Selbstbesinnung


1789 ist sich die Revolution ihrer eigenen Kraft gar nicht bewußt, noch erschrickt sie manchmal über ihren eigenen Mut: so auch diesmal; die Nationalversammlung, die Stadtverordneten von Paris, die ganze Bürgerschaft, im Herzen noch redlich königstreu, sind alle eher entsetzt über den Handstreich der Amazonenhorde, die den König wehrlos in ihre Hände liefert. Aus Scham tun sie alles Denkbare, um das Ungesetzliche dieses brutalen Gewaltaktes zu verwischen, einhellig bemühen sie sich, die Entführung der königlichen Familie nachträglich in eine »freiwillige« Übersiedlung umzulügen. Rührend wetteifern sie, die schönsten Rosen auf das Grab der königlichen Autorität zu streuen, in der heimlichen Hoffnung, sie würden verbergen, daß die Monarchie in Wirklichkeit seit dem 6. Oktober für immer tot und eingesargt ist. Abordnung folgt auf Abordnung, um den König tiefer Treue zu versichern. Das Parlament entsendet dreißig Mitglieder, der Magistrat von Paris macht seine respektvolle Aufwartung, der Bürgermeister verbeugt sich vor Marie Antoinette mit den Worten: »Die Stadt ist glücklich, Sie im Palast ihrer Könige zu sehen, und wünscht, daß der König und Ihre Majestät ihr die Gnade erweisen mögen, sie zur ständigen Residenz zu erwählen.« Ebenso ehrerbietig erscheint die Große Kammer, die Universität, der Rechnungsrat, der Kronrat, schließlich, am 20. Oktober, die ganze Nationalversammlung, und vor den Fenstern drängen sich tagtäglich große Volksmassen und rufen: »Es lebe der König! Es lebe die Königin!« Alles tut alles, um dem Monarchen seine Freude über die »freiwillige Übersiedlung« kundzutun.


Aber Marie Antoinette, immer unfähig, sich zu verstellen, und der ihr gehorsame König wehren sich mit einer menschlich zwar begreiflichen, politisch aber vollkommen törichten Hartnäckigkeit gegen diese rosige Verschminkung der Tatsachen. »Wir dürften ziemlich zufrieden sein, wenn wir vergessen könnten, auf welche Weise wir hierhergekommen sind«, schreibt die Königin an den Botschafter Mercy. Aber in Wirklichkeit kann und will sie es gar nicht vergessen. Zuviel Schmach hat sie erlitten, man hat sie mit Gewalt nach Paris geschleppt, ihr Versailler Schloß gestürmt, ihre Leibgarden ermordet, ohne daß die Nationalversammlung, ohne daß die Nationalgarde eine Hand gerührt hätten. Man hat sie gewaltsam in die Tuilerien gesperrt, die ganze Welt soll diese Schändung der geheiligten Rechte eines Monarchen erfahren. Ununterbrochen unterstreichen beide mit Absicht die eigene Niederlage: der König verzichtet auf seine Jagd, die Königin besucht keine Theater, sie zeigen sich nicht in den Straßen, sie fahren nicht aus und versäumen damit die wichtige Möglichkeit, sich in Paris wieder volkstümlich zu machen. Dieses trotzige Sichselbsteinschließen aber schafft ein gefährliches Präjudiz. Denn indem sich der Hof für vergewaltigt erklärt, überzeugt er das Volk von seiner Gewalt; indem der König ständig kundtut, daß er der Schwächere sei, wird er es wirklich. Nicht das Volk, nicht die Nationalversammlung, sondern der König und die Königin haben den unsichtbaren Festungsgraben um die Tuilerien gezogen, sie selbst verwandeln aus einem törichten Trotz die ihnen noch nicht bestrittene Freiheit in Gefangenschaft.


Wenn aber der Hof die Tuilerien so pathetisch als Gefängnis betrachtet, soll es immerhin doch ein königliches sein. Schon in den nächsten Tagen karren riesige Wagen die Möbel von Versailles herein, Schreiner und Tapezierer hämmern bis zur späten Nacht in den Zimmern. Bald sammeln sich in der neuen Residenz die alten Hofbeamten, soweit sie nicht vorgezogen haben, auszuwandern, der ganze Troß der Kämmerer, Lakaien, Kutscher, Köche füllt die Dienergelasse. Die alten Livreen leuchten neuerdings in den Gängen, alles spiegelt Versailles wider, und auch das Zeremoniell ist unversehrt herübergebracht; als einzigen Unterschied merkt man höchstens, daß vor den Türen statt der entlassenen adeligen Leibgarden nun die Bürgerkompagnieen Lafayettes Wache halten.


Von der riesigen Zimmerflucht der Tuilerien und des Louvre bewohnt die königliche Familie nur ganz wenige Räume, denn man will keine Feste mehr, keine Bälle und keine Redouten, kein Aufsehen und keinen unnötigen Glanz. Ausschließlich der gegen den Garten gerichtete (im Jahre 1870 während der Kommune niedergebrannte und nicht wieder aufgebaute) Teil der Tuilerien wird für die königliche Familie instand gesetzt: im obern Stockwerk das Schlafzimmer und Empfangszimmer des Königs, ein Schlafzimmer für seine Schwester, je eines für die Kinder und ein kleiner Salon. Zu ebener Erde das Schlafzimmer Marie Antoinettes mit einem Empfangsraum und einem Toiletteraum, ein Billardzimmer und der Speisesaal. Außer durch die eigentliche Stiege sind die beiden Stockwerke noch durch eine kleine, neu eingebaute Treppe verbunden. Sie führt aus den ebenerdigen Gemächern der Königin zum Zimmer des Dauphins und des Königs hinauf; und ausschließlich die Königin und die Gouvernante der Kinder besitzen für diese Verbindungstür den Schlüssel.


Betrachtet man den Plan dieser Einteilung, so fällt eines auf: die zweifellos von ihr selbst angeordnete Isolierung Marie Antoinettes von der übrigen Familie. Sie schläft und wohnt allein, und ihr Schlafzimmer, ihr Empfangszimmer sind so gelegen, daß die Königin jederzeit ungesehen Besuche empfangen kann, ohne daß diese die öffentliche Treppe und den Haupteingang benützen müßten. Bald wird sich der beabsichtigte Sinn dieser Maßnahmen zeigen und ebenso der Vorteil, daß die Königin sich jederzeit ins obere Stockwerk hinauf begeben kann, während sie selbst ihrerseits vor jeder Überraschung durch Dienstleute, Spione und Nationalgarden (und vielleicht sogar durch den König) geschützt ist. Selbst in der Gefangenschaft wird ihre »desinvoltura« den letzten Rest persönlicher Freiheit bis zum letzten Atemzug verteidigen.


Das alte Schloß mit seinen finsteren Korridoren, die Tag und Nacht durch rußige Öllampen mühsam erhellt sind, mit seinen gewundenen Schneckenstiegen, seinen überfüllten Dienerräumen und vor allem mit den ständigen Zeugen der Volksallmacht, den bewachenden Nationalgardisten, ist an sich kein angenehmer Aufenthalt; und doch führt, vom Schicksal zusammengedrängt, die königliche Familie hier ein stilleres, intimeres und vielleicht sogar bequemeres Leben als in dem pompösen Steinkasten von Versailles. Nach dem Frühstück läßt die Königin die Kinder zu sich herunter bringen, dann geht sie in die Messe und bleibt in ihrem Zimmer allein bis zum gemeinsamen Mittagessen. Nachher spielt sie mit dem Gatten eine Partie Billard, für ihn ein schwacher gymnastischer Ersatz der ungern entbehrten Jagd. Dann zieht sich Marie Antoinette, während der König liest oder schläft, abermals in ihre Räume zurück, um mit vertrauten Freunden, mit Fersen, der Prinzessin Lamballe oder anderen, Rat zu halten. Nach dem Abendessen versammelt sich im großen Salon die ganze Familie: der Bruder des Königs, der Graf von Provence mit seiner Frau, die das Luxembourgpalais bewohnen, die alten Tanten und einige wenige Getreue. Um elf Uhr erlöschen die Lichter, der König und die Königin begeben sich in ihre Schlafgemächer. Diese stille, geregelte kleinbürgerliche Tageseinteilung kennt keine Abwechslung, keine Feste und keinerlei Pomp. Mademoiselle Bertin, die Putzkünstlerin, wird fast nie mehr befohlen, die Zeit der Juweliere ist vorüber, denn Ludwig XVI. muß sein Geld jetzt zusammenhalten für wichtigere Zwecke, für Bestechung und geheimen politischen Dienst. Von den Fenstern geht der Blick in den Garten und zeigt Herbst und frühen Blätterfall: nun läuft sie hastig, die Zeit, die früher der Königin zu langsam ging. Nun ist endlich die Stille um sie, die sie bisher gefürchtet, nun zum erstenmal Gelegenheit zu ernstem und klarem Besinnen.


Ruhe ist ein schöpferisches Element. Sie sammelt, sie reinigt, sie ordnet die inneren Kräfte, sie faßt wieder zusammen, was die wilde Bewegung verstreut. Wie in einer geschüttelten Flasche, setzt man sie zu Boden, das Schwere sich vom Leichten scheidet, so kristallisieren in einer gemengten Natur Stille und Nachdenklichkeit den Charakter deutlicher heraus. Brutal auf sich selbst zurückgeworfen, beginnt Marie Antoinette sich zu finden. Nun erst wird erkenntlich, daß nichts dieser leichtblütigen, leichtfertigen, leichtsinnigen Natur so verhängnisvoll gewesen war, wie die Leichtigkeit, mit der ihr vom Schicksal alles gegeben wurde; gerade diese unverdienten Geschenke des Lebens haben sie innerlich verarmt. Zu früh und zu üppig hatte das Geschick sie verwöhnt, eine hohe Geburt und eine noch höhere Stellung waren ihr ohne Anstrengung zugefallen; so meinte sie, sich nicht anstrengen zu müssen, sie brauchte sich nur leben zu lassen, wie sie wollte, und alles schien recht. Die Minister dachten, das Volk arbeitete, die Bankleute zahlten für ihre Bequemlichkeit, und die Verwöhnte nahm alles hin ohne Gedanken und ohne Dank. Jetzt erst, herausgefordert von dem ungeheuren Anspruch, dies alles, ihre Krone, ihre Kinder, ihr eigenes Leben, gegen den großartigsten Aufruhr der Geschichte verteidigen zu müssen, sucht sie in sich selbst nach Kräften des Widerstands und holt plötzlich ungenutzte Reserven der Intelligenz, der Tatkraft aus sich heraus. Der Durchbruch ist endlich erfolgt. »Erst im Unglück weiß man, wer man ist«, dieses schöne, dieses erschütterte und erschütternde Wort blitzt jetzt plötzlich in einem ihrer Briefe auf. Die Mahner, die Mutter, die Freunde haben jahrzehntelang keine Macht gehabt über diese trotzige Seele. Es war zu früh für die Unbelehrbare. Das Leid ist der erste wirkliche Lehrer Marie Antoinettes, der einzige, von dem die Unbelehrbare gelernt hat.


Eine neue Epoche beginnt mit dem Unglück im innern Leben dieser seltsamen Frau. Aber Unglück verwandelt eigentlich niemals einen Charakter, es preßt keine neuen Elemente in ihn hinein; es bildet nur längst vorhandene Anlagen aus. Marie Antoinette wird nicht – dies wäre falsch gesehen – plötzlich intelligent, tätig, energisch und vital in diesen Jahren des letzten Kampfes: all das war sie der Anlage nach von je, sie hatte nur aus einer geheimnisvollen Trägheit der Seele, aus einer kindischen Verspieltheit der Sinne diese Wesenshälfte ihrer Persönlichkeit nicht zum Einsatz gebracht; sie hatte bisher mit dem Leben nur gespielt – das fordert keine Kraft – und nie mit ihm gekämpft; jetzt erst, seit der großen Herausforderung, schleifen sich alle diese Energieen zur Waffe. Marie Antoinette denkt und überlegt erst, seit sie denken muß. Sie arbeitet, weil sie gezwungen ist zu arbeiten. Sie erhöht sich, weil sie vom Schicksal genötigt ist, groß zu sein, um nicht von der Übermacht erbärmlich erdrückt zu werden. Eine völlige Umstellung ihres äußeren und inneren Lebens beginnt nun in den Tuilerien. Dieselbe Frau, die zwanzig Jahre lang keinen Vortrag eines Gesandten aufmerksam bis zu Ende anhören konnte, die keinen Brief anders als hastig und niemals ein Buch las, die sich um nichts bekümmerte als um Spiel, Sport, Mode und ähnliche Unwichtigkeiten, verwandelt ihren Schreibtisch in eine Staatskanzlei, ihr Zimmer in ein diplomatisches Kabinett. Sie verhandelt – an Stelle ihres Gatten, den jetzt alle ärgerlich als unheilbaren Fall von Schwäche zur Seite schieben, – mit allen Ministern und Gesandten, sie überwacht ihre Maßnahmen, sie redigiert ihre Briefe. Sie lernt chiffrieren und ersinnt die sonderbarsten Techniken geheimer Verständigung, um auf diplomatischem Wege sich mit ihren Freunden im Ausland beraten zu können; bald wird mit sympathetischer Tinte geschrieben, bald werden die Nachrichten mit einem Zahlensystem in Zeitschriften und Schokoladebüchsen durch die Überwachung geschmuggelt; jedes Wort muß sorgfältigst ausgeklügelt werden, um den Eingeweihten klar und den Unberufenen unverständlich zu sein. Und all dies allein, mit keinem Helfer, keinem Sekretär an der Seite, Spione an der Tür und im eigenen Zimmer: ein einziger aufgefangener Brief und ihr Mann, ihre Kinder wären verloren. Bis zur körperlichen Erschöpfung arbeitet die an solche Arbeit nie gewöhnte Frau. »Ich bin schon ganz ermüdet von den Schreibereien«, stöhnt sie einmal in einem Brief, und ein andermal: »Ich sehe nicht mehr, was ich schreibe.«


Und weitere, sehr bedeutsame seelische Umstellung: Marie Antoinette lernt endlich die Wichtigkeit redlicher Ratgeber erkennen, sie gibt die törichte Anmaßung preis, selbständig aus nervösem Handgelenk, auf den ersten Blick über politische Angelegenheiten zu entscheiden. Während sie früher immer mit verhaltenem Gähnen den stillen grauhaarigen Gesandten Mercy empfing und sichtlich aufatmete, wenn der lästige Pedant die Tür hinter sich schloß, wirbt sie jetzt beschämt um diesen allzulange verkannten, redlichen und vielerfahrenen Mann: »Je unglücklicher ich bin, um so mehr fühle ich mich meinen wirklichen Freunden auf das innigste verpflichtet«, in diesem menschlichen Tonfall schreibt sie jetzt dem alten Freunde ihrer Mutter, oder: »Ich bin schon ungeduldig, einen Augenblick zu finden, da ich Sie wieder frei sprechen und sehen und Sie all der Empfindungen versichern kann, die ich Ihnen mit so viel Recht für mein ganzes Leben gewidmet habe.« In ihrem fünfunddreißigsten Jahre ist sie endlich gewahr geworden, wozu sie von einem besonderen Schicksal ausersehen war: nicht andern hübschen, koketten, geistig mittleren Frauen die kurzlebigen Triumphe der Mode streitig zu machen, sondern sich vor dem dauernden und überdauernden, vor dem unbeugsamen Blick der Nachwelt zu bewähren und zwiefach zu bewähren: als eine Königin und als Tochter Maria Theresias. Ihr Stolz, bisher nur der kleinliche Kinderstolz eines verwöhnten Mädchens, wendet sich jetzt entschlossen der Aufgabe zu, in einer großen Zeit groß und kühn vor der Welt zu erscheinen. Nicht mehr um das Persönliche kämpft sie, nicht um Macht oder privates Glück: »Was unsere Personen betrifft, so weiß ich, daß jeder Gedanke an Glück vorbei ist, was auch immer geschehe. Doch dies ist die Pflicht eines Königs, für die andern zu leiden, und wir erfüllen sie gut. Möge es eines Tages erkannt werden.« Spät, jedoch bis ins Innerste der Seele hat Marie Antoinette begriffen, daß sie eine historische Gestalt zu werden bestimmt ist, und dieser überzeitliche Anspruch steigert großartig ihre Kräfte. Denn wenn ein Mensch sich seiner eigenen Tiefe nähert, wenn er das Innerste seiner Persönlichkeit aufzugraben entschlossen ist, rührt er im eigenen Blut die schattenhaften Mächte all seiner Ahnen auf. Daß sie eine Habsburgerin ist, Enkelin und Erbin uralter Kaiserehre, eine Tochter Maria Theresias, das hebt diese schwache, unsichere Frau mit einmal magisch über sich selbst hinaus. Sie fühlt sich verpflichtet, »digne de Marie Thérèse« zu sein, würdig ihrer Mutter, und dieses Wort »Mut« wird das Leitmotiv ihrer Todessymphonie. Immer wiederholt sie, daß »nichts ihren Mut brechen könne«; und als sie aus Wien die Nachricht vernimmt, ihr Bruder Joseph habe in seiner furchtbaren Agonie männlich entschlossen seine Haltung bis zum letzten Augenblick bewahrt, da fühlt sie sich gleichsam selbst prophetisch angerufen und antwortet mit dem selbstbewußtesten Wort ihres Lebens: »Ich wage zu sagen, daß er meiner würdig gestorben ist.«


Dieser wie eine Fahne vor der Welt hochgetragene Stolz kostet allerdings Marie Antoinette mehr, als die andern ahnen dürfen. Denn im innersten Grunde ist diese Frau weder hochmütig noch stark, keine Heroine, sondern eine sehr weibliche Frau, für Hingabe und Zärtlichkeit und nicht für den Kampf geboren. Der Mut, den sie zeigt, soll nur den andern Mut machen; sie selbst glaubt zutiefst an bessere Tage nicht mehr. Kaum kehrt sie zurück in ihr Zimmer, so sinken ihr die Arme müde herab, mit denen sie die Fahne des Stolzes vor der Welt trägt, fast immer findet sie Fersen in Tränen; diese Liebesstunden mit dem unendlich geliebten und endlich gefundenen Freund, sie ähneln in nichts galanten Spielen, sondern alle Kraft muß dieser selbst ergriffene Mann aufbieten, um die geliebte Frau ihren Müdigkeiten und Melancholieen zu entziehen, und gerade dies, ihr Unglück, erregt in dem Liebenden das tiefste Gefühl. »Sie weint oft«, schreibt er der Schwester, »und ist sehr unglücklich. Wie muß ich sie lieben!« Die letzten Jahre waren zu hart für dieses leichtgläubige Herz. »Wir haben zuviel Grauenhaftes und zuviel Blut gesehen, um jemals noch glücklich sein zu können.« Aber immer wieder hebt sich gegen die Wehrlose der Haß, und sie hat keinen Verteidiger mehr als ihr Gewissen. »Ich fordere die ganze Welt heraus, mir irgendein wirkliches Unrecht nachzuweisen«, schreibt sie, oder »Das gerechte Urteil erwarte ich von der Zukunft, und das hilft mir, alle meine Leiden zu ertragen. Jene, die es mir verweigern, verachte ich zu sehr, um mich mit ihnen zu befassen.« Und doch stöhnt sie auf: »Wie leben mit einem solchen Herzen in einer solchen Welt!« und man spürt: in manchen Stunden hat die Verzweifelte nur noch einen Wunsch, es möge alles bald zu Ende gehen. »Könnte eines Tages, was wir jetzt tun und leiden, wenigstens unsere Kinder glücklich machen! Dies ist noch der einzige Wunsch, den ich mir erlaube.«


Dieser Gedanke an ihre Kinder, er ist der einzige, den Marie Antoinette noch mit dem Worte »Glück« zu verbinden wagt. »Wenn ich überhaupt noch glücklich sein könnte, so wäre ich es durch meine beiden Kinder«, seufzt sie einmal, und ein andermal: »Wenn ich sehr traurig bin, nehme ich meinen kleinen Jungen her«, und wieder ein andermal: »Ich bin den ganzen Tag allein, und meine Kinder sind mein einziger Trost. Ich habe sie soviel als möglich um mich.« Zwei von den vieren, denen sie das Leben gegeben hat, sind ihr weggestorben, nun drängt die zurückgetriebene, die einst der ganzen Welt leichtsinnig aufgetane Liebe diesen beiden übrig gebliebenen verzweifelt-leidenschaftlich zu. Insbesondere der Dauphin macht ihr viel Freude, weil er kräftig gewachsen, munter, klug und zärtlich ist, ein »chou d’amour«, wie sie verliebt von ihm sagt; aber wie alle ihre Gefühle sind auch die Neigungen und Zärtlichkeiten bei der Vielgeprüften nach und nach hellsichtig geworden. Obwohl sie den Knaben vergöttert, verzieht sie ihn nicht. »Unsere Zärtlichkeit für dieses Kind muß streng sein«, schreibt sie an seine Gouvernante. »Wir dürfen nicht vergessen, daß wir in ihm einen König heranbilden.« Und als sie an Stelle der Madame Polignac ihren Sohn einer neuen Erzieherin, der Madame de Tourzel, übergibt, verfaßt sie zu deren Anleitung eine psychologische Beschreibung, in der sich mit einem Mal blendend alle ihre bisher verborgenen Fähigkeiten der Menschenbeurteilung und des seelischen Instinkts zeigen. »Mein Sohn ist vier Jahre vier Monate weniger zwei Tage alt«, schreibt sie. »Ich spreche nicht von seinem Wuchs und seinem Äußern, das sehen Sie selbst. Seine Gesundheit ist immer gut gewesen, aber schon in der Wiege fiel auf, daß seine Nerven außerordentlich empfindlich waren und daß das kleinste besondere Geräusch auf ihn eine Wirkung ausübte. Seine ersten Zähne sind spät gekommen, aber ohne Krankheit und Zwischenfälle, erst bei dem letzten, ich glaube beim sechsten, hat er einen Krampf gehabt. Seitdem sind solche Krämpfe nur zweimal aufgetreten, einer im Winter von 1787 auf 1788, der andere bei seiner Impfung; aber der zweite war sehr geringfügig. Die feine Empfindlichkeit seiner Nerven bewirkt, daß jedes Geräusch, an das er nicht gewöhnt ist, ihm angst macht; so hat er zum Beispiel Furcht vor Hunden, weil er sie in seiner Nähe bellen gehört hat. Ich habe ihn nie gezwungen, Hunde anzuschauen, weil ich glaube, daß in dem Maße, wie seine Vernunft sich entwickeln wird, seine Furcht sich von selbst geben wird. Wie alle kräftigen und robusten Kinder ist er sehr übermütig und sehr heftig in seinen plötzlichen Zornausbrüchen; dennoch ist er ein gutes, zartes und zärtliches Kind, wenn ihn sein Trotz nicht packt. Er hat ein sehr großes Selbstgefühl, das, wenn man es gut leitet, eines Tages zu seinem Vorteil gewendet werden kann. Ehe er zu jemandem Zutrauen gefaßt hat, weiß er sich im Zaum zu halten und selbst seine Ungeduld und seinen Zorn zu verbergen, um sanft und liebenswürdig zu erscheinen. Er ist von großer Verläßlichkeit, wenn er etwas versprochen hat, aber er ist schwatzhaft, wiederholt gern, was er sprechen gehört, und fügt oft, ohne lügen zu wollen, etwas dazu, was seine Einbildungskraft ihn hat glauben machen. Das ist sein größter Fehler und der Punkt, in dem man ihn unbedingt bessern muß. Sonst ist er, wie ich wiederhole, ein gutes Kind, und mit Zartgefühl und gleichzeitiger Energie wird man ihn, ohne allzu streng zu sein, leicht leiten können und immer alles von ihm erreichen. Strenge würde ihn aufbringen, weil er für sein Alter viel Charakter hat. Ich will nur ein Beispiel geben: Seit seiner frühesten Kindheit hat ihn das Wort ›Verzeihung‹ immer aufgebracht. Er wird alles tun und sagen, was man von ihm verlangt, sobald er unrecht hat, aber die Worte ›Ich bitte um Verzeihung‹ wird er nur unter Tränen und mit unglaublicher Qual aussprechen. Man hat von Anfang an meine Kinder erzogen, großes Zutrauen in mich zu setzen, und wenn sie ein Unrecht begangen haben, es mir zu sagen. Das kommt davon, daß selbst, wenn ich sie auszanke, ich niemals so tue, als ob ich erzürnt, sondern immer nur, als ob ich gekränkt wäre und betroffen über das, was sie angestellt haben. Ich habe sie daran gewöhnt, daß alles, was ich einmal ausgesprochen habe, daß jedes Ja oder Nein unwiderruflich ist; aber ich gebe ihnen für meine Entscheidungen immer eine Ursache an, die ihnen und ihrem Alter verständlich ist, damit sie nicht glauben können, es sei meinerseits bloß eine Laune. Mein Sohn kann noch nicht lesen und lernt sehr schlecht; er ist zu zerstreut, um sich anzustrengen. Er hat gar keine Ahnung von seiner hohen Stellung, und ich wünsche sehr, daß dies so bleibe. Unsere Kinder werden schon früh genug lernen, wer sie sind. Er liebt seine Schwester sehr und von ganzem Herzen; immer wenn ihm etwas Vergnügen macht, sei es irgendwohin zu gehen, oder wenn er ein Geschenk erhält, ist es sein erstes, das gleiche auch für seine Schwester zu verlangen. Von Natur aus ist er heiter, und für seine Gesundheit ist es nötig, viel an der Luft zu sein…«


Legt man dieses Dokument der Mutter neben die früheren Briefe der Frau, man würde kaum glauben, eine und dieselbe Hand hätte sie geschrieben, so fern ist die neue Marie Antoinette von der andern, so fern wie Unglück von Glück, Verzweiflung von Übermut. In die weichen Seelen, in die unfertigen und nachgiebigen, prägt am deutlichsten das Unglück seinen Stempel: in klarem Umriß entsteht jetzt ein Charakter, der bisher wie fließendes Wasser unruhig und verschwommen war. »Wann wirst du endlich du selbst werden«, hatte immer verzweifelt die Mutter geklagt. Nun, mit den ersten weißen Haaren an den Schläfen, ist Marie Antoinette endlich sie selber geworden.


Diese völlige Verwandlung bezeugt auch ein Bild, das einzige und letzte, das die Königin in den Tuilerien anfertigen ließ. Kucharski, ein polnischer Maler, hat es in losen Umrissen gezeichnet, die Flucht nach Varennes hat ihn verhindert, es zu vollenden; dennoch ist es das vollendetste, das wir besitzen. Die Paradebilder Wertmüllers, die Salonbilder der Madame Vigée-Lebrun sind unablässig bemüht, den Betrachter durch kostbare Kostüme und Dekorationen zu erinnern, daß diese Frau die Königin von Frankreich sei. Im prunkvollen Hut mit herrlichen Straußenfedern auf ihrem Haupt, diamantenumblitzt das brokatene Gewand, tritt sie vor ihren samtenen Thronsessel, und selbst die sie in einem mythologischen oder ländlichen Gewand abbilden, haben immer irgendwo ein sichtliches Zeichen, das zu wissen gibt, diese Dame ist eine hohe Frau, nein, die höchste des Landes, die Königin. Dieses Bild Kucharskis läßt alle diese auffälligen Drapierungen beiseite: eine üppig schöne Frau hat sich hingesetzt auf einen Sessel und sieht träumerisch vor sich hin. Ein wenig müde scheint sie und ermattet. Sie hat keine große Toilette angezogen, kein Schmuck, kein Edelstein blitzt auf ihrem Nacken, sie hat sich nicht zurechtgemacht vorbei sind die komödiantischen Kniffe, dafür ist jetzt keine Zeit; das Werbende ist dem Ruhenden gewichen, die Eitelkeit der Einfachheit. Locker und natürlich fällt das Haar, kunstlos geordnet, in dem schon die ersten silbernen Strähnen glänzen, mühelos gleitet das Kleid von den noch immer fülligen und leuchtenden Schultern, aber nichts in der Haltung ist auf gefallsüchtigen Eindruck berechnet. Der Mund lächelt nicht mehr, die Augen werben nicht mehr; in einer Art herbstlichen Lichts, noch schön, aber schon von einer milderen, mütterlichen Schönheit, im Zwielicht zwischen Verlangen und Verzicht, als femme entre deux âges, nicht mehr jung und noch nicht alt, nicht mehr begehrend und doch noch begehrbar, so träumt diese Frau vor sich hin. Während man bei allen andern Bildern den Eindruck hat, als hätte eine in ihre Schönheit verliebte Frau mitten im Lauf, im Tanz, im Lachen sich bloß rasch einen Augenblick dem Maler zugewandt, um gleich wieder weiterzutollen, spürt man hier: diese Frau ist still geworden und liebt die Stille. Nach den tausend Götzenbildern in kostbaren Rahmen aus Marmor und Elfenbein zeigt dieses eine halbfertige Blatt endlich den Menschen; als einziges von allen läßt es zum erstenmal ahnen, daß diese Königin auch etwas wie eine Seele hat.

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Mirabeau

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Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.