Legende und Wahrheit der Beatrice Cenci


1926


Geschichte erscheint immer vorerst als rohe Substanz, erst der Dichter ist es oder jener andere anonyme Dichter, den wir Legende nennen, der ihr gestaltend Form verleiht. Durch Dichtung wird das Vergangene zum dauernd Lebendigen erneuert, Erfindung bindet mit kühner Argumentation das zufällige Nebeneinander der Wirklichkeit, und nach einiger Zeit begibt sich das Sonderbare, daß die Legende die Wirklichkeit verschattet und ihr zu Dank Gestalten in unserem Gedächtnis so fortleben, wie sie nie in Wahrheit gelebt haben und wie erst der Dichter sie ins Leben erweckte.


Aber sonderbar: Wenn man einmal oder das andere Mal überprüfend die schon selbstherrlich gewordenen Gestalten wieder mit ihrem historischen Urbild vergleicht, die Legende mit der Geschichte, die Dichtung mit den Dokumenten, so ergibt sich, daß dann oftmals nach Jahrzehnten und Jahrhunderten uns die wahrhafte Gestalt wieder wahrhaftiger erscheint als die übernommene der Dichtung. Die Akten Wallensteins, der Prozeß der Jeanne d’Arc stellen höhere Anforderungen an die mitschaffende Psychologie als die allzu geglätteten und kausal gebundenen Formen der Schillerschen Dramen. Eben durch die Abwesenheit aller Sentimentalität ergreift dann die nackte Naturhaftigkeit der Geschichte mehr als die dramatisch umkleidete Form der Tragödie, und der Stoff, die sachliche Logik der Tatsachen wirkt überzeugender als ihre Durchdichtung. Eines nach dem anderen haben wir jetzt eine Reihe solcher dichterischer verschönter Bilder durch die sichere und sorgliche Arbeit der Geschichtsforscher verblassen sehen. Und wiederum ist jetzt eine Legende am Verblühen, um als Wahrheit aufzuleben: die tragische Geschichte der Beatrice Cenci.


In der Galleria Barberini in Rom hängt ein Frauenbildnis, das zwei Jahrhunderte lang Guido Reni zugeschrieben wurde und unentwegt als Porträt der Beatrice Cenci galt. In Tausenden von Kopien, in Farben und Kupferstichen und Photographien ist es verbreitet, kein Geringerer als schon Stendhal hat es beschrieben. Dieses junge Mädchen stelle, so phantasiert der sonst Unromantische, die Unglückliche dar, in dem sonderbar drapierten Kleide, das sie sich zu ihrer Hinrichtung habe anfertigen lassen, und die »sehr sanften Augen« hätten »den erstaunten Ausdruck, als seien sie in dem Augenblick ihrer heißesten Tränen überrascht worden«. In Wirklichkeit zeigt das Bildnis ein etwa sechzehnjähriges Mädchen, das sich über die Schulter dem Betrachter entgegenwendet, vollkommen ohne Angst und Staunen, ein Unschuldsgesicht, nur Neugier und sanfte Lieblichkeit, kein Zug also, der einer entschlossenen Vatermörderin angehören könnte, die in wenigen Stunden vor dem Antlitz des ganzen römischen Volkes hingerichtet werden soll. Und in der Tat hat das Bild niemals Beatrice Cenci dargestellt, und Guido Reni konnte schon deshalb sie nicht nach dem Leben gemalt haben, weil er – die Historiker sind unbarmherzig gegen die Legende – erst drei Jahre nach ihrer Hinrichtung Rom überhaupt zum erstenmal betreten hatte. Hinfällig also das erschütterte Staunen Stendhals, hinfällig auch die romantische Tragödie Shelleys, der sie als rührendes Opfer väterlicher Bestialität zugrunde gehen läßt – die Wirklichkeit, wie nun die Dokumente sie entblößen, zeigt ein wesentlich anderes Bild. Weniger Unschuld, weniger Reinheit, weniger Romantik und Überschwang – aber dafür unendlich mehr an dramatischer Kraft, an Tumult des Gefühls, an heroischer Verwegenheit. Sie zeigt die Renaissance, wie sie in Wahrheit gewesen: brutal und blutgierig, skrupellos und grausam, den Urkampf entfesselter Naturen, eine Tragödie, groß und eindringlich wie die des Hauses der Atriden. Und statt der kalten Novelle Stendhals, statt des rhetorischen, schönen, nur etwas süßlichen Dramas Shelleys haben wir plötzlich einen Roman, aus Dokumenten – knapp und hart wie Quadern – gestaltet, die tatsächliche Geschichte dieses verruchten und wilden Geschlechts (Corrado Ricci, ›Die Geschichte der Beatrice Cenci‹, Stuttgart, R. Hoffmann 1927).


Die Geschichte der Cenci beginnt hier mit Francesco Cenci. Und nach den ersten paar Strichen seines Bildnisses krampft sich das Gedächtnis zusammen: woher kennt man diesen Menschen, diesen niedern, gemeinen, zynischen, geldgierigen, brutalen Greis, diese Spinne der Wollust, der alle erdenklichen Schändlichkeiten begeht, der seine Kinder knechtet und um ihr Erbe betrügt, der sich einsperrt auf seinem abgelegenen Gute und dort den niedrigsten Ausschweifungen hingibt, diesen bösen Dämon, der dann endlich von seinen eigenen Kindern im geheimen Einverständnis ermordet wird? Das Gedächtnis spannt sich an – und plötzlich weiß man: ja, das ist er, Zug um Zug, Fedor Pawlowitsch Karamasow, fast drei Jahrhunderte nachher von Dostojewski gestaltet. Zug für Zug stimmt das Bildnis, und man erschrickt vor dieser zufälligen Ähnlichkeit. Auch Francesco Cenci ist reich, und reich nur durch schmutzige Ausbeutung. Auch er entkommt nur durch die Disziplinlosigkeit des Gesetzes der Bestrafung für seine Verfehlungen und abwegigen Begierden, aber immer von neuem gerät er in Konflikte mit der Justiz, ohne daß doch die Angst dauernd seines großartigen Zynismus Herr werden könnte. Er wird in das kapitolinische Gefängnis überführt wegen Mordes und Schändung und kauft sich für hunderttausend Scudi frei. Ein andermal flüchtet er nach ähnlichen Verbrechen in das »Hospital der Unheilbaren«, aus dem er dann mühsam, nach neuer Geldbuße, herauskommt, beschmutzt und mit Krätze bedeckt wie ein Bettler – er, einer der reichsten und mächtigsten Edelherren der Zeit. Er hat einen Prozeß, furchtbar ähnlich jenem von Oscar Wilde, weil er sich im eigenen Hause mit Dienern, schmierigen Gassenjungen vergangen hat; wieder entgeht er durch Bestechung und List dem Scheiterhaufen. Genauso wie bei dem alten Karamasow tobt hier zwischen Francesco und seinen Kindern ein erbitterter Kampf um das Erbe, das er ihnen vorenthält, um das Geld, das er einzig zur Lust verwendet, die anderen zu knechten. Genau wie Karamasow zieht sich schließlich gehetzt und erschreckt der grausame Alte auf ein abgelegenes Gut zurück, in die »Petrella«, und genau wie Fedor seinen Sohn Aljoscha aus dem Kloster reißt und mitschleppt in seine verbitterte Einsamkeit, so führt Francesco Cenci seine zweite Frau Lukrezia und seine sechzehnjährige Tochter Beatrice mit sich als Gefangene in das vermauerte, unheimliche Schloß.


Als Gefangene: denn Frau und Tochter dürfen keinen Menschen sehen, dürfen mit niemandem Umgang haben. Die Fensterläden in ihrem Zimmer sind vernagelt, kein Brief kann zu ihnen, keine Botschaft von ihnen in die Außenwelt, und als der Unmensch einmal erfährt, daß Beatrice sich mit der Bitte um Befreiung an den Papst gewandt, überfällt er sie mit dem Ochsenziemer und schlägt die Blutende zu Boden. Er verhindert ihre Heirat, um ihr nicht Geld mitgeben zu müssen, er verhindert ihren Verkehr mit den Brüdern, von denen er mit Recht – das Furchtbarste erwartet. Denn seine Söhne haben sein eigenes Blut geerbt – Mordbuben, Lustjungen, verwegene Kerle ohne Gottesfurcht und Gesetzesangst, brutal, sinnlich vehement und ohne Scheu. Er weiß, daß sie nicht zögern würden, so wie man im Rom von damals sich seiner Feinde mit einem Dolchstoß entledigte, auch ihn zu gelegenster Stunde zu beseitigen. Darum ist der alte Dämon immer auf der Wacht. Er nimmt keinen Bissen Speise, keinen Tropfen Wein, ohne daß Beatrice oder Lukrezia ihn vorgekostet hätten. Er verschließt sein Schlafgemach, um nicht im Schlummer überfallen zu werden – genau wie Fedor Karamasow ist er ständig von düsteren Ahnungen über sein Schicksal erfüllt und bei aller Wildheit voll einer hündischen, feigen Lebensangst.


Die Weltgeschichte kennt wenig so furchtbare Szenerien wie diese drei Zimmer in dem steinernen Schlosse der Petrella, erfüllt von Bosheit, Brutalität, Angst und Entsetzen, und es gibt vielleicht keine Darstellung der Renaissance, die gleich entsetzlich den Riesenkampf unüberwindlicher Instinkte im fürchterlichsten Gegeneinander von Vater und Tochter, Frau und Mann, Kindern und Erzeuger zeigte. Nur der atridische Mythos mit seinem kolossalischen Maß und seinem düster barbarischen Licht hat solche grausige Großartigkeit der ins Gefährliche kühn hinübergereckten Gestalten.


Aber der Legende war dies nicht genug. Sie brauchte etwas Helles im Kontrast zu diesem tragischen Hintergrund, eine rührende Gestalt als Gegenspiel zu dem teuflischen Dämon des alten, geldgierigen Lüstlings, einen erhebenden Impuls für die anhebende Tragödie – so erfand sie sehr frühzeitig die Legende der reinen, keuschen Beatrice Cenci. Sie sei jungfräulich von ihrem eigenen Vater überfallen und entehrt worden, und aus dem Zorn und der Empörung erschütterter Tugend habe sie sich an dem väterlichen Verführer gerächt – so formt die Legende die Vorgeschichte des Mordes. Doch die Dokumente, die sonst keine Sympathie für Francesco zeigen, wissen von dieser äußersten Untat nichts. Sie sprechen von entzogenem Geld, von Erniedrigungen, von Brutalitäten – niemals aber von jenem letzten Verbrechen Francesco Cencis. In ihnen erscheint Beatrice nicht so sehr als die schuldlose Märtyrerin, sondern vielmehr – großartig in einem anderen Sinne – ganz als die Tochter des eigenen Vaters, kühn, zu allem entschlossen, auch die letzte Grenze der Natur überschreitend, leidenschaftlich in den Sinnen und leidenschaftlich in der Rache – eine Frau der Renaissance, mutig und verwegen und besinnungslos kühn in ihrem Entschluß. Ihr Vater hat sie erniedrigt, ihr Vater hat sie geschlagen, ihr Vater nimmt ihr durch Einsperrung das ganze eigene Leben – so muß er sterben, und diesem einen Ziel opfert sie nun alles auf – sogar ihren eigenen Leib.


Allein kann sie diese äußerste Tat nicht tun und auch nicht zu zweit mit der Stiefmutter, die einverstanden ist, nicht einmal zu dritt mit dem eigenen Bruder, der ausdrücklich von ferne den Mord billigt. Denn mit Gift ist dem Vorsichtigen nicht beizukommen. Und mit dem Beil den riesenhaften, selbst im Alter übermächtigen Mann zu töten, fehlt ihnen die körperliche Kraft. So suchen sie nach Genossen – Beatrice sucht um den Preis ihres Leibes einen Mann, der, wie Ägisth gegen Agamemnon, den tödlichen Streich führen soll. Und er ist bald gefunden. Der Knecht und Hauswart Olympio ist ein stattlicher Mann, kräftigen Leibes und mutigen Sinnes, ehrgeizig und eitel: so hat das junge Mädchen nicht viel Mühe, ihn seiner Frau abspenstig zu machen, und sie zahlt den vollen Preis. Auf einer Leiter klettert er Abend für Abend in ihr Zimmer und ihr Bett: dort wird der Plan ausgeheckt, den alten Dämon zu beseitigen, und auch ein Zweiter wird für die Tat gewonnen.


Und wiederum Karamasow: genau wie Fedor nachts auf ein gegebenes Zeichen mit dem Hammer, so wird Francesco von den Verschworenen überfallen, nachdem man ihm zuvor einen Schlaftrunk gegeben. Der eine zerschmettert ihm den Schädel, während der andere den Körper des Riesen niederdrückt. Dann schleppen sie den Leichnam hinaus auf die hölzerne Terrasse, die sie abends zuvor schon durchlöchert haben, um den Anschein zu erwecken, als habe der morsche Balkon zufällig nachgegeben und als sei Francesco Cenci durch einen Zufall in die Tiefe gestürzt. Dort wird am nächsten Morgen der zerschmetterte Leichnam gefunden.


Leidenschaft hat den Plan erdacht, Leidenschaft den Plan ausgeführt – und nicht Besonnenheit. Zu herrisch, zu stolz, um im voraus einem Verdacht zu begegnen, schlafen die beiden Frauen in unsinniger Sorglosigkeit. Unzulänglich verbergen sie die blutigen Tücher, ohne Bedenken lassen sie die halbe Stadt in die Zimmer zur Leiche, die dann noch am selben Abend mit verdächtiger Eile wie ein Tier verscharrt wird. Als rechte Menschen des Cinquecento, als Herrenmenschen und Adelsstolze halten sie es für unnötig, etwas zu verbergen und vorsichtig zu sein: sie verachten das Geschwätz des Pöbels, das Gerede der Mägde, die Frauen der Mittäter (dieses Geschmeiß, das man doch mit einem Dolchstich beseitigt, wenn es wagen sollte, den Mund auf zu tun). So wie innerlich, fühlen sie sich auch äußerlich jenseits von jedem Gesetz, nun da sie den Reichtum, die Macht als Herren in den Händen haben. Triumphierend berichtet Beatrice an den Bruder die gelungene Tat; und ohne das Verdächtige darin zu bedenken, schenkt sie dem Mörder Olympio, ihrem Liebhaber, zum Lohn den Diamantring und ein Kleid des gemordeten Vaters, wie man eben einen Kammerdiener für eine wackere Tat belohnt.


Aber allmählich regt sich und schwillt das Gerede, und das Unglück will, daß gerade ein strenger Papst im Lande ist. Wie bei Gilles de Raitz, wie bei allen großen adeligen Verbrechern des Mittelalters, wie vielleicht auch bei den Reichen der Neuzeit, ist es immer einer für eine ganze Generation, an dem der Staat, an dem die weltliche Macht ein Exempel statuiert. Was sonst schützt, der Reichtum, wird gerade bei den Allerreichsten, hier den Cencis, zum Verderben; denn aus der Bestrafung der Schuldigen erwächst dem Staate, in diesem Falle dem Papst, die Konfiskation der ungeheuren Güter. Der Papst Klemens ist entschlossen, endlich wieder einmal Ernst zu machen mit dem Gesetz. Nichtsdestoweniger wird aber die Untersuchung zunächst nur lau betrieben; Beatrice, ihre Mutter, ihr Bruder werden nur vorsichtig ausgefragt und bloß in ihren Häusern interniert. Schon hat es den Anschein, als sollte, wie fast immer in solchen Fällen, die leidige Affäre durch Hinhalten, Bestechungen und Kompromisse aus der Welt geschafft werden. Die beiden wichtigsten Zeugen, die eigentlichen Mörder, haben sich aus dem Staube gemacht; der eine ist unauffindbar, aber der andere, Olympio, wagt sich im Vertrauen auf die Macht der Cenci sogar wieder offen in Rom heraus. Und abermals ist es nur der unsinnige Hochmut, die leidenschaftliche Kühnheit des Renaissancemenschen, die den adeligen Verbrechern Verderben bringt. Denn da die Zeugen unbequem werden könnten, man sich auch ungern solchem Pöbel verpflichtet fühlt, und weil es außerdem der »Ehre« dieser Mörderfamilie widerstrebt, daß ein Bursche aus niederem Stand, Olympio, sich rühmen könnte, der Beischläfer einer Cenci gewesen zu sein, beschließen sie kurzerhand, ihn zu erledigen. Der damals leicht auftreibbare Bravo wird gemietet, Olympio gewaltsam verschleppt und ermordet. Und mit der gleichen zynischen Achtlosigkeit wie die Herrenleute lassen die Bravi den Leichnam auf der Straße liegen, gleichgültig gegen das Gesetz, das aber endlich, aufgepeitscht von soviel herausfordernder Kühnheit und Anmaßung, zornig wird und zugreift.


Und das Gesetz hat damals einen furchtbaren Griff, eine grauenhafte Waffe: die Folter. Beatrice, Lukrezia und der Bruder sowie alle übrigen Beteiligten werden auf Befehl des Papstes in die Gefängnisse der Engelsburg gebracht. Dort, in den nassen, kalten Räumen der Folterkammer beginnen die entsetzlichen Befragungen, die nervenerschütternden Torturen, deren Beschreibung in den Dokumenten enthalten ist; und so grausam reißen die Seile und die teuflische Erfindung der Veglia, der »Winde«, an den Gliedern, daß die Gefolterten in kürzester Zeit alles gestehen. Nun eilt die Tragödie mit unaufhaltsamer Geschwindigkeit ihrem Ende zu. Das Urteil wird gefällt: Tod für die Stiefmutter und die Tochter durch das Schwert, Vierteilung für den vatermörderischen Sohn.


Und, knapp vor dem Tode, enthüllt sich – sichtbar für die Sehenden – inmitten all dieser Abgründigkeiten noch ein letztes Geheimnis – höchst unbequem der Legende: Beatrice Cenci, die später als zweite Lukrezia und unbeugsame Jungfrau Gefeierte, macht vor der Hinrichtung ihr Testament, in dem sie als Universalerben die »Seraphischen Schwestern der Wundmale des heiligen Franziskus« einsetzt und etwa dreißig Kirchen, Klöster, Spitäler, Kongregationen und Gefängnisse bedenkt. Aber die sonderbarste Verfügung in diesem Vermächtnis ist ein scheinbar bedeutungsloses Kodizill, in dem sie einer vertrauten Freundin einen großen Betrag vermacht für ein bestimmtes, mit Namen nicht genanntes Kind, das in seinem zwanzigsten Jahre jenes Kapital mit Zinsen erhalten soll. Die mehrmalige Erwähnung eben dieses namenlosen, nur der Freundin bekannten Kindes im Testament und in den Kodizillen läßt fast keinen Zweifel zu, daß jene Verbindung mit Olympio nicht ohne Folgen geblieben und das Drängen Beatrices, ihren eigenen Vater zu beseitigen, schließlich auch in der Furcht vor Entdeckung ihrer Mutterschaft begründet war. Damit stürzt und fällt freilich ein wesentlicher Teil der Legende, aber um so menschlicher, klarer und eindringlicher eröffnet sich die innere Tragödie, die jenes Schloß der Petrella jahrhundertelang verborgen.


Am 11. September 1599 wird dann die Hinrichtung vollzogen. Um Mitternacht treten in die Zelle der Verurteilten die unheimlichen Gestalten der Confortatori, der Tröster, vermummt, schwarze Kapuzen übergestülpt und Masken über dem Antlitz, Laternen in der Hand. Die Verurteilten werden zuerst zur Messe geführt und legen die Beichte ab, dann kommunizieren sie: dann erst führt man sie den Todesweg. Voran schreiten die Kongregationen der Wundmale, barfuß, in Säcke von aschgrauer Farbe gehüllt, um die Hüften einen großen Strick mit Rosenkränzen, dann Soldaten und Sbirren, der Gerichtshof und die Brüderschaft der Misericordia – hinter dem Karren der Verurteilten wieder fromme Orden, Litaneien singend, und unendliche Scharen Volks, so daß diese Zeremonie beinahe wie ein spanisches Autodafé anmutet. Von allen Balkonen und Fenstern blicken erschüttert Menschen nieder, aber nicht so sehr in Mitleid für Giacomo Cenci, dem der Henker mit der glühenden Zange die Fetzen Fleisches aus dem gemarterten Leibe reißt, sondern einzig auf das junge Mädchen starren sie, die Zweiundzwanzigjährige, die alle Folterungen in den Türmen erduldet hat und nun, schön wie ein Engel, wunderbar jugendlich anzusehen, zum Schafott geführt wird. Und kaum der Henker sein Amt getan hat und die Bahre am Fuß des Blutgerüstes steht, treten schon junge Mädchen heran, um das abgeschlagene Haupt mit Blumen zu bekränzen, Frauen drängen ihnen nach, und bald strömt das ganze Volk, Edelleute wie Pöbel, zu einer ungeheuren Prozession zusammen, und sie stellen Kerzen neben die Bahre, bringen Blumen und Kränze, als sei hier eine Heilige gestorben und nicht eine Vatermörderin.


Denn so stark ist die Gewalt der Jugend und Schönheit, daß, wo immer der Tod sie berührt, sie Geheimnis und Erschütterung schafft und die Welt ihr gegen alle Wirklichkeit den Glauben an die Schuld verweigert. Von diesem Augenblicke an, wo die ersten Blumen des Volkes das erblaßte Antlitz zieren, beginnt die Legende zu blühen von Beatrice Cenci, der Märtyrerin, die ihre jungfräuliche Ehre an ihrem blutfrevlerischen Vater rächte. Sie dringt in das Volk, wird Lied und Überlieferung, rankt sich fest in den Jahrhunderten; die Dichter, die Maler erneuern sie in immer rührender Gestalt. Und selbst die Wirklichkeit, wie sie nunmehr bedeutend wahrhaftiger und großartiger aus den Dokumenten zutage tritt, wird sie nicht mehr ganz zerstören.

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