Bruno Walter: Kunst der Hingabe
Zu seinem sechzigsten Geburtstag 15. September 1936
Wir wußten früh schon von ihm, aber spät erst haben wir ihn gekannt und erkannt. Denn für uns, deren Jugend in fanatischer Eingötterei der dämonischen Erscheinung Gustav Mahlers verfallen war, gab es keinen außer diesem einen in der Musik. Daß neben ihm in den letzten Lebensjahren ein Jüngerer stand, mit bewußter Demut in den Schatten zurücktretend hinter seinem stärkeren Licht, sein Helfer, sein Schüler, sein Mitwerker, das wußten und spürten wir wohl, aber der Jugend Sache ist es nicht, gerecht zu sein. Sie liebt es nicht, ihre Liebe zu teilen und maßvoll zu verteilen, und so blieb alles, was wir an Enthusiasmus an die Sachwalter der Musik auf Erden zu verschenken hatten, an diesen einen gebunden (dem wir eigentlich nie uns persönlich zu nahen wagten, aus Furcht vielleicht, der Zauber könnte sich lösen). Die andern mochten musizieren und dirigieren und noch so vollendet in ihrem Werke sein – nur dieser eine, Gustav Mahler, war uns die Musik. So mußte erst Gustav Mahler entschwunden sein, das Sternbild unserer Jugend gesunken, daß wir nun jenen als Eigenperson bemerkten, der ihm der nächste gewesen und nun sein Erbe geworden; zunächst liebten wir Bruno Walter darum nur mittelbar, nur als den Erhalter und Verwalter der Mahlerschen Tradition. Und erst allmählich wurden wir gewahr, daß, der aus Treue und aufopfernder Hingebung sich so lange als Schüler gewandet, unterdes schon selbst längst ein Meister gewesen war.
Diese wundervolle Fähigkeit der Hingabe bis zur Selbstverschattung, die wir als moralische Tugend bei dem jungen Menschen bewunderten, ist auch heute noch das innerste Genie seiner Musikalität. Immer verwandelt sich auf einer reiferen Stufe Charakter in Werk, und so ist diese ursprüngliche Disposition noch immer die entscheidendste und unvergleichliche Form seines Wesens geblieben. Nicht seinen Eigenwillen sucht Bruno Walter den Werken aufzuprägen, sondern seine Lust ist, der vollkommene Diener ihres transzendenten Willens zu sein, einzufluten und sich aufzulösen in dieser immer anderen Sphäre, wandelbar mit jedem Werk und beharrend in dieser Verwandlung, überall die Vollendung suchend, aber immer die individuale des Werkes. Bis zum herrlichsten Extrem der Schöpferischen weiß dieser restlos Dienende seinen Dienst zu steigern. Und wenn man bei dem anderen Genius der nachschaffenden Musik, bei Toscanini, in manchen Augenblicken das Gefühl hat, das Orchester verschwinde und alle Kraft, alle Kunst ströme einzig aus seinem Willen und Wesen, so ist es bei Walter wieder in seinen gesegnetsten Momenten, als ob er selber nicht mehr vorhanden wäre, weggetragen von der Welle, selbst nur Instrument, Klang, tönendes Element geworden aus einem Menschen.
Eine solche Hingebung bedeutet immer eine letzte Liebesbeziehung zum Kunstwerk. Niemals von außen, nicht wie der Geist an die Materie, niemals als Fachmann, als Intellektualist vermag Walter an ein Werk heranzutreten, er braucht immer Gebundenheit und letzte Verbundenheit. Und da Liebe immer eine äußerste Durchdringung sucht, ein Eindringen bis in Fleisch und Blut der geliebten Substanz, muß er jedesmal bis in seine tiefsten Tiefen sich verbunden fühlen, er muß ein Werk verstanden haben, aber nicht bloß mit dem Verstand, sondern sich der Seele des zu Beseelenden angeglichen, sich ihm eingelebt haben bis in den letzten Nerv. Erst wenn er ein Werk so bis ins Innerste durchdrungen hat und es selbst wieder sich seines Innersten völlig bemächtigte, erst dann und nur dann vermag er es als Erlebnis zu verwirklichen. Darum ist Bruno Walter an manche Meister und manche ihrer Werke erst so spät und erst nach langem Zögern herangegangen. Darum hat er trotz seinem lautersten Verlangen, gerade der Jugend zu dienen, von manchen modernen Komponisten, die er vom Menschlichen her auf das äußerste schätzt, sich ferngehalten, weil er sich bewußt war, ihre Absicht noch nicht im völligsten zu verstehen oder nicht aus ganzer Seele zu billigen, und er sich selbst nur, wenn mit ganzer Seele und in restlosester Hingebung schaffend, beflügelt und berechtigt weiß.
Wer so als komprehensive Natur geboren ist und sich als Sinn seines Lebens gesetzt hat, Erhabenes zu verstehen und anderen verständlich zu machen, der wird sich niemals spezialistisch auf ein einzelnes Fach beschränken können, der muß zutiefst erkannt haben, daß die Künste nicht einander begrenzen, sondern ergänzen, und daß, wer der einen wahrhaft dienen will, brüderlich verbunden sein muß mit allen. Wer nun die Ehre erworben hat, sich Bruno Walters Freund nennen zu dürfen, und die Freude kennt, oftmals mit ihm ein geistiges Gespräch zu teilen, der weiß um die wahrhaft universalische Bildung dieses Mannes, dem jeder Vers Goethes so vertraut ist wie jeder Takt Mozarts, dem jedes Bild irgendeiner Galerie auf Erden so in Farbe und Form bewußt ist wie die einzelnste Melodie seiner musikalischen Meister. Der Dichtung, dem Theater, dem Tanz, den Problemen der Regie mit gleicher Einfühlung vertraut, mußte ein Mann seiner universalischen Art geradezu unausweichlich der Genius werden, um das wagnerische Ideal der Oper als der Synthese aller Künste innerhalb unserer Zeit zu verwirklichen. Welche Abende danken wir ihm, welche unvergeßlichen und wie vielseitigster Art! Wie oft und wie immer anders hat er uns bezwungen, bald silbernen Klangs am Klavier oder Spinett Mozartsche Magien erweckend, dann wieder grandios Händels ›Messias‹ mit riesigen Quadern aufbauend, diesen Babelsturm bis in den Himmel, dann jenen unvergeßlichen ›Tristan‹, jenen unvergeßlichen … Aber nein, lieber nicht vereinzeln ein so wunderbar einheitliches Wirken! Wozu zählen und aufzählen, da doch nichts uns vergeßbar ist von allen diesen geistsinnlichen Manifestationen, in denen er uns Musik gelehrt in ihrem edelsten Sinn: Lastendes zu entschweren, Beengtes zu entbinden, Widerstreitendes zu lösen im endlichen Einklang. Wie haben wir ihn lieben gelernt in diesen Stunden bis in seine körperliche Gegenwart, wie liebten wir schon dies Gesicht, das in Gegenwart der Musik immer zu strahlen beginnt wie der Engel Antlitz, wenn Gott sie anblickt! Denn Lust ist es immer, einem Künstler sich hinzugeben, der selber so herrlich sich hinzugeben weiß und damit glorreich bezeugt, daß die Demut vor fremdem Werk nicht Schwäche verrät, sondern die schönste schöpferische Kraft auf Erden. Nur der Allverbundene schafft die wahren Verbundenheiten, immer geht von jeder großen Leistung entscheidendes Beispiel aus, gültig nicht einer Kunst, sondern allen Künsten. Wohl darum unserer Zeit, wenn sie von dieser herrlich harmonischen Natur das Geheimnis lernte, Kontraste zu lösen durch gleich gerechte Bemühung und allen Widerstreit, alle Dissonanzen zu binden in menschlich beglückendem Zusammenklang!
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Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.