Léon Bazalgette


1927


Sein letzter Brief, den ich einen Tag vor seinem Tode erhielt, war unterschrieben »ton ami des profondeurs du siècle dernier«. Tatsächlich, über ein Vierteljahrhundert waren wir in männlich und brüderlicher Kameradschaft verbunden und ich weiß Weniges in meinem Leben, auf das ich so stolz war wie auf sein unerschütterliches Zutrauen in hellen und dunklen Jahren. Denn dieser Mann – wer kann, wer muß es bezeugen als wir? – war ein Genie der Freundschaft, er meisterte diese strenge und männliche Kunst mit der ganzen zusammengefaßten Kraft seines Wesens. Freundschaft war ihm Bedürfnis, er gab sie leicht und gern, aus der Offenheit und Freigebigkeit seiner Natur, aber er nahm sie auch ebenso streng und unerbittlich zurück, sobald er die geringste Unehrlichkeit, Feigheit und Schwäche bei einem Kameraden merkte: während und nach dem Kriege hat er fürchterliche Musterung gehalten unter all jenen, die diese entscheidendste Prüfung der Menschlichkeit nicht bestanden hatten, und was er diesen Ungetreuen nahm, gab er dann den Getreuen seines Herzens doppelt und dreifach wieder zurück. Darum galt in unserem Kreise seine Freundschaft als das äußerste und gültigste Maß der Gerechtigkeit. Sagte man von einem »c’est un ami de Bazalgette«, so bedeutete dies schon vollgültige Legitimation und hieß übersetzt: ein ehrlicher, ein verläßlicher Mann, ein Nicht-Paktierer, ein »Camerado« im Sinne Walt Whitmans, dieses seines Vorbildes und Meisters.


In diesen vielen Jahren habe ich unendlich viel von ihm gelernt, denn er zeigte in seinem bescheidenen, für die Öffentlichkeit fast unterirdischen Leben prachtvoll die zur Rarität gewordene Tugend des Künstlers: Unabhängigkeit. Er war unabhängig vom Ruhm, kümmerte sich nicht darum, ob man viel von ihm redete oder wenig, ob die großen Zeitungen ihn rühmten oder vergaßen. Er war unabhängig vom Geld, denn er haßte den Luxus als eine überflüssige und gefährliche Anomalie unserer gegenwärtigen Gesellschaft. In seinen zwei Zimmern zu wohnen, in einem kleinen Gasthaus zu guten Gesprächen mit Freunden zusammenzusitzen, einen Monat lang in seinem Häuschen am Lande die Erde zu graben und redlich seine kritische künstlerische Arbeit zu tun, das war ihm genug. Frei bleiben, das wollte er und ist es geblieben. Kein Titel hat seinen Namen geehrt, keine Auszeichnung sein Knopfloch belästigt. »Nulla crux nulla corona«, keine äußerliche, keine öffentliche Ehre schmückt nun sein Gedenken als unsere Ehrfurcht und Liebe. Aber ein solches Leben bis zum Ende unerschütterlich gelebt zu sehen, stärkt gegen alle Versuchungen. Frei von allen Bindungen, herrlich unabhängig und rein, war es bessere Schule zu wirklicher Menschlichkeit als alle Akademien und philosophischen Societäten, und mindestens ebenso wie durch seine meisterlichen Übertragungen hat er uns in seiner Haltung das Bildnis jenes zukünftigen männlichen Ideals gezeigt, das Walt Whitman vor einem halben Jahrhundert schon forderte, den heiteren, freien, sicheren, allem Aufrechten verbundenen, allem Unglück leidenschaftlich zugewandten, hilfreichen Menschen. Man darf von ihm sagen, er hat nicht Walt Whitman übertragen, sondern das Wesen Walt Whitmans sich in ihn.


Nur wir, die wir ihn nahe kannten, wissen darum, welche herrliche Kraft in diesem bescheidenen, im Schatten der Öffentlichkeit wohnenden Mann wirkte, daß er unsichtbar, gleichsam wie ein geometrischer Punkt mit der moralischen Schwerkraft seiner Person einen ganzen Kreis an sich heranzog und ihn in seiner Richtung bestimmte. Von den vier Mannestugenden, Schaffen, Kämpfen, Dienen und Helfen, hat er jede geübt. Er hat geschaffen: jene drei wunderbaren Werke über Walt Whitman, Verhaeren und Thoreau, die einer ganzen Generation einen Zuwachs an Energie, eine Verstärkung der innern Dynamik gegeben haben. Er hat gekämpft gegen alle Ungleichheit der Menschen, gegen den Krieg und jede andere Form moralischer Unterdrückung. Er hat gedient, jahrelang, leidenschaftlich und ohne materiellen Gewinn an dem Werke jenes Menschen, den er am meisten liebte, und hat so die Verse Walt Whitmans aus amerikanischen zu europäischen gemacht. Und er hat geholfen, jeder Jugend, jedem energischen, ehrlichen, unbedingten Streben. Es sind Hunderte, die lange ehe ein Strahl Öffentlichkeit auf sie fiel, von ihm Zuspruch und Hilfe erfahren haben. Was immer er aber schuf, immer war es im Sinne einer Steigerung der lebendigen Kräfte, immer im Sinn des wirklichen Volkes, der großen unsichtbaren Gemeinschaft. Alles Dekadente, alles Melancholische, alles bloß spielhaft Erotische, alles bloß spielhaft Kunsthafte, l’art pour l’art blieb seinem ins Weite fühlenden Instinkt verhaßt, alle Kunst für kleine Kreise, die nicht welthaft werden wollte, nicht zu allen sprechen, zu allen Ländern, allen Ständen, allen Sprachen.


Eine solche Leistung, ein solcher Mann darf nicht vergessen werden. Und um ihm wahrhaft treu zu bleiben, haben wir heute nur einen Weg: in seinem Sinn zu leben, als ob sein strenges und gleichzeitig gütiges Auge jeden unserer Schritte beobachtete. So zu leben, als ob wir seine Freundschaft, die unschätzbare, immer wieder neu verdienen wollten, indem wir anständig und aufrecht bleiben, alle Versuchungen und Kompromisse ablehnen und immer wieder versuchen, das Unbeugsame und Ehrliche seiner Haltung in uns zu verwirklichen. Nur wenn auch weiterhin die Freunde Léon Bazalgettes – obwohl er sie verlassen hat –, seiner würdig sind, bleibt sein Wesen, sein Werk lebendig, und wir können ihn nicht besser ehren, als in seinem Sinne zu wirken und zu dienen für das europäische Ideal.

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Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.