abends ein ärmliches Jagdresultat verzeichnen mit dem Vermerk: »Unterbrochen durch die Ereignisse.«


Nun steht er da, bestürzt, mit seinen ängstlichen Augen, und jetzt, da schon alles versäumt ist, da man in der allgemeinen Verwirrung vergessen hat, der Avantgarde der Rebellion bei Sèvres die Brücke zu sperren, beginnt man zu beraten. Noch bleiben zwei Stunden, noch wäre reichlich Zeit zu energischem Entschluß. Ein Minister schlägt vor, der König solle sich zu Pferd setzen und an der Spitze der Dragoner und der flandrischen Regimenter der undisziplinierten Masse entgegensprengen: sein bloßes Erscheinen würde die Weiberhorde zum Rückzug nötigen. Die Vorsichtigeren wiederum raten, der König und die Königin sollten sofort das Schloß verlassen und sich nach Rambouillet begeben, damit ginge der heimtückisch geplante Stoß gegen den Thron ins Leere. Aber Ludwig, ewiger Zauderer, zögert. Abermals läßt er die Ereignisse aus Entschlußunfähigkeit an sich herankommen, statt ihnen entgegenzutreten.


Die Königin steht, die Lippen verbissen, inmitten dieser ratlosen Männer, von denen keiner ein wirklicher Mann ist. Aus dem Instinkt heraus weiß sie, daß alle Gewalttätigkeiten gelingen müssen, weil seit dem ersten vergossenen Blut alle sich vor allen fürchten: »Toute cette révolution n’est qu’une suite de la peur.« Aber wie soll sie allein Verantwortung übernehmen für alles und alle! Unten im Hof stehen angeschirrt die Karossen, in einer Stunde kann die königliche Familie mit den Ministern und der Nationalversammlung, die geschworen hat, dem König überallhin zu folgen, in Rambouillet sein. Aber noch immer gibt der König nicht das Zeichen zum Aufbruch. Heftiger und heftiger drängen die Minister, Saint-Priest vor allem; »Wenn man Sie morgen nach Paris führt, Sire, ist die Krone verloren.« Necker wiederum, dem mehr an seiner Popularität liegt als an der Erhaltung aller Königreiche, widerspricht, und zwischen zwei Meinungen bleibt der König, wie jederzeit, ein willenlos schwankendes Pendel. Es wird allmählich Abend, und noch immer scharren die Pferde ungeduldig unten im unterdessen losgebrochenen Unwetter, seit Stunden warten die Lakaien am Wagenschlag, und noch und immer noch wird beraten.


Doch da dröhnt schon ein wirrer hundertstimmiger Lärm die Avenue de Paris herauf. Sie sind da. Die Kittel zum Schutz gegen den strömenden Regen über den Kopf geschlagen, tausendköpfige Masse im Dunkel der Nacht, stapfen sie heran, die Amazonen der Halle. Die Garde der Revolution steht vor Versailles. Es ist zu spät.


Naß bis auf die Knochen, hungernd und frierend, die Schuhe gefüllt mit dem aufgeweichten Lehm der Straße, marschieren jetzt die Weiber heran. Diese sechs Stunden waren keine Vergnügungspromenade, auch wenn man unterwegs den Branntweinschenken gewaltsam Besuch gemacht und sich den knurrenden Magen ein wenig gewärmt hat. Die Stimmen der Weiber grölen rauh und heiser, und was sie rufen, klingt wenig freundlich für die Königin. Ihr erster Besuch gilt der Nationalversammlung. Die tagt seit früh am Morgen, und manchen darin, den Wegbereitern des Herzogs von Orléans, kommt dieser Amazonenmarsch nicht ganz unerwartet.


Zunächst verlangen die Weiber nur Brot von der Nationalversammlung: programmäßig vorerst kein Wort von einer Einholung des Königs nach Paris! So wird beschlossen, eine Deputation von Frauen ins Schloß zu schicken, begleitet vom Präsidenten de Mounier und einigen Abgeordneten. Die sechs ausgewählten Frauen begeben sich ins Schloß, Lakaien öffnen diesen Putzmacherinnen, Fischweibern und Nymphen der Gasse höflich die Türen; mit allen Ehren wird die sonderbare Abordnung die große Marmortreppe empor in Räume geführt, die sonst nur blaublütiger, siebenfach gesiebter Adel betreten durfte. Unter den Abgeordneten, die den Präsidenten der Nationalversammlung begleiten, ist auch ein stattlicher, beleibter, jovial aussehender Herr, der nicht besonders auffällt. Aber sein Name gibt dieser ersten Begegnung mit dem König ein symbolisches Gewicht. Denn mit Dr. Guillotin, Abgeordnetem von Paris, hat am 5. Oktober die Guillotine ihren Antrittsbesuch bei Hof gemacht.


Der gutmütige Ludwig empfängt die Damen so freundlich, daß die Sprecherin, ein junges Mädchen, das den Habitués des Palais Royal Blumen und wahrscheinlich auch mehr anbietet, vor Verlegenheit in Ohnmacht fällt. Sorgsam wird sie gelabt, der gütige Landesvater umarmt das erschreckte Mädchen, verspricht den begeisterten Frauen Brot und alles, was sie nur wollen, stellt ihnen sogar für die Rückfahrt seine eigenen Karossen zur Verfügung. Alles scheint glänzend abgelaufen, doch unten, aufgereizt von den geheimen Agenten, empfängt mit Wutschreien die Weiberschar ihre eigene Deputation, sie hätte sich mit Geld bestechen, mit Lügen abfinden lassen. Nicht dazu sei man sechs Stunden von Paris im Wolkenbruch gestapft, um mit knurrendem Magen und leeren Versprechungen wieder heimzutrotten. Nein, man bleibe hier und gehe nicht früher, als bis man den König und die Königin und die ganze Bande mitgenommen habe nach Paris, wo man ihnen die Hinterlist und Hinhalterei schon abgewöhnen werde. Rücksichtslos dringen die Frauen in die Nationalversammlung ein, um dort zu schlafen, während besonders die Professionellen unter ihnen, vor allem Théroigne de Méricourt, sich die Soldaten des flandrischen Regiments willfährig machen. Schlimme Nachzügler haben die Aufständischen noch vermehrt, gefährliche Gestalten umschleichen im unsicheren, kleinen Licht der Öllaternen die Gitter.


Oben hat sich der Hof noch immer nicht entschieden. Ob man lieber nicht doch noch fliehen sollte? Aber wie durch diese aufgeregte Menge sich mit den schweren Karossen wagen? Es ist zu spät. Endlich, endlich um Mitternacht hört man Trommeln in der Ferne: Lafayette rückt heran. Seinen ersten Besuch macht er bei der Nationalversammlung, seinen zweiten beim König. Obwohl er sich mit ehrlicher Ergebenheit verbeugt und sagt: »Sire, ich bin gekommen und will mein Leben in die Schanze schlagen, um das Eurer Majestät zu retten«, dankt ihm niemand, am wenigsten Marie Antoinette. Der König erklärt, er habe nicht mehr die Absicht, abzureisen oder sich von der Nationalversammlung zu entfernen. Nun scheint alles geordnet. Der König hat sein Versprechen gegeben, Lafayette und die bewaffnete Volksmacht sind zur Stelle, um ihn zu schützen, so gehen die Abgeordneten nach Hause, die Nationalgarden und Insurgenten suchen vor dem markerweichenden Regen Schutz in den Kasernen und Kirchen, sogar unter Torbogen und auf überwölbten Stufen. Allmählich erlöschen die letzten Lichter, und nachdem er alle Posten noch einmal visitiert, legt sich Lafayette, obwohl er versprochen hat, über die Sicherheit des Königs zu wachen, im Hotel de Noailles um vier Uhr morgens zu Bett. Auch die Königin und der König ziehen sich in ihre Gemächer zurück; sie ahnen nicht, daß sie zum letztenmal im Palast von Versailles zur Ruhe gegangen sind.

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