Rückfahrt


Ein Schiff fährt rascher bei ruhiger See als bei Sturm. Die Fahrt von Paris nach Varennes hatte die Karosse in zwanzig Stunden zurückgelegt; die Rückfahrt wird drei Tage dauern. Tropfen um Tropfen und bis zum untersten Grund müssen der König und die Königin den bittern Kelch der Erniedrigung trinken. Todmüde nach den zwei schlaflosen Nächten, mit ungewechselten Kleidern – das Hemd des Königs ist von Schweiß so beschmutzt, daß er sich ein anderes von einem Soldaten borgen muß – sitzen sie zu sechs im glühenden Backofen des Wagens. Mitleidslos stößt die steile Junisonne auf das schon brennheiße Dach, die Luft schmeckt nach feurigem Staub, ingrimmig höhnend umringt eine immer wachsende Eskorte die triste Heimkehr der Blamierten. Jene Sechsstundenfahrt von Versailles nach Paris war paradiesisch gegen diese. Grobe und gröbste Worte poltern herein, jeder will sich an der Schmach der Heimgezwungenen weiden. Lieber also die Fenster schließen und im kochenden Dampf dieses rollenden Kessels schwelen und dursten, als sich von draußen von den höhnischen Blicken antasten, von den Schimpfworten beleidigen zu lassen. Schon sind die Gesichter der unglückseligen Reisenden wie mit grauem Mehl überstrichen, die Augen von Übernächtigkeit und Staub entzündet, aber man erlaubt nicht, die Gardinen dauernd niederzulassen, denn an jeder Station fühlt sich irgendein kleiner Bürgermeister bemüßigt, an den König eine lehrhafte Ansprache zu halten, und jedesmal muß er versichern, es sei nicht seine Absicht gewesen, Frankreich zu verlassen. In solchen Augenblicken bewahrt von allen die Königin am besten die Haltung. Als man in einer Station ihnen endlich etwas zu essen bringt und sie die Vorhänge herablassen, um ihren Hunger zu stillen, lärmt draußen das Volk und verlangt, man möge die Gardinen hochziehen. Schon will Madame Elisabeth nachgeben, aber die Königin sagt energisch nein. Sie läßt ruhig die Leute lärmen, und erst nach einer Viertelstunde, als es schon nicht mehr den Anschein hat, sie gehorche jenem Befehl, hebt sie selbst die Gardinen, wirft die Hühnerknochen hinaus und sagt fest: »Man muß Haltung bewahren bis zum Ende.«


Endlich ein Hoffnungsschimmer: Rast, abends in Châlons. Dort wartet die Bürgerschaft hinter einem steinernen Triumphbogen, es ist – Ironie der Geschichte – derselbe, der vor einundzwanzig Jahren zu Ehren Marie Antoinettes errichtet wurde, als sie von Österreich her im gläsernen Galawagen, umjubelt vom Volk, ihrem künftigen Gemahl entgegenreiste, und auf seinem steinernen Fries steht eingemeißelt: »Perstet aeterna ut amor«, »Möge dieses Denkmal ewig dauern wie unsere Liebe.« Aber Liebe ist vergänglicher als guter Marmor und behauener Stein. Wie ein Traum scheint es Marie Antoinette, daß sie unter diesem Bogen einmal der Adel im Festkleid empfangen hatte, daß die Straße mit Lichtern und Menschen besät war und aus den Brunnen Wein floß zu ihren Ehren. Jetzt erwartet sie nur noch kühle, bestenfalls mitleidige Höflichkeit, aber Wohltat noch immer nach dem lauten, frech andringenden Haß. Man kann schlafen, die Kleider wechseln; aber am nächsten Morgen, abermals glüht feindselig die Sonne, müssen sie weiter den Weg ihrer Peinigung. Je mehr sie sich Paris nähern, um so gehässiger wird die Bevölkerung; bittet der König um einen nassen Schwamm, sich den Staub und Schmutz vom Gesicht zu waschen, so höhnt ein Beamter: »Das hat man davon, wenn man reist.« Tritt die Königin nach einer kurzen Rast die Stufen des Wagens zurück, so zischt hinter ihr wie Schlangenbiß die Stimme einer Frau: »Paß auf, meine Kleine, du wirst bald andere Stufen zu sehen bekommen.« Ein Adeliger, der sie begrüßt, wird vom Pferd gerissen, mit Pistolen und Messern niedergeschlagen. Jetzt erst begreifen die Königin und der König, daß nicht Paris allein dem »Irrtum« der Revolution verfallen ist, sondern daß auf allen Äckern ihres Landes die neue Saat in üppigster Blüte steht; aber sie haben vielleicht nicht mehr Kraft, dies alles durchzufühlen: allmählich macht die Müdigkeit sie völlig empfindungslos. Matt sitzen sie im Wagen, schon gleichgültig gegen das Schicksal; da endlich, endlich, endlich reiten Kuriere heran und melden, drei Mitglieder der Nationalversammlung kämen entgegen, um die Fahrt der königlichen Familie zu beschirmen. Nun ist das Leben gerettet, aber nicht mehr.


Der Wagen hält auf offener Landstraße: die drei Abgeordneten Maubourg, ein Royalist, Barnave, der bürgerliche Advokat, Pétion, der Jakobiner, kommen ihnen entgegen. Die Königin öffnet persönlich den Wagenschlag: »Ach, meine Herren«, sagt sie erregt, und reicht den dreien rasch die Hand, »sehen Sie darauf, daß kein Unglück geschieht, daß die Leute, die uns begleitet haben, nicht aufgeopfert werden, sondern daß ihr Leben geachtet wird.« Ihr unfehlbares Taktgefühl in großen Augenblicken hat sofort das Richtige gefunden: nicht für sich selber darf eine Königin um Schutz bitten, sondern nur für jene, die ihr treu gedient haben.


Die energische Hoheit der Königin entwaffnet von Anfang an die gönnerhafte Haltung der Abgesandten; selbst Pétion, der Jakobiner, muß in seinen Aufzeichnungen widerwillig gestehen, daß die lebhaft gesprochenen Worte auf ihn starken Eindruck machten. Sofort gebietet er den Lärmenden Stille und schlägt dann dem König vor, es wäre besser, wenn zwei von den Abgesandten der Nationalversammlung im Wagen Platz nehmen würden, um durch ihre Gegenwart die königliche Familie vor allen Fährlichkeiten zu schützen. Madame de Tourzel und Madame Elisabeth mögen also in den anderen Wagen steigen. Aber der König erwidert, es ginge auch so, man müsse eben ein wenig zusammenrücken, um Platz zu schaffen. Es wird nun eilig folgende Einteilung getroffen: Barnave sitzt zwischen dem König und der Königin, die ihrerseits den Dauphin auf den Schoß nimmt. Pétion setzt sich zwischen Madame de Tourzel und Madame Elisabeth, wobei Madame de Tourzel die Prinzessin zwischen die Kniee drückt. Acht Personen statt sechs, Schenkel an Schenkel klamm gepreßt, sitzen jetzt die Vertreter der Monarchie und die des Volks in dem einen Wagen, und man kann wohl sagen: nie waren die königliche Familie und die Deputierten der Nationalversammlung einander so nahe wie in diesen Stunden.


Was in diesem Wagen sich nun ereignet, ist ebenso unerwartet wie natürlich. Zunächst steht feindseligste Spannung zwischen den beiden Polen, zwischen den fünf Mitgliedern der königlichen Familie und den zwei Vertretern der Nationalversammlung, zwischen den Gefangenen und den Gefängniswärtern. Beide Parteien sind fest entschlossen, gegeneinander ihre Autorität straff zu bewahren. Marie Antoinette, gerade weil von diesen »factieux« beschützt und ihrer Gnade ausgeliefert, blickt beharrlich an den beiden vorbei und öffnet nicht den Mund: sie sollen nicht meinen, daß sie, die Königin, um sie werbe. Die Abgeordneten wieder wollen um keinen Preis Höflichkeit mit Unterwürfigkeit verwechseln lassen: es gilt auf dieser Fahrt, dem König eine Lektion zu geben, daß Mitglieder der Nationalversammlung als freie und unbestechliche Männer anders die Stirne tragen als sein kriechendes Höflingspack. Also Distanz, Distanz, Distanz!


In dieser Stimmung geht Pétion, der Jakobiner, sogar zum offenen Angriff vor. Gleich von Anfang an will er der Königin als der Stolzesten eine kleine Lehre erteilen, um sie aus der Fassung zu bringen. Er sei genau unterrichtet, erklärt er, daß die königliche Familie in der Nähe des Schlosses in einen gewöhnlichen Fiaker eingestiegen sei, den ein Schwede geführt habe, namens… ein Schwede namens… Dann stockt Pétion, als ob er sich des Namens nicht zu erinnern vermöchte, und fragt die Königin, wie dieser Schwede heiße. Es ist ein Stoß mit vergiftetem Dolch, den er gegen die Königin führt, indem er sie in Gegenwart des Königs nach ihrem Liebhaber fragt. Aber Marie Antoinette pariert kraftvoll den Hieb: »Ich pflege mich um die Namen meiner Stallkutscher nicht zu kümmern.« Feindseligkeit und Spannung füllen nach diesem ersten Geplänkel böse den engen Raum.


Dann lockert ein kleiner Zwischenfall die peinliche Stimmung. Der kleine Prinz ist vom Schoß seiner Mutter heruntergesprungen. Die beiden fremden Herren beschäftigen sehr seine Neugier. Er faßt mit seinen winzigen Fingern einen Messingknopf am Staatskleid Barnaves und buchstabiert mühsam die Inschrift: »Vivre libre ou mourir.« Das erheitert natürlich sehr die beiden Kommissare, daß der zukünftige König von Frankreich gerade auf diese Weise die Grundmaximen der Revolution kennen lernen muß. Allmählich entspinnt sich ein Gespräch. Und nun erfolgt das Sonderbare: Bileam, der ausgezogen war, um zu fluchen, muß sich entschließen, zu segnen. Beide Parteien beginnen, einander eigentlich viel netter zu finden, als sie von ferne vermuten konnten. Pétion, der kleine Bürger und Jakobiner, Barnave, der junge Provinzadvokat, hatten sich »Tyrannen« in ihrem Privatleben als unnahbar, aufgeblasen, hochmütig, dumm und frech vorgestellt und gemeint, jene höfische Weihrauchwolke ersticke jede Menschlichkeit. Nun sind sie, der Jakobiner und der bürgerliche Revolutionär, ganz überrascht von den natürlichen Umgangsformen innerhalb der königlichen Familie. Sogar Pétion, der den Cato spielen wollte, muß berichten: »Ich finde bei ihnen eine Art von Einfachheit und Familiarität, die mir gefällt; keine Spur von königlicher Aufmachung, sondern eine Leichtigkeit und häusliche Bonhomie. Die Königin nennt Madame Elisabeth ›Meine kleine Schwester‹, Madame Elisabeth wieder antwortet in gleicher Art. Madame Elisabeth spricht den König mit ›Mein Bruder‹ an. Die Königin läßt den Prinzen auf ihren Knieen tanzen, die junge Prinzessin spielt mit ihrem Bruder, und der König sieht allem mit zufriedenen Blicken zu, obwohl wenig bewegt und stumpf.« Die beiden Revolutionäre sehen erstaunt: königliche Kinder spielen genau wie ihre eigenen zu Hause, es beginnt sie sogar peinlich zu berühren, daß sie eigentlich selber viel eleganter angezogen sind als der Herrscher Frankreichs, der sogar schmutzige Wäsche trägt. Immer lockerer wird der anfängliche Widerstand. Wenn der König trinkt, bietet er Pétion höflich sein eigenes Glas an, und als ein Ereignis übernatürlicher Art erscheint es dem verblüfften Jakobiner, daß der König von Frankreich und Navarra seinem Sohn, als der Dauphin ein kleines Bedürfnis äußert, höchst eigenhändig das Höschen aufknöpft und während der Verrichtung ihm die silberne Leibschüssel hält. Diese »Tyrannen« sind doch eigentlich genau solche Menschen wie wir, erkennt erstaunt der grimme Revolutionär. Und ebenso überrascht ist die Königin. Das sind doch eigentlich ganz nette, höfliche Menschen, diese »scélerats«, diese »monstres« der Nationalversammlung! Gar nicht blutgierig, gar nicht ungebildet, und vor allem gar nicht dumm; im Gegenteil, es plaudert sich viel gescheiter mit ihnen als mit dem Grafen von Artois und seinen Kumpanen. Noch sind sie keine drei Wagenstunden mitsammen gefahren, so beginnen beide Parteien, die sich gegenseitig durch Härte und Hochmut imponieren wollten – wunderbare und doch tief menschliche Wandlung –, um einander zu werben. Die Königin bringt politische Probleme auf das Tapet, um den beiden Revolutionären zu beweisen, man sei in ihren Kreisen gar nicht so engstirnig und böswillig, wie das Volk, durch die schlechten Zeitungen verleitet, vermeine. Die beiden Abgeordneten wieder bemühen sich, der Königin klarzumachen, sie solle die Ziele der Nationalversammlung nicht verwechseln mit dem wüsten Geschrei des Herrn Marat; und als die Rede auf die Republik kommt, weicht sogar Pétion vorsichtig aus. Es zeigt sich bald – uralte Erfahrung –, daß Hofluft selbst die energischsten Revolutionäre verwirrt, und bis zu welchem Grade von Narrheit die Nähe ererbter Majestät einen eitlen Mann bringen kann, ist kaum irgendwo heiterer bewiesen als in Pétions Aufzeichnungen. Nach drei verängstigten Nächten, nach drei Tagen mörderischer, heißer Fahrt im unbequemen Wagen, nach all den seelischen Erregungen und Erniedrigungen sind die Frauen, die Kinder selbstverständlich fürchterlich müde. Unwillkürlich lehnt Madame Elisabeth sich im Einschlafen an ihren Nachbar Pétion. Dies begeistert sofort den eitlen Dummkopf zu dem Wahn, er habe eine galante Eroberung gemacht, und so schreibt er in seinen Bericht jene Worte, die den armen, von der Hofluft Benebelten für Hunderte von Jahren der Lächerlichkeit überliefern: »Madame Elisabeth richtete ihre zärtlich gewordenen Augen auf mich mit jenem Ausdruck der Hingebung, die der Augenblick verleiht und die so viel Interesse erweckt. Unsere Augen begegneten sich manchmal in einer Art Einverständnis und gegenseitiger Anziehung, die Nacht sank, und das Mondlicht begann eine ähnliche, sanfte Klarheit zu verbreiten. Madame Elisabeth nahm die Prinzessin auf den Schoß, setzte sie zur Hälfte auf meine Kniee, zur Hälfte auf das ihre. Die Prinzessin schlief ein, ich streckte einen Arm aus und Madame Elisabeth den ihren über den meinen. Unsere Arme waren somit verschlungen, und der meine berührte sie unter der Achsel. Ich fühlte die Bewegung und eine Wärme, die die Kleider durchdrang. Die Blicke Madame Elisabeths schienen mir ergreifender, ich bemerkte eine gewisse Hingabe in ihrer Haltung, ihre Augen wurden feucht, und in ihre Melancholie mengte sich eine gewisse Art von Wollust. Ich kann mich täuschen, man verwechselt vielleicht Erscheinungsformen des Unglücks mit denen des Vergnügens, aber ich glaube, wenn wir allein gewesen wären, sie hätte sich in meine Arme gleiten lassen und sich den Trieben der Natur hingegeben.«


Viel ernster als diese lächerliche erotische Phantasie des »schönen Pétion« ist die Wirkung des gefährlichen Zaubers der Majestät auf seinen Begleiter Barnave. Ganz jung, als neugebackener Advokat aus seiner Provinzstadt nach Paris gekommen, fühlt sich dieser idealistische Revolutionär ganz verzaubert, als eine Königin, die Königin von Frankreich, sich bescheiden von ihm die Grundgedanken der Revolution, die Ideen seiner Klubfreunde erklären läßt. Welche Gelegenheit, denkt dieser Marquis Posa unwillkürlich, der Monarchin Ehrfurcht und Achtung vor den heiligen Grundsätzen einzuflößen, sie vielleicht für die konstitutionellen Gedanken zu gewinnen. Der feurige junge Advokat spricht und hört sich reden, und siehe – er hätte es nie gedacht –, diese angeblich oberflächliche Frau (weiß Gott, man hat sie verleumdet!) hört voll Anteilnahme, voll Verständnis zu, und wie klug ihre Einwände sind! Mit ihrer österreichischen Liebenswürdigkeit, mit ihrem scheinbar bereitwilligen Eingehen auf seine Anregungen zieht Marie Antoinette den naiv gläubigen Menschen ganz in ihren Bann. Wie hat man diese edle Frau doch ungerecht behandelt, wie ihr unrecht getan, fühlt er überrascht. Sie will doch nur das Beste, und wenn jemand da wäre, ihr die rechten Winke zu geben, so könnte alles gut werden in Frankreich. Die Königin läßt ihm keinen Zweifel, daß sie einen solchen Ratgeber suche, und auch, daß sie ihm dankbar wäre, wollte er in Zukunft ihrer Unerfahrenheit die richtigen Aufklärungen geben. Ja, das wird seine Aufgabe sein, ihr, dieser so unerwartet einsichtigen Frau von nun ab die wahren Wünsche des Volkes zu übermitteln und seinerseits wieder die Nationalversammlung von der Reinheit ihrer demokratischen Gesinnung zu überzeugen. In langen Besprechungen im erzbischöflichen Palais von Meaux, wo sie Rast halten, weiß Marie Antoinette Barnave derart mit Liebenswürdigkeit zu umstricken, daß er sich ihr zu jedem Dienst zur Verfügung stellt; so bringt ganz im geheimen – niemand hätte eine solche Lösung ahnen können – die Königin von der Fahrt nach Varennes einen ungeheuren politischen Erfolg mit. Und während die anderen nur schwitzen und essen und müde sind und versagen, erringt sie in diesem rollenden Gefängniskarren noch einen letzten Sieg für die königliche Sache.


Der dritte und letzte Tag der Reise wird zum fürchterlichsten. Auch der französische Himmel ist für die Nation und gegen den König. Mitleidlos heizt von morgens bis abends die Sonne den vierräderigen, dick bestaubten und überfüllten Backofen der Karosse, keine einzige Wolke legt flüchtig mit kühler Hand eine Minute Schatten auf das feurige Dach. Endlich hält der Zug vor den Toren von Paris, aber alle die Hunderttausende, die den auf der Galeere heimtransportierten König sehen wollen, müssen auf ihre Kosten kommen: so dürfen der König und die Königin nicht durch die Porte St-Denis heim in ihr Schloß, sondern im riesigen Umweg über die endlosen Boulevards. Kein Ruf erhebt sich auf dem ganzen Weg zu ihren Ehren, kein Wort auch der Beschimpfung, denn Plakate haben jeden der Verachtung preisgegeben, der den König grüßt, und jedem eine Tracht Prügel angedroht, der den Gefangenen der Nation verunglimpft. Unendlicher Jubel aber umstürmt den Wagen, der hinter dem königlichen herzieht, dort zeigt sich eitel der Mann, dem das Volk allein diesen Triumph dankt, Drouet, der Postmeister, der kühne Jäger, der mit List und Ingrimm das königliche Wild zur Strecke gebracht hat.


Der letzte Augenblick dieser Fahrt wird der gefährlichste, die zwei Meter vom Wagen in das Eingangstor des Palastes. Da die königliche Familie von den Deputierten geschützt wird und die Wut durchaus ein Opfer will, stürzt sie sich auf die drei unschuldigen Leibgarden, die den König »entführen« geholfen. Schon sind sie vom Bock gerissen, einen Augenblick hat es den Anschein, als ob die Königin abermals die blutigen Häupter vor dem Eingang ihres Palastes auf Piken schaukeln sehen müßte, da wirft sich die Nationalgarde dazwischen und fegt mit Bajonetten den Türeingang frei. Jetzt erst wird die Tür des Backofens geöffnet; beschmutzt, verschwitzt und müde steigt der König mit seinem schweren Schritt als erster aus dem Wagen, ihm folgt die Königin. Sofort erhebt sich gefährliches Murmeln gegen die »Autrichienne«, aber mit schnellem Schritt hat sie die kleine Spanne zwischen Wagen und Tür durchmessen, die Kinder folgen; die grausame Reise ist zu Ende.


Innen warten die Lakaien in feierlicher Reihe: genau wie sonst ist der Tisch gedeckt, die Rangordnung gewahrt; die Heimgekehrten könnten glauben, nur geträumt zu haben. Doch in Wirklichkeit haben diese fünf Tage mehr an den Grundfesten des Königtums gerüttelt als die fünf Jahre der Reformen, denn Gefangene sind keine Gekrönten mehr. Abermals ist der König eine Stufe tiefer hinabgeschritten, abermals die Revolution eine Stufe empor.


Aber den ermüdeten Mann scheint das nicht sehr zu bewegen. Gleichgültig gegen alles, ist er auch gleichgültig gegen sein eigenes Geschick. Mit seiner unerschütterlichen Hand vermerkt er in sein Tagebuch nichts anderes als: »Abfahrt von Meaux um sechseinhalb Uhr. Ankunft in Paris um acht Uhr, ohne Aufenthalt.« Das ist alles, was ein Ludwig XVI. über die tiefste Schmach seines Lebens zu sagen hat. Und Pétion berichtet gleichfalls: »Er war so ruhig, als ob nichts geschehen wäre. Man konnte glauben, er wäre von einer Jagdpartie zurückgekehrt.«


Marie Antoinette jedoch, sie weiß, daß alles verloren ist. Die ganze Qual dieser vergeblichen Fahrt muß für ihren Stolz fast tödliche Erschütterung gewesen sein. Aber wirkliche Frau und wahrhaft Liebende, mit der ganzen Hingabe einer späten und unwiderruflich letzten Leidenschaft, denkt sie auch in dieser Hölle einzig an jenen, der ihr entronnen ist, sie fürchtet, daß Fersen, der Freund, sich zu sehr um sie sorgen könnte. Bestürmt von den entsetzlichsten Gefahren, beunruhigt sie am meisten an ihrem Leiden sein Mitleiden, sein Beunruhigtsein. »Seien Sie beruhigt über uns«, schreibt sie rasch hin auf ein Blatt, »wir leben.« Und, am nächsten Morgen, noch eindringlicher, noch liebevoller (die eigentlichen intimen Stellen hat der Nachfahre Fersens getilgt, aber doch fühlt man an der Schwingung der Worte den Atem der Zärtlichkeit): »Ich lebe noch… aber ich bin besorgt um Sie, und wie beklage ich es, daß Sie darunter leiden, von uns keine Nachricht zu haben! Wolle der Himmel, daß diese Ihnen zukäme, schreiben Sie mir nicht, das hieße, uns einer Gefahr aussetzen, und vor allem, kommen Sie jetzt unter keinem Vorwand. Man weiß, daß Sie es waren, der uns hier herausgeholfen hat. Alles wäre verloren, wenn Sie zurückkämen. Wir sind hier Tag und Nacht bewacht, aber das ist mir gleichgültig… Seien Sie unbesorgt, es wird mir schon nichts zustoßen. Die Versammlung will uns nachsichtig behandeln. Adieu… ich werde Ihnen nicht mehr schreiben können…«


Und doch, sie kann es nicht ertragen, gerade jetzt von Fersen ohne ein Wort zu bleiben. Und abermals am nächsten Tag schreibt sie den glühendsten, den zärtlichsten Brief, der Nachricht, Beruhigung, Liebe fordert: »Ich kann Ihnen nur sagen, daß ich Sie liebe und habe selbst dafür kaum Zeit. Es geht mir gut, haben Sie um meinetwillen keine Sorge, ich wüßte nur gern von Ihnen das gleiche. Schreiben Sie mir chiffriert, lassen Sie die Adresse von Ihrem Kammerdiener schreiben… Und sagen Sie mir nur, an wen ich meine Briefe an Sie adressieren soll, denn ich kann ohne das nicht mehr leben. Leben Sie wohl, liebendster und geliebtester aller Menschen. Ich umarme Sie von ganzem Herzen.«


»Ich kann ohne das nicht mehr leben«: nie hat man einen solchen Aufschrei der Leidenschaft von der Lippe der Königin gehört. Aber Königin, wie wenig ist sie es nun noch, wie viel dieser einstigen Macht ist ihr genommen; nur der Frau ist geblieben, was niemand ihr entreißen kann: ihre Liebe. Und dieses Gefühl gibt ihr Kraft, groß und entschlossen ihr Leben zu verteidigen.

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Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.