II.


Und dann 1915: siebzehn Jahre. Die Eltern gealtert um ein Jahrzehnt. Der Vater, als ob irgendeine Lauge innen an ihm zehrte, schrumpft zusammen, gelb und gebückt quält er sich von einem Zimmer ins andere, und alle wissen, er hat Sorgen mit dem Geschäft. Seit sechzig Jahren, noch vom Großvater her, gab’s keinen in der ganzen Monarchie, der Gamskrickel so zu richten und Waidbeute so kunstvoll auszustopfen verstand als Bonifazius Hoflehner und Sohn. Den Esterhêzy, den Schwarzenberg, den Erzherzogen sogar hat er die Jagdtrophäen für die Schlösser präpariert, mit vier oder fünf Gehilfen gearbeitet, fleißig, sauber und ehrenhaft, von morgens bis spät in die Nacht. Aber in dieser so mörderischen Zeit, da man einzig auf Menschen schießt, steht die Klinke wochenlang still, aber das Kindbett der Schwiegertochter und die Krankheit des Enkels, alles kostet Geld. Immer tiefer biegen sich die Schultern des schweigsam gewordenen Mannes herunter, und eines Tages knicken sie völlig ein, wie der Brief vom Isonzo kommt, zum erstenmal nicht Ottos Schrift, des Sohnes, sondern die seines Hauptmanns, und da wissen sie schon: Heldentod an der Spitze der Kompanie, dauerndes Gedenken usw. Immer stiller wird es im Haus; die Mutter hat aufgehört zu beten, das Licht über dem Marienbilde ist erloschen; sie hat vergessen, das Öl nachzufüllen.


1916, achtzehn Jahre. Ein neues Wort geht unermüdlich im Haus um: zu teuer. Die Mutter, der Vater, die Schwester, die Schwägerin flüchten vor ihren Sorgen in den kleinen Jammer der Papierzettel hinein, von früh bis nachts rechnen sie einander das arme tägliche Leben vor. Zu teuer das Fleisch, zu teuer die Butter, zu teuer ein Paar Schuh: kaum wagt sie selber, Christine, noch zu atmen, aus Furcht, es sei zu teuer. Wie erschreckt flüchten die notwendigsten Dinge des nackten Lebens zurück und verkriechen sich hinab in Hamsterhöhlen und erpresserische Dachsbauten, man muß ihnen nachspüren, das Brot will erbettelt sein, die Handvoll Gemüse erschlichen bei der Krämerin, die Eier vom Lande hereingeholt, die Kohlen mit dem Handwagen vom Bahnhof gekarrt, tägliche Wettjagd Tausender frierender, hungernder Frauen und täglich kärglicher die Beute. Dabei hat’s der Vater mit dem Magen, er braucht besondere, bekömmliche Kost. Seit er das Schild ›Bonifazius Hoflehner‹ herunternehmen mußte vom Laden und das Lokal verkaufen, spricht er zu niemand mehr, nur manchmal preßt er die Hände scharf an den Leib und stöhnt, wenn er sich allein glaubt. Eigentlich sollte man den Arzt holen. Aber: zu teuer, sagt der Vater und krümmt sich lieber heimlich in seiner Not.


Und 1917 – neunzehn Jahre; zwei Tage nach Silvester haben sie den Vater begraben, das Geld im Sparkassenbuch reichte gerade noch, die Kleider schwarzfärben zu lassen. Das Leben wird immer teurer, zwei Zimmer haben sie schon vermietet an ein Flüchtlingspaar aus Brody, aber es reicht nicht, es reicht nicht, ob man auch von morgens bis tief in die Nacht robotet. Schließlich besorgt ihnen Onkel Hofrat im Ministerium eine Stellung im Kornenburger Spital, für die Mutter als Beschließerin, sie selbst als Kanzlistin. Wenn es nur nicht so weit wäre, im Morgengrauen hinaus im eiskalten, ungeheizten Waggon und abends erst zurück. Dann aufräumen, flicken, scheuern, stopfen und nähen, bis man ohne zu denken, ohne etwas zu wünschen, wie ein umgestürzter Sack in einen ungütigen Schlaf fällt, aus dem man am liebsten nicht mehr erwachte.


Und 1918 – zwanzig Jahre. Noch immer Krieg, noch immer kein freier, sorgloser Tag, noch immer nicht Zeit, einen Blick in den Spiegel, einen Sprung auf die Gasse zu tun. Die Mutter beginnt zu klagen, die Beine schwellen ihr an in dem feuchten, nicht unterkellerten Spitalsraum, aber sie hat kaum mehr Kraft für Mitgefühl. Sie wohnt zu lang mit Gebrest im selben Haus; irgend etwas in ihr ist stumpf geworden, seit sie täglich siebzig bis achtzig grauenhafte Verstümmelungen auf der Schreibmaschine registrieren muß. Manchmal stapft auf seiner Krücke das linke Bein ist zerschmettert – ein kleiner Leutnant aus dem Banat zu ihr ins Büro, goldblond das Haar wie der Weizen in seiner Heimat und doch schon Schreckfalten in dem noch ungewissen Kindergesicht. Aus Heimweh erzählt er in seinem altschwäbischen Deutsch Geschichten von seinem Dorfe, seinem Hund, seinen Pferden, armes blondes verlorenes Kind. Einmal küssen sie sich abends auf einer Bank im Garten, zwei, drei matte Küsse, mehr Mitleid als Liebe, dann sagt er, er wolle sie heiraten, sobald der Krieg vorbei sei. Sie lächelt erschöpft an seinen Worten vorbei; daß der Krieg je zu Ende gehen könne, wagt sie gar nicht zu denken.


Und 1919 – einundzwanzig Jahre. Wirklich, der Krieg ist vorbei, das Elend nicht. Nur geduckt hat sich’s unter dem Trommelfeuer der Verordnungen, nur listig verkrochen unter den papierenen Kasematten der drucknassen Banknoten und Kriegsanleihen. Jetzt kriecht es hervor, hohläugig, breitmäulig, hungrig und frech, und frißt den letzten Abhub aus den Kloaken des Krieges. Ein ganzer Winter von Nennern und Nullen schneit vom Himmel herunter, Hunderttausende, Millionen, aber jede Flocke, jeder Tausender zergeht leer in der heißen Hand. Während man schläft, schmilzt das Geld, während man die zerrissenen, holzbestöckelten Schuhe wechselt, um ein zweites Mal zum Verkaufsstand zu rennen, ist es zerblättert; immer ist man unterwegs, doch immer schon zu spät. Das Leben wird Mathematik, Addieren, Multiplizieren, ein toller, wirbeliger Kreis von Ziffern und Zahlen, und dieser Quirl reißt die letzten Habseligkeiten in sein schwarzes unersättliches Nichts: die Goldspange der Mutter vom Halse, den Ehering vom Finger, den damastenen Überzug vom Tisch. Aber soviel man hineinwirft, vergebens, man kann es nicht zustopfen, das schwarze höllische Loch, es hilft nichts, daß man Wollsweater wirkt bis tief in die Nacht und alle Zimmer vermietet und selbst zu zweit in der Küche schläft. Aber der Schlaf, dies ist noch das einzige, das man sich gönnen kann, das einzige, was nichts kostet; spätabends den abgejagten, mager gewordenen, blassen, den noch immer unberührten Leib auf die Matratze werfen, sechs Stunden, sieben Stunden nichts zu wissen von dieser apokalyptischen Zeit.


Und dann 1920–1921. Zweiundzwanzig, dreiundzwanzig Jahre, Blüte der Jugend, so heißt es doch. Aber ihr sagt es keiner, und sie selber weiß es nicht. Von morgens bis abends nur ein Gedanke: wie auskommen mit dem ewig dünner werdenden Geld? Um einen Strich ist es besser geworden. Noch einmal hat der Onkel Hofrat geholfen, persönlich ist er zu seinem Tarockfreund in die Direktion gegangen, eine Postaushilfsstelle herauszubetteln, in Klein-Reifling zwar, erbärmliches Weinbauernnest, aber immerhin eine Anstellungsanwartschaft, eine Planke Sicherheit. Für einen reicht das knappe Gehalt, aber da der Schwager keinen Platz hat im Hause, muß sie die Mutter zu sich nehmen und jedes Eins zu Zwei strecken: noch immer beginnt jeder Tag mit Sparen und endet mit Rechnen. Jedes Zündholz ist gezählt, jede Bohne im Kaffee, jeder Mehlkrümel im Teig. Aber immerhin, man atmet, man lebt.


Und 1922, 1923, 1924 – vierundzwanzig, fünfundzwanzig, sechsundzwanzig Jahre. Ist man noch jung? Wird man schon alt? Ein paar Falten kritzeln sich leise in die Schläfen, müde sind ihr manchmal die Beine, und im Frühjahr tut der Kopf ihr sonderbar weh. Aber doch, es geht vorwärts, es geht besser. Das Geld liegt wieder hart und rund in der Hand, sie ist fix angestellt, heißt Postassistentin, auch der Schwager schickt der Mutter zwei, drei Banknoten am Monatsanfang. Jetzt wäre es Zeit, ganz leise zu versuchen, wieder jung zu sein; die Mutter drängt selbst, sie solle doch ausgehen, sich vergnügen. Schließlich setzt die Mutter durch, daß sie sich im Nachbarort in eine Tanzstunde einschreiben läßt. Leicht wird dies rhythmische Tanzenlernen nicht, die Müdigkeit sitzt schon zu tief im Blut, manchmal ist ihr, als seien ihr die Gelenke schon irgendwie eingefroren, auch die Musik taut sie nicht auf. Mühsam übt sie die vorgeschriebenen Schritte, aber es packt sie nicht recht, es reißt sie nicht hin, zum erstenmal ahnt sie: zu spät, die Jugend verquält, zerrissen vom Krieg. Eine Feder muß innen zerbrochen sein, und irgendwie spüren das wohl auch die Männer, denn keiner wirbt recht um sie, obwohl ihr zartes blondes Profil wie adelig wirkt unter den apfelrunden und apfelroten groben Gesichtern der dörfischen Mädeln. Aber die warten dafür nicht so still und geduldig, diese Siebzehnjährigen, Achtzehnjährigen des Nachkriegs, bis einer sie will und wählt. Sie fordern Vergnügen als ihr Recht und fordern es so ungestüm, als wollten sie nicht nur ihre eigene Jugend leben, sondern dazu noch die der hunderttausend Toten und Verscharrten. Mit einer Art Schreck beobachtet die Sechsundzwanzigjährige, wie selbstsicher und begehrlich, mit wie wissenden und frechen Augen, mit wie provozierenden Hüften diese Neuen, diese Jungen sich gebärden, wie unzweideutig sie unter den verwegensten Griffen der Burschen lachen und wie sie ohne Scham eine vor der andern beim Nachhauseweg jede mit einem Mann gegen den Wald hin abbiegen. Es ekelt sie. Uralt und müde, unnütz und überrannt fühlt sie sich inmitten dieses gierigen und groben Nachkriegsgeschlechtes, unwillig und unfähig, mit ihnen wettzueifern. Überhaupt: nur nicht kämpfen mehr, nur nicht mehr sich mühen! Nur ruhig atmen, still vor sich hinträumen, seinen Dienst tun, die Blumen gießen am Fenster, nichts wollen, nichts wünschen. Nur nichts herausfordern mehr, nichts Neues, nichts Erregendes: selbst zur Freude hat die Sechsundzwanzigjährige, um ihr Jahrzehnt Jugend durch den Krieg bestohlen, keinen Mut mehr und keine Kraft.


Unwillkürlich seufzt Christine aus ihren Gedanken heraus. Schon das Darandenken, an all das Grauenhafte ihrer Jugend, macht sie müd. Unsinn das alles, was die Mutter angezettelt hat! Wozu jetzt von hier fort und zu einer Tante, die sie nicht kennt, unter Menschen, mit denen sich Christine nicht versteht? Aber mein Gott, was soll sie tun, die Mutter will’s und es macht ihr Freude, so darf sie sich wohl nicht wehren: überhaupt, wozu sich wehren? Man ist ja so müd, so müd! Langsam resigniert nimmt die Postassistentin aus dem obern Fach ihres Schreibtisches einen Foliobogen, faltet ihn sorgfältig in der Mitte, legt ein Linienblatt unter und schreibt sauber, klar, mit schönen Haar- und Schattenstrichen an die Postdirektion in Wien, den ihr gesetzlich zustehenden Urlaub sofort wegen einem Familienanlaß antreten zu dürfen und um Entsendung einer Stellvertreterin von nächster Woche an. Dann bittet sie noch die Schwester, ihr in Wien das Schweizer Visum zu besorgen, einen kleinen Koffer zu leihen und herüberzukommen, um mancherlei wegen der Mutter zu besprechen. Und in den nächsten Tagen bereitet sie alles langsam, sorgfältig und genau für die Reise vor, ohne Freude, ohne Erwartung, ohne Anteil, als gehörte dies nicht zu ihrem Leben, sondern zu dem einzigen, das sie führt: ihrem Dienst und ihrer Pflicht.


Die ganze Woche ist gerüstet worden. Die Abende vergehen angestrengt mit Nähen, Flicken, Putzen und Umbessern des alten Bestandes, außerdem hat die Schwester, statt für die gesandten Dollars etwas zu kaufen – besser sie aufsparen, meint die kleine ängstliche Bürgerin –, einiges ihrer eigenen Garderobe geliehen, einen gelbgrellen Reisemantel, eine grüne Bluse, eine von der Mutter bei der Hochzeitsreise in Venedig gekaufte Mosaikbrosche sowie einen kleinen Strohkoffer. Das werde schon genügen, meint sie, im Gebirge mache man keine Toilette, und was allenfalls Christine fehle, kaufe sie besser an Ort und Stelle. Endlich kommt der Abreisetag. Den flachen Strohkoffer trägt der Schullehrer des Nachbarortes, Franz Fuchsthaler, eigenhändig zur Station, er will sich diesen Freundschaftsdienst nicht nehmen lassen. Gleich auf die erste Nachricht ist der kleine schwächliche Mann mit seinen hinter Brillen ängstlich versteckten blauen Blicken zu den Hoflehners gekommen, um ihnen seine Hilfe anzubieten; sie sind die einzigen, mit denen er in dem abgelegenen Weinbauernort Freundschaft hält. Seine Frau liegt seit mehr als einem Jahr, von allen Ärzten aufgegeben, in der staatlichen Tuberkuloseanstalt Alland, die beiden Kinder teilen auswärtige Verwandte in Kost; so sitzt er fast allabendlich allein in seinen beiden ausgestorbenen Zimmern und tut lautlos und mit viel bastlerischer Liebe kleine unscheinbare Dinge. Er legt Pflanzen in Herbarien, kalligrafiert in Rondeschrift mit roter Tinte die lateinischen, mit schwarzer die deutschen Namen unter die flach getrockneten Blumenblätter, bindet eigenhändig seine geliebten ziegelroten Reclamhefte in buntgemusterte Pappe und ahmt auf den Buchrücken mit mikroskopischer Genauigkeit und einer ganz fein gespitzten Zeichenfeder täuschend genau Drucklettern nach. Ganz spät, wenn er alle Nachbarn schlafend weiß, spielt er, von selbstkopierten Notenblättern, ein wenig steif, aber reichlich bemüht Violine, meist Schubert und Mendelssohn, oder schreibt aus entliehenen Büchern die schönsten Verse und Gedanken auf weiße zartgekörnte Quartbogen, die er, immer wenn die Hundertzahl erreicht ist, zu einem neuen Albumheft mit Glanzpapier und einem bunten Schildchen heftet. Wie ein arabischer Koranschreiber hebt er die zarten Rundungen, das sachte und dann wieder mit starken Schlagschatten Ausschwingende der Schrift um der stummen Freude willen, die lautlos und doch lebendig von seiner innerlich gespannten Mühe ins Sichtbare übergeht: Bücher sind für diesen bescheidenen, stillen, vegetativen Menschen, der keinen Garten vor seiner Gemeindewohnung hat, die Blumen im Hause, und er liebt, sie im Regal anzureihen zu bunten Alleen; mit einer altväterischen Gärtnerfreude hütet er jedes einzelne, nimmt, wie man Zerbrechliches faßt, sie in seine schmalen, blutarmen Hände. Nie betritt er das Dorfwirtshaus. Er haßt Bier und Rauch mit der Angst der Frommen vor dem Bösen; hört er von außen hinter einem Fenster die klobigen Stimmen von Streitenden oder Berauschten, so geht er mit schnellen und erbitterten Schritten hastig vorbei. Die einzigen Menschen, mit denen er seit der Krankheit seiner Frau Umgang pflegt, sind die Hoflehners. Zu ihnen kommt er öfters nach dem Abendessen, um zu plaudern oder – sie haben es gerne – mit seiner eigentlich trockenen, aber in der Ergriffenheit musikalisch aufschwingenden Stimme aus Büchern vorzulesen, am liebsten aus den ›Feldblumen‹ des heimatlichen Adalbert Stifter. Seine schüchterne und etwas enge Seele fühlt sich dann immer unmerkbar geweitet, wenn er, aufschauend vom Buch, das horchende und gebeugte Blond des jungen Mädchens sieht; in der Art ihres innerlichen Zuhörens fühlt er sich verstanden. Die Mutter merkt, was in ihm wächst und daß er, sobald das unvermeidliche Schicksal seiner Frau sich erfüllt haben wird, mit einem neuen und kühneren Sinn seinen Blick auf die Tochter richten wird. Die aber, geduldig geworden, schweigt: sie hat längst verlernt, an sich selbst zu denken.


Der Lehrer trägt den Koffer auf der rechten, etwas niedrigeren Schulter, gleichgiltig gegen die lachenden Schuljungen. Die Last drückt nicht sehr, aber doch muß er den ganzen Weg den Atem scharf anspannen, um mit Christine Schritt zu halten, so ungeduldig und nervös hastet sie voraus; der Abschied hat sie unerwartet grausam erregt. Dreimal ist ihr die Mutter, trotz des ärztlichen ausdrücklichen Verbotes, die Treppen bis in den Hausflur nachgestolpert, als ob sie aus einer unerklärlichen Angst, sich an ihr festhalten wollte, dreimal hat sie, obwohl die Zeit drängt, die breite, strömend schluchzende alte Frau wieder die Treppen hinaufführen müssen. Und dann ist es geschehen, wie so oft in den letzten Wochen: mitten im Schluchzen und erregt ausfahrenden Wort verlor die alte Frau plötzlich den Atem und mußte keuchend hingebettet werden. In diesem Zustand hat Christine sie verlassen, und nun erschüttert sie die Besorgnis wie eine persönliche Schuld: »Mein Gott, wenn ihr etwas zustößt, so aufgeregt habe ich sie nie gesehen, und ich bin nicht da«, klagt sie. »Oder wenn sie etwas braucht in der Nacht, und die Schwester kommt doch nur über den Sonntag aus Wien. Das Mädel von der Bäckerei, sie hat’s mir zwar heilig versprochen, daß sie abends bei ihr bleibt, aber auf die ist kein Verlaß; wenn’s ans Tanzen geht, lauft die der eigenen Mutter weg. Nein, ich hätte es nicht tun, mich nicht bereden lassen sollen. Reisen, das taugt nur für solche, wo kein Kranker im Haus ist, nicht für unsereins, und gar so weit weg, wo man nicht jeden Augenblick heim kann; was hab’ ich denn von der ganzen Reiserei? Wie soll ich mich an was freuen können, wenn mir’s keine Ruh läßt, wenn ich jede Minute denken muß, ob ihr nichts abgeht, und niemand ist da in der Nacht, und die Klingel hinunter hören sie nicht, oder wollen sie nicht hören. Sie mögen uns ja nicht im Haus, die Wirtsleute; wenn’s nach denen ging, hätten sie uns längst ausgemietet. Und die Assistentin, die aus Linz, die hab ich zwar auch gebeten, sie soll mittags und soll abends auf einen Sprung herüberkommen, aber nur ›Ja‹ hat sie gesagt, diese kalte, verhutzelte Person, so ein Ja, wo man nicht weiß, ob sie’s wirklich tut oder nicht. Ob ich nicht doch lieber abtelegrafieren soll? Was liegt der Tante denn wirklich dran, ob ich komm’ oder nicht, das redet sich die Mutter doch nur ein, daß es denen um uns zu tun ist. Sonst hätten sie längst zwischendurch aus Amerika schreiben können oder damals in der Notzeit ein Paket mit Lebensmitteln herüberschicken, wie’s Tausende getan haben. – Wieviel hab ich selber expediert, und nie ist eins an die Mutter gekommen von der leibhaftigen Schwester. Nein, ich hätt’ nicht nachgeben sollen, und wenn’s nach mir ging, möcht ich jetzt noch absagen. Ich weiß nicht warum, aber ich hab’ so eine Angst. Ich sollt’ doch jetzt nicht fort, ich sollt’ nicht fort.«


Der kleine, blonde, schüchterne Mann an ihrer Seite nimmt mitten im hastigen Nachschreiten immer wieder seinen Atem zusammen, um sie zu beruhigen. Nein, nicht sorgen, er selbst werde jeden Tag, das verspreche er ihr, nach der Mutter sehen. Wenn jemand, so habe sie ein Recht, endlich einmal sich Urlaub zu gönnen, seit Jahren hätte sie keinen Tag ausgespannt. Er selbst wäre doch der Erste ihr abzuraten, wenn’s gegen ihre Pflicht ginge; aber nur keine Sorge, jeden Tag würde er ihr Nachricht geben, jeden Tag. Sehr hastig, kreuz und quer durcheinander keucht er, was ihm gerade einfällt, um sie zu beruhigen, und wirklich, sein dringliches Zureden tut ihr wohl. Sie hört gar nicht deutlich hin, was er sagt, sie fühlt nur, einer ist da, auf den sie sich verlassen kann.


Auf dem Bahnhof, der Zug ist schon signalisiert, räuspert der bescheidene Begleiter sich umständlich und verlegen. Die ganze Zeit merkt sie schon, er tritt vom rechten Fuß auf den linken, er will etwas sagen und hat nur keinen Mut. Endlich nützt er eine Pause und zieht schüchtern aus der Brusttasche etwas Weißes und Zusammengefaltetes. Sie möge entschuldigen, es sei natürlich kein Geschenk, nur eine kleine Aufmerksamkeit, vielleicht könnte sie ihr nützlich sein. Überrascht entfaltet sie das längliche Büttenpapier. Es ist eine Schmalkarte ihrer Reise von Linz bis nach Pontresina, wie eine Ziehharmonika zu entfalten; alle Flüsse, Berge und Städte längs der Bahnstrecke sind mit schwarzer Tusche mikroskopisch gezeichnet, die Berge entsprechen der Höhe, dünner oder dichter schraffiert, und verraten in winzigen Zahlen ihre Meterzahl, die Flußläufe sind mit blauem, die Städte mit rotem Farbstift eingemalt, die Distanzen in einer eigenen Tabelle rechts unten vermerkt, ganz genau wie auf den großen Schulkarten des geographischen Instituts, aber hier von einem kleinen Hilfslehrer und mit zärtlicher Mühe und spielfreudiger Geduld säuberlich nachgemalt. Unwillkürlich errötet Christine vor Überraschung. Ihre Freude macht dem Schüchternen Mut. Er zieht noch ein zweites Kärtchen hervor, dieses viereckig und mit einer goldenen Borte eingefaßt: die Karte des Engadins, abgezeichnet von der großen Schweizer Generalstabskarte, mit Weg und Steg auch die kleinste Einzelheit künstlich nachgepaust; nur in der Mitte ist ein Gebäude durch einen winzigen Kreis von roter Tinte besonders feierlich hervorgehoben, das sei ihr Hotel, erklärt er, wo sie wohnen werde, er habe es aus einem alten Baedeker bestimmt: so könne sie bei allen Ausflügen sich selber orientieren und ohne Sorge sein, den Weg zu verfehlen. Wirklich ergriffen dankt sie ihm. Seit Tagen muß ganz verschwiegen dieser rührende Mann sich gemüht haben, von der Bibliothek in Linz oder in Wien die Vorlagen heranzubekommen, die ganzen Nächte muß er in zärtlicher Geduld mit hundertmal gespitztem Stift und besonders gekaufter Zeichenfeder diese Karten gezeichnet und koloriert haben, einzig, um ihr aus seiner Armut doch eine rechte und nützliche Freude zu bereiten. Ihre noch gar nicht begonnene Reise, er hat sie Kilometer für Kilometer von innen her vorausgedacht und mitbegleitet, Tag und Nacht muß ihr Weg und Schicksal in seinen Gedanken gegenwärtig gewesen sein. Wie sie jetzt bewegt dem über seinen eigenen Mut noch Erschrockenen die Hand zum Dank reicht, sieht sie seine Augen hinter den Brillen gleichsam zum erstenmal. Es ist ein sanftes gutes Kinderblau, das nun, während sie ihn anblickt, an der Tiefe des eigenen Gefühls plötzlich dunkler und hintergründiger wird. Und mit einemmal empfindet sie eine ihr bisher selbst unbekannte Wärme in seiner Gegenwart, ein Gefühl von Zuneigung und Vertrauen, wie sie’s noch nie zu einem Manne empfunden. In diesem Augenblick wird eine bisher noch ganz undeutliche Empfindung in ihr plötzlich zum Entschluß; länger und herzlicher als jemals hält sie im Dank seine Hand. Auch er fühlt die veränderte Einstellung, bekommt heiße Schläfen, wird verlegen, atmet tief und ringt nach einem richtigen Wort. Aber da schnaubt schon wie ein böses schwarzes Tier die Lokomotive heran, schleudert zu beiden Seiten die Luft neben sich weg, daß beinahe das Blatt ihrer Hand entflattert. Eine Minute ist bloß Zeit. Christine steigt hastig ein und sieht vom Fenster aus bloß noch ein flatterndes weißes Tuch, das rasch in Rauch und Ferne zerfließt. Dann ist sie allein, seit vielen Jahren zum erstenmal allein.


In die hölzerne Ecke des Waggons gedrückt, fährt die Abgemüdete einen ganzen wolkenverdüsterten Abend entlang, trübe Landschaft hinter den verregneten Scheiben. Anfänglich huschen noch kleine Orte undeutlich im Dämmer vorbei, wie aufgeschreckte, flüchtende Tiere, dann rennt alles blind und leer in den Nebel hinein. Niemand teilt ihr Abteil dritter Klasse, so kann sie sich lang hinstrecken auf die Holzbank und nun erst die Tiefe ihrer Erschöpfung spüren. Sie versucht nachzudenken, aber die haspelnde Monotonie des Räderlaufs zerschüttert jeden Zusammenhang, und immer enger preßt sich über ihre schmerzende Stirn die narkotische Haube des Schlafes, jener dumpfe und doch betäubende Eisenbahnschlaf, in dem man fühllos verschnürt liegt wie in einem schwarzen, metallisch geschüttelten Kohlensack. Unter dem fühllos fortgetragenen Leib laufen die Räder lärmend schnell wie gejagte Knechte, über ihren rückgeneigten Kopf fließt Zeit, stumm, unfaßbar, ohne Maß. Und so völlig sinkt ihre Müdigkeit in diese treibende schwarze Flut hinunter, daß sie mitten aus dem Schlummer schreckt, als morgens plötzlich die Tür aufkracht und ein Mann, breitschultrig und schnurrbärtig streng vor ihr steht. Einen Augenblick braucht sie, um die betäubten Sinne zusammenzureißen und zu begreifen, dieser uniformierte Mann will nichts Böses, nicht sie verhaften und wegschaffen, sondern nur Einsicht nehmen in den Paß, den sie mit kältesteifen Fingern aus der Handtasche zieht. Prüfend vergleicht der Beamte das eingeklebte Bild eine Sekunde lang mit ihrem beunruhigten Antlitz. Sie zittert heftig, vom Krieg her zuckt noch in den Nerven die eingehämmerte, unsinnige und doch unzerstörbare Angst vor einem Verstoß gegen irgendeine der hunderttausend Verordnungen: immer war ja jeder schuldig gegen irgendein Gesetz. Aber freundlich und mit einem lässigen Griff an die Kappe gibt ihr der Gendarm den Paß zurück und schließt behutsamer, als er sie aufgerissen, die Tür. Eigentlich könnte Christine sich wieder hinlegen, aber der kalte Schreck hat ihr den Schlaf von den Lidern gestrichen. Aus Neugier tritt sie ans Fenster, um hinauszusehen. Und sofort fahren alle Sinne hoch. Denn hinter den eiskalten Scheiben, wo eben noch (Schlaf weiß um keine Zeit) der Horizont des Flachlandes als lehmige Welle grau in den Nebel geflossen, haben sich (warum und wie, sie begreift es nicht) in steinerner Wucht Berge aus dem Boden geballt, riesige, nie gesehene, übergewaltige Gebilde, und noch taumelnd vor Überraschung blickt ein erschrecktes Auge zum erstenmal die unvorstellbare Majestät der Alpen an. Gerade stößt ein erster Sonnenstrahl durch die Paßluke im Osten und zerklirrt in Millionen Reflexen am Eisfeld der obersten Gipfel, und so schneidend weiß ist diese Reinheit dieses ungefilterten Lichts, daß es die Augen blendet. Einen Augenblick muß sie die Lider schließen. Aber eben dieser Schmerz hat sie erst munter gemacht. Ein Ruck und es klirrt, dem Wunderbaren näher zu sein, die Fensterscheibe nieder, und sofort stürzt durch die überrascht geöffnete Lippe gleichzeitig neue, eiskühle, glasscharfe und mit herbem Schneeatem durchwürzte Luft bis in die Lunge hinab: nie hat sie so geatmet, so tief und rein. Unbewußt spannt die Beglückte beide Arme, um diesen ersten, unbedachten brennenden Schluck ganz tief in sich hineinzuführen, und spürt schon, breit die Brust gedehnt, von diesem eingetrunkenen Frost eine wohlige Wärme – herrlich, herrlich – blutaufwärts durch alle Adern steigen. Jetzt erst, durchbrannt von Frische, vermag sie richtig zu schauen, rechts, links, eines nach dem andern; immer begeisterter tastet der aufgetaute Blick jeden einzelnen der granitenen Hänge hinauf bis zur obersten, eisigen Borte, an jeder Stelle neue Herrlichkeit entdeckend, dort einen Wasserfall in weißer, sich selbst überschlagender Volte kopfüber zu Tale stürzend, dort, wie Vogelnester eingenistet in die Schrunden, zierliche, steinbelastete Häuser, dort einen Adler, stolz die höchste Höhe noch überkreisend, und über allem dieses göttlich reine, rauschende Blau, nie für möglich gehalten in solcher saftigen und beglückenden Kraft. Immer wieder starrt die zum erstenmal aus ihrer engen Welt Herausgeflüchtete dieses Unglaubhafte, diese über Nacht ihrem Schlaf entwachsenen Quadertürme an. Seit Tausenden Jahren müssen sie hier schon stehen, diese granitenen Riesenburgen Gottes; Millionen und Myriaden Jahre werden sie wahrscheinlich hier noch warten, unverrückbar jeder an der gleichen Stelle, und sie selbst hätte ohne den Zufall dieser Reise sterben können, verwesen und in Staub zerfallen, ohne eine Ahnung erlebt zu haben von ihrer herrlichen Gegenwart. An alldem hat man vorbeigelebt, es nie gesehen und kaum zu sehen gewünscht; sinnlos hat man dahingedöst im winzigsten Raum, kaum breiter als die gestreckte Hand, kaum weiter als die eigenen Füße Auslauf haben, und eine Nacht weit, einen Tag weit beginnt die vielfältigste Unendlichkeit! Mit einemmal, zum erstenmal, dringt eine Ahnung des Versäumten hinein in diesen bislang wunschlos gleichgiltigen Sinn, zum erstenmal erfährt an der Berührung des Übermächtigen ein Mensch die seelenumpflügende Kraft der Reise, die mit einem einzigen Riß uns die harte Rinde des Angewöhnten vom Leibe reißt und den nackten, fruchtbaren Kern zurückwirft in das strömende Element der Verwandlung.


Erregt, die heißdurchblutete Wange leidenschaftlich neugierig an den Fensterrahmen gepreßt, steht vor diesem ersten aufgesprengten Augenblick ein ganz von sich fortgetragener Mensch die ganze Zeit vor der Landschaft. Nicht ein Gedanke tastet mehr nach rückwärts. Vergessen ist die Mutter, das Amt, das Dorf, vergessen die zärtlich gezeichnete Karte in dem Handtäschchen, die ihr jeden Gipfel und jeden der mit eilendem Schuß zu Tale stürzenden Bergbäche nennen könnte, vergessen das eigene gestrige Ich. Nur einfüllen jetzt bis zum letzten Tropfen, nur einfiltern das immer Andere dieser Großartigkeit, nur einsaugen jedes einzelne der panoramisch wandernden Bilder und zugleich mit aufgetanen Lippen immer wieder diese gefrorene Luft trinken, scharf und würzig wie Wacholder, diese Bergluft, die den Herzschlag härter und entschiedener färbt! Nicht einen Augenblick der vier Stunden Fahrt verläßt Christine den Fensterplatz, und dermaßen benommen starrt sie hinaus, daß sie die Zeit vergißt und mit grobem Herzstoß aufschreckt, wie die Maschine stoppt und fremdmundartlich, aber doch unverkennbar der Schaffner den Ort ihres Reiseziels ausruft.


»Jesus Maria« – mit einem Ruck reißt sie die schwelgenden Sinne zurück. Sie ist schon angekommen und hat nichts bedacht, nicht, wie sie die Tante begrüßen werde, nicht, was sie zu sagen habe. Hastig tastet sie nach Koffer und Schirm – nur nichts vergessen! – und eilt den andern Aussteigenden nach. Eben stiebt die militärisch disziplinierte Doppelreihe der farbig bekappten Lohndiener jagdgierig auseinander, sich der Ankömmlinge zu bemächtigen, der Bahnhof schwirrt von Hotelrufen und lauten Begrüßungen. Nur auf sie kommt niemand zu. Immer unruhiger, den Herzschlag hoch in der Kehle, sieht und sucht sie ängstlich nach allen Seiten. Aber niemand. Nichts. Alle werden erwartet, alle wissen ihren Weg, nur sie nicht, sie allein. Schon drängen die Reisenden um die Hotelautomobile, die in blanker, farbiger Reihe warten wie eine schußbereite Batterie, schon entvölkert sich der Bahnsteig. Und noch immer niemand: man hat sie vergessen. Die Tante ist nicht gekommen; vielleicht abgereist oder krank, und man hat ihr abgesagt und das Telegramm ist zu spät gekommen. Mein Gott, wenn wenigstens das Geld zur Rückfahrt reicht! Zuvor aber wagt sie mit letzter Kraft sich zu einem Portier heran, dessen Kappe mit »Palace Hotel« golden belettert ist, und fragt mit dünner Stimme, ob eine Familie van Boolen bei ihnen wohne. »Freilich, freilich«, antwortet guttural der breite, rotstirnige Schweizer, ei, und natürlich habe er Auftrag, ein Fräulein an der Bahn abzuholen. Sie möge nur einsteige ins Auto und ihm gebe den Aufgabeschein für das große Gepäck aus der Consigne. Christine errötet. Jetzt erst bemerkt sie, bös getroffen, wie verräterisch arm das bettelhafte Strohköfferchen ihr in der Hand pendelt, indes bei allen andern Wagen, wie frisch aus der Auslage geholt, funkelnagelneue und metallblanke Panzertürme von Schrankkoffern sich zwischen den farbigen Würfeln und Kuben von kostbarem Juchten, Krokodil, Schlangenhaut und glattem Glacé prunkhaft stauen. Sofort fühlt sie eine Distanz zwischen jenen und sich unverkennbar enthüllt. Scham packt sie an. Rasch etwas lügen! Das andere Gepäck käme erst später nach. Nun, dann könne man gleich losfahren, erklärt – gottlob ohne jede Verwunderung oder Verächtlichkeit – die majestätische Livree und öffnet den Wagenschlag.


Ist die Scham eines Menschen an einem Punkte getroffen, so wird unmerklich auch der entfernteste Nerv seines Wesens miterschüttert; die flüchtigste Berührung, der zufälligste Gedanke erneuert und vervielfacht dem einmal Beschämten die erlittene Qual. Von diesem ersten Stoß an hat Christine ihre Unbefangenheit verloren. Mit unsicherm Fuß tritt sie schon ein in das mattdunkle Coupé der Hotelkarosse und zuckt unwillkürlich zurück, kaum sie merkt, hier sei sie nicht allein. Aber jetzt kann sie nicht mehr zurück. Sie muß durch dieses dämmerig Duftende von süßem Parfüm und herbem Juchten, an fremden, unwillig zurückgezogenen Knien vorbei, um ganz feig, die Schulter wie frierend emporgezogen, die Lider gesenkt, an einen rückwärtigen Platz zu gelangen. Aus Verlegenheit murmelt sie dabei bei jedem passierten Knie hastig einen Gruß, als wollte sie durch diese Höflichkeit ihre Gegenwart entschuldigen. Aber niemand antwortet. Entweder muß die Musterung der sechzehn Blicke ungünstig ausgefallen sein oder die Insassen, rumänische Aristokraten, die ein krasses und heftiges Französisch parlieren, haben in ihrer lauten Amüsiertheit den dünnen Schatten Armut gar nicht bemerkt, der sich scheu und still in der äußersten Ecke eingenistet hat. Den Strohkoffer quer an die Knie gedrückt – sie hat keinen Mut, ihn auf einen freien Platz zu stellen – sitzt sie, aus Angst, von diesen wahrscheinlich spöttischen Menschen betrachtet zu werden, tief vorgebeugt, nicht ein einziges Mal während der ganzen Fahrt wagt sie den Blick frei aufzuheben; nur zur Erde starrt sie, nur auf die Dinge abwärts der Sitzbank. Aber schon das luxuriöse Schuhwerk der Frauen läßt sie das eigene plumpe besinnen. Mit schmerzhaftem Vergleich sieht sie die hochmütig straffen Frauenbeine, die unter aufgeschlagenen Sommerhermelinmänteln frech sich überkreuzen, und verwegen gemusterte Sportstrümpfe der Herren; schon diese Unterwelt des Reichtums jagt ihr Schauer der Scham in die Wangen: wie neben dieser nie geahnten Eleganz bestehen. Jeder scheue Blick gibt eine erneute Qual. Quer gegenüber von ihr hält ein siebzehnjähriges Mädchen ein feinhaariges chinesisches Seidenhündchen auf dem Schoß, das faul und jaulend sich räkelt: seine Schabracke ist mit Pelz bordiert, mit einem Monogramm bestickt, und die winzige Kinderhand, die in seinem Fell krabbelt, rosa manikürt und funkelt bereits von einem Diamanten. Sogar die Golfstöcke, die in der Ecke lehnen, haben noble Mäntel von neuem glatten cremefarbenen Leder, jeder der lässig dareingeworfenen Schirme zeigt einen andersartig erlesenen und extravaganten Griff – mit unbewußter Geste deckt rasch ihre Hand den eigenen aus blindem, billigen Horn. Wenn nur niemand sie ansehen wollte, keiner bemerken, was sie jetzt selbst zum erstenmal weiß! Immer tiefer duckt sich die Verschreckte in sich hinein, und jedesmal, wenn neben ihr ein Lachen aufflattert, rinnt ihr Angst über den gebeugten Rücken. Aber sie wagt nicht aufzublicken und nachzuforschen, ob wahrhaftig dieses Lachen ihr gelte.


Erlösung darum, wie nach gepeinigten Minuten das Automobil in den fein gekiesten Vorhof des Hotels knirscht. Ein Signal, grell wie eine Bahnglocke, schwemmt einen ganzen Trupp von bunten Lohndienern und Pagen an den Wagen. Hinter ihnen erscheint, umständlicher, weil zu Distinktion verpflichtet, im schwarzen Gehrock und mit geometrisch geradem Scheitel, der Chef de réception. Durch die geöffnete Wagentür springt zuerst, klirrend und sich schüttelnd, der chinesische Pinsch heraus; locker, ohne ihr lautes Plappern zu unterbrechen, folgen die Damen, den Sommerpelz beim Aussteigen hochgerafft, über die sportgemuskelten Beine; hinter ihnen schlägt noch eine Welle Parfüm zurück, betäubend fast. Nun sollte gesellschaftlicher Anstand den Herren wohl gebieten, das schüchtern aufstehende Mädchen voranzulassen, aber entweder haben sie ihre Herkunft richtig eingeschätzt oder sie bemerken sie nicht; jedenfalls sie schreiten, ohne sich umzublicken, an ihr vorbei und auf den Hotelsekretär zu. Ungewiß bleibt Christine zurück, das mit einmal verhaßte Strohköfferchen in der Hand. Es ist besser, denkt sie, die andern noch ein paar Schritte vorauszulassen, das lenkt die Aufmerksamkeit ab. Aber sie zögert zu lange. Denn wie sie jetzt, ohne daß jemand von der Hoteldienerschaft ihr zuspringt, das Trittbrett des Autos hinabtastet, hat der Herr im Gehrock sich schon devot mit den Rumänen entfernt, die Pagen tragen geschäftig das Handgepäck hinter ihnen her, und die Lohndiener jonglieren bereits auf dem Autodach donnernd mit den schweren Koffern. Niemand hat ihrer Acht. Offenbar, so denkt sie von Erniedrigung übergossen – offenbar, ja gewiß hält man sie für das Dienstmädchen, bestenfalls für die Kammerzofe jener Herrschaften, denn mit völliger Gleichgültigkeit manövrieren die Diener Gepäck an ihr vorbei und lassen sie stehen wie ihresgleichen. Schließlich erträgt sie es nicht mehr, sie kämpft sich mit letzter Kraft in die Hoteltür hinein bis zum Portier.


Aber einen Portier in der Hochsaison, wer wagt ihn anzureden, diesen Kapitän des riesigen Luxusschiffs, der vor seinem Pult mächtig steht und unerschütterlich durch einen Sturm von Fragen den Kurs seines Willens hält. Ein Dutzend Gäste warten breiten Rückens vor ihm, dem Gewaltigen, der, mit der rechten Hand Notizen schreibend, mit jedem Blick und Wink Pagen abschießt wie Pfeile, rechts und links gleichzeitig Auskunft gibt, den Hörer am Ohr, eine universalische Menschenmaschine mit ständig gestrafften Nervensträngen – vor seiner Majestät müssen selbst Wohlberechtigte warten, wie erst ein unerfahrener, schüchterner Neuling? Derart unansprechbar scheint Christine dieser Herr des Tumults, daß sie scheu zurücktritt in die Nische, um respektvoll zu warten, bis der Wirbel sich löst und zerstreut hat. Aber allmählich wird der lästige Strohkoffer in der Hand immer schwerer. Vergebens blickt sie sich um nach einer Bank, um ihn niederzustellen. Doch wie sie sich suchend umblickt, meint sie zu merken – Einbildung wahrscheinlich oder überreiztes Gefühl –, daß von den Klubsesseln der Halle bereits ein paar Leute ironisch auf sie blicken und wispern und lachen; einen Augenblick noch und sie muß die wirklich widerliche Last fallen lassen, so schwach werden ihr plötzlich die Finger. Aber gerade in diesem kritischen Augenblick tritt heftigen Schrittes eine künstlich blonde, künstlich junge, sehr elegante Dame auf sie zu, visiert sie scharf vom Profil her, ehe sie ein »Bist du es, Christine?« wagt. Und wie Christine spontan ein »Ja« mehr atmet als spricht, umfängt sie die Tante mit dünnem Wangenkuß und lauem Pudergeruch. Sie aber, aus ihrer entsetzlichen Verwaistheit endlich etwas Warmes, Verwandtes wohlwollend spürend, wirft sich in die nur leicht gemeinte Umarmung derart stürmisch hinein, daß die Tante, dieses Haltsuchen als verwandtschaftliche Zärtlichkeit deutend, ganz gerührt wird. Weich fährt sie ihr über die zuckenden Schultern. »Oh, ich freu mich ja auch riesig, daß du gekommen bist, Anthony und ich, beide freuen wir uns sehr.« Und dann, sie an der Hand nehmend: »Komm, du wirst dich gewiß etwas zurechtmachen wollen, eure Bahnen in Österreich sollen ja gräßlich unkomfortabel sein. Tu dich nur ruhig zusammen – bloß mach nicht zu lang. Es hat schon zum Lunch gegongt, und Anthony wartet nicht gern, das ist seine Schwäche. We have all prepared – ach so: alles haben wir vorbereitet, der Portier wird dir gleich das Zimmer zeigen. Und, nicht wahr, du machst flink: keine große Toilette, mittags dreßt hier jeder wie er will.«


Die Tante winkt, flugs übernimmt ein livrierter Knirps Koffer und Schirm und läuft um den Schlüssel. Lautlos saust der Lift zwei Stockwerke hinauf. In der Mitte des Ganges schließt der Boy eine Tür auf und tritt mit gezückter Kappe zur Seite. Hier also muß ihr Zimmer sein. Christine tritt ein. Aber schon an der Schwelle zuckt sie zurück, als wäre sie fehl am Ort. Denn mit bestem Willen kann die Postassistentin aus Klein-Reifling, gewöhnt, nur Ärmlichkeit als Umwelt zu haben, sich nicht dermaßen rasch umschalten, daß sie wirklich zu glauben wagte, dies Zimmer sei ihr zubestimmt, dieses verschwenderisch weite, köstlich helle und tapetenbunte Zimmer, in das von der zweiflügelig aufgetanen Balkontür wie durch kristallene Schleuse ein Wasserfall von Licht hereinschmettert. Unbändig überschwemmt der goldene Schwall die ganze Tiefe des Raums, jeder Gegenstand ist getränkt von dieser Überfülle des lodernden Elements. Die polierten Flanken der Möbel funkeln wie Kristall, auf Messing und Glas spielen freundliche Funken in flirrenden Reflexen, selbst der Teppich mit seinen eingestickten Blumen atmet saftig und echt wie lebendiges Moos. Wie ein paradiesischer Morgen leuchtet dieses Zimmer, und geblendet von dem Überfall des überall auflodernden Lichts muß die Erschreckte erst wieder auf die Wiederkehr des jäh aussetzenden Herzschlags warten, ehe sie rasch und ein wenig schlechten Gewissens, die Tür hinter sich zuzieht. Erstes Erstaunen: daß es so etwas überhaupt gibt, so viel helle Herrlichkeit! Und zweiter Gedanke, seit vielen Jahren unlösbar an alles Begehrenswerte gekettet: was das kosten muß, wieviel Geld, wie schrecklich viel Geld! Gewiß mehr für einen einzigen Tag, als sie daheim in der Woche – nein, im Monat verdient! Beschämt – denn wer dürfte es wagen, sich hier zu Hause zu fühlen – blickt sie sich um, setzt behutsam einen Fuß vor den andern auf den teuren Teppich. Dann erst, sehr ehrfürchtig und doch voll brennender Neugier, beginnt sie, sich den einzelnen Kostbarkeiten zu nähern. Vorsichtig tastet sie zuerst das Bett an: wird man da wirklich schlafen dürfen, auf so blütendem, kühlen Weiß? Und die Daunendecke, wie ein zarter Flaum liegt sie, die seidengeblümte, leicht und weich auf der Hand; ein Fingerdruck und die Lampe flammt auf, und überhaupt die Ecke im warmen Rosaton. Entdeckung über Entdeckung, der Waschtisch, weiß und muschelblank mit nickelnem Gerät, die Fauteuils, weich und tief, man braucht Kraft, sich aus ihrer elastischen Nachgiebigkeit wieder zu erheben, das polierte Edelholz der Möbel, melodisch sich einend mit dem frühlingshaften Grün der Tapete, und hier auf dem Tisch, ihr zum Gruß hingestellt, vierfarbig brennender Nelkenstrauß im hochstengeligen Glas, ein brausender Willkommtusch von Farbenstimmen aus kristallener Trompete! Wie unglaubhaft wunderbar diese Pracht! Mit der ungestümen Vorlust, all das sehen, benützen, besitzen zu dürfen, einen Tag, acht Tage, vierzehn Tage, schleicht sie zaghaft verliebt an die unbekannten Geräte heran, tastet sie neugierig jede Einzelheit an, eins nach dem andern und verliert sich von Entzückung in Entzückung, bis sie plötzlich, als sei sie auf eine Schlange getreten, grass zurückstolpert und beinahe fällt. Denn völlig ahnungslos hatte sie den mächtigen Wandschrank aufgetan – da fährt von der angelehnten Innentür wie ein rotzüngiger Teufel von der Spielschachtel ein lebensgroßes Bild aus einem hier unerwarteten Wandspiegel, und in dem Glas – sie erschrickt – sie selbst, grausam wirklich, das einzig Ungehörige in diesem ganz auf vornehm abgestimmten Raum. Bis in die Knie fühlt sie den Hieb, da sie so unvermutet ihren gelbgrellen, plustrigen Reisemantel und den verbogenen Strohhut über einem verstörten Gesicht erblickt. »Einschleicherin, weg da! Schmutz nicht das Haus an! Geh hin, wohin du gehörst«, scheint sie der Spiegel anzuherrschen. Wirklich, wie kann ich, denkt sie bestürzt, mich anmaßen, in solchem Zimmer, in dieser Welt wohnen zu wollen! Welche Schande für die Tante! Ich soll nicht große Toilette machen, hat sie gesagt! Als ob ich eine hätte! Nein, ich gehe nicht hinunter, ich bleibe lieber hier. Ich fahre lieber zurück. Aber wie sich verstecken, wie jetzt noch, ehe man mich sieht und Ärgernis nimmt, rechtzeitig verschwinden? Unwillkürlich ist sie auf der Flucht vor dem Spiegel so weit als möglich zurück und bis auf den Balkon getreten. Krampfig die Hand an das Geländer gepreßt, starrt sie in die Tiefe hinab. Ein Ruck und man wäre erlöst.


Da donnert von unten kriegerisch noch einmal der Gong. Um Himmels willen! Sie besinnt sich – in der Halle warten ja der Onkel und die Tante, und sie tändelt hier herum. Noch nicht gewaschen hat sie sich, nicht einmal den widerlichen Ausverkaufsmantel abgestreift. Fiebrig schnürt sie den Strohkoffer auf, ihr Toilettezeug herauszuholen. Aber wie sie das Gummibündel aufrollt und alles hinlegt auf die glatte Kristallplatte, die grobe Seife, die kleine kratzige Holzbürste, das sichtbar spottbillige Waschzeug, ist ihr, als breitete sie ihre ganze Kleinbürgerlichkeit abermals höhnisch überlegener Neugier hin. Was wird das Dienstmädchen beim Aufräumen denken, gewiß spottet sie gleich unten dann beim Gesinde über den bettelhaften Gast; eine erzählt’s der andern, alle wissen es gleich im Haus, und man muß an ihnen vorbeigehen, täglich vorbeigehen, mit rasch niedergeschlagenem Blick und das Tuscheln im Rücken spüren. Nein, da kann die Tante nicht helfen, das läßt sich nicht verstecken, das sickert durch. Überall, bei jedem Schritt wird eine andere Naht aufreißen, blank und bloß wird jeder durch Kleid und Schuh ihre nackte Schäbigkeit sehen. Aber nur weiter jetzt, die Tante wartet, und der Onkel, hat sie gesagt, wird leicht ungeduldig. Was anziehen? Gott, was tun? Zuerst will sie die Bluse nehmen, die von der Schwester geliehene, aus grüner Kunstseide, aber gräßlich frech und ordinär scheint ihr jetzt, was gestern in Klein-Reifling noch das Prunkstück ihrer Garderobe gewesen. Lieber noch die einfach weiße, weil sie unauffälliger ist, und dann noch die Blumen aus der Vase: vielleicht, daß sie vor die Bluse gehalten, die Blicke ablenken mit ihrem heißen Geleucht. Dann, die Augen niederschlagend, hastig an allen Gästen im Stiegenhaus vorbei, nur um die Angst, betrachtet zu werden, rasch zu überrennen, flattert sie die Treppen hinab, blaß, atemlos, einen taumeligen Schmerz zwischen den Schläfen und mit dem schwindeligen Gefühl, wachen Leibes in eine tödliche Tiefe zu stürzen.


Von der Halle aus sieht sie die Tante kommen. Sonderbar, was das Mädel hat. Wie tolprig sie die Treppe hinunterschießt, wie schief und verlegen an den Leuten vorbei! Ein nervöses Ding wahrscheinlich; man hätte sich doch früher erkundigen sollen! Und mein Gott, wie tölpelig sie jetzt am Eingang stehen bleibt, wahrscheinlich ist sie kurzsichtig oder sonst etwas klappt nicht. »Na, was hast du denn, Kind? Ganz blaß bist du ja. Ist dir nicht wohl?«


»Nein, nein«, stammelt die noch immer Verstörte – es sind noch so gräßlich viel Leute in der Halle, und dort die alte Dame in Schwarz mit dem Lorgnon, wie sie herschaut! Wahrscheinlich auf ihre lächerlichen groben Schuhe.


»So komm doch, Kind«, mahnt die Tante und schiebt ihr den Arm unter und ahnt nicht im mindesten, welchen Dienst, welchen ungeheuren sie damit der Verschüchterten erweist. Denn damit ist Christine endlich ein Stück Schatten gegeben, in den sie sich drängen kann, eine Folie und halbes Versteck: die Tante deckt sie wenigstens nach einer Seite hin mit ihrem Körper, ihrer Toilette, ihrem Ansehen. Dank ihrer Begleitung gelingt es der Nervösen in ziemlich anständiger Haltung den Speisesaal zu durchqueren und bis zum Tisch zu kommen, wo phlegmatisch und schwer Onkel Anthony wartet; jetzt steht er auf, ein gutmütiges Lachen umspannt seine breiten Hängebacken, und mit seinen rotränderigen, aber holländisch hellen Augen blickt er der neuen Nichte freundlich entgegen und reicht ihr die schwere, abgearbeitete Tatze. Seine Froheit stammt hauptsächlich davon, daß er nicht länger vor dem gedeckten Tisch warten muß, als Holländer ißt er gern, viel und behaglich. Störungen sind ihm verhaßt, und insgeheim hat er seit gestern schon Angst vor einem untunlichen, mondänen Flatterhuhn, das ihm die Mahlzeit mit Plappern und Vielfragerei verstören würde. Wie er jetzt die neue Nichte sieht, verlegen, reizend, blaß und bescheiden, wird ihm wohl. Mit der, sieht er sofort, ist’s leicht sich vertragen. Freundlich blickt er sie an und ermutigt jovial: »Essen mußt du vor allem, dann werden wir sprechen.« Es macht ihm Freude, dieses schmale scheue Ding, das nicht aufzublicken wagt und ganz anders ist als die Flappers drüben, die er knurrig haßt, weil hinter ihnen immer gleich ein Grammophon losrasselt und weil sie so schlenkernd frech wie nie eine Frau aus seinem alten Holland durch die Zimmer gehn. Eigenhändig, obwohl er beim Vorbeugen etwas ächzen muß, schenkt er ihr Wein ein und winkt dem Kellner, mit dem Servieren zu beginnen.


Aber wenn der Kellner nur nicht so sonderbare Extravaganzen mit seiner hartgeplätteten Manschette und seinem ebenso steifkalten Gesicht auf den Teller legte, all diese niegesehenen Hors-d’eisgekühlte Oliven, bunte Salate, silberne Fische, Artischockenberge, unergründliche Crèmes, zarten Gänseleberschaum und die rosafarbenen Lachsschnitten – alles Köstlichkeiten gewiß, zartmundend und leicht. Mit welchem aber aus dem vorgelegten Dutzend der Bestecke diese fremden Dinge anfassen? Mit dem kleinen oder dem runden Löffel, mit dem zierlichen oder dem breiteren Messer? Wie sie zerteilen, ohne vor diesem bezahlten Beobachter, vor den geübten Nachbarn unentrinnbar zu verraten, daß man zum erstenmal im Leben in einem derartig vornehmen Restaurant speist? Wie keine grobe Ungeschicklichkeit begehen? Umständlich, um Zeit zu gewinnen, entfaltet Christine die Serviette und schielt dabei unter schräg gesenkten Lidern auf die Hände der Tante, um ihr jede Bewegung nachzutun. Gleichzeitig aber muß sie den freundlichen Fragen des Onkels Antwort stehen, dessen eingedicktes Holländischdeutsch wache Ohren will, um so mehr, als er immer breite Brocken Englisch mit einstreut; alle Tapferkeit muß sie einsetzen in diesem Kampf gegen zwei Fronten, und dabei meint ihr Minderwertigkeitsgefühl, beständig im Rücken ein Tuscheln zu hören und imaginär höhnische oder mitleidige Blicke der Nachbarschaft. Die Angst, ihre Armut, ihre Unerfahrenheit zu verraten vor dem Onkel, vor der Tante, vor dem Kellner, vor irgendeinem der Anwesenden im Saal, die Anstrengung, bei zitterndster Anspannung gleichzeitig sorglos, ja sogar heiter zu plaudern, macht ihr die halbe Stunde zur Ewigkeit. Bis zum Obst kämpft sie sich wacker durch; dann bemerkt endlich, ohne sie zu verstehen, die Tante ihre Konfusion: »Kind, du bist müde, ich sehe dir’s an. Kein Wunder übrigens, wenn man die ganze Nacht durchreist in einem dieser miserablen europäischen Waggons. Nein, schäm dich nicht, leg dich nur ruhig in deinem Zimmer eine Stunde schlafen, dann ziehen wir los. Nein, wir versäumen nichts, auch Anthony ruht immer nach Tisch.« Sie steht auf und schiebt ihr den Arm unter. »Komm nur jetzt hinauf und leg dich hin. Dann bist du frisch und wir können einen festen Spaziergang machen.« Christine atmet tief und dankbar. Eine Stunde sich verstecken zu dürfen hinter geschlossener Tür, ist eine gewonnene Stunde.


»Nun, wie gefällt sie dir?« fragt, kaum auf dem Zimmer gelandet, die Gattin ihren Anthony, der sich bereits Rock und Weste für die Siesta aufknöpft.


»Sehr nett«, gähnt der Umfängliche, »ein nettes Wiener Gesicht … Ach, gib mir das Kopfkissen herüber … Wirklich sehr nett und bescheiden. Nur – I think so at least – ein wenig dürftig finde ich sie angezogen … so … ich weiß nicht, wie das sagen … wir haben so etwas gar nicht mehr bei uns … und ich meine, wenn du sie hier vor den Kinsleys und den andern als unsere Nichte einführst, müßte sie doch präsentabler dressen … Könntest du ihr nicht aushelfen aus deiner Garderobe?«


»Da – ich hab schon den Schlüssel in der Hand.«


Frau van Boolen lächelt. »Ich bin selbst erschrocken, wie ich sie in dem Aufzug in das Hotel hereinstapfen sah … es war reichlich kompromittabel. Und dabei hast du nicht den Mantel gesehen, gelb wie ein ausgeronnenes Ei, wirklich ein Prachtstück, den könnte man in einem Laden mit indianischen Curios ausstellen … Die Arme, wenn sie ahnte, wie botokudisch sie ausstaffiert ist, aber mein Gott, woher soll sie es wissen … sie sind alle dort in Österreich ja ganz down durch diesen verdammten Krieg, du hast doch gehört, was sie selbst erzählt hat, noch nie ist sie drei Meilen weit über Wien hinaus, noch nie unter Leute gekommen … Poor thing, man merkt ihr’s an, daß sie sich hier fremd fühlt, ganz verschreckt geht sie herum … Aber laß nur, verlaß dich auf mich, ich zäum’ sie schon anständig auf, ich hab’ genug mit, und was fehlt, kaufe ich noch in dem englischen Store; es wird niemand was merken, und warum soll sie es nicht einmal extra gut haben die paar Tage, das arme Ding.«


Und während schon der ausgemüdete Gatte auf der Ottomane schläfert, hält sie Musterung in den beiden großen Hängekoffern, die wie Karyatiden fast wandhoch im Vorraum des Appartements stehen. Frau van Boolen hat die vierzehn Tage Paris nicht ausschließlich in Museen verbracht, sondern auch reichlich bei den Couturiers: es raschelt im Gehänge von Crêpe de Chine, Seide und Batist, ein Dutzend Blusen und Kostüme holt sie hintereinander vor und tut sie wieder zurück, sie prüft, erwägt, überzählt, es wird ein umständlicher, aber eigentlich erheiternder Fingerspaziergang durch schillernde und schwarze, über zarte und schwerfließende Roben und Stoffe, ehe sie sich entschließt, was sie der kleinen Nichte überlassen soll. Endlich bauscht sich auf dem Sessel ein schillernder Schaum von dünnen Kleidern und allerhand Kleinkram von Strümpfen und Wäsche; mit einer Hand läßt sich die ganze leichte Last aufheben und hinüber in Christines Zimmer tragen. Aber wie die Tante mit ihrer Überraschung anrückt und die Türe leise aufklinkt, meint sie im ersten Augenblick, das Zimmer sei leer. Das Fenster steht weit offen in die Landschaft hinein, die Sessel leer, der Schreibtisch leer; schon will sie die Kleider auf einen Sessel hinlegen, da entdeckt sie Christine auf dem Sofa schlafend. Der ungewohnte Wein, aus Verlegenheit hastig ausgetrunken und aus gutmütigem Spaß immer wieder gleich vom Onkel erneut, hatte ihr den Kopf merkwürdig schwer gemacht. Nur hinsetzen hatte sie sich wollen auf das Sofa und nachdenken, sich alles ausdenken, aber dann, ohne daß sie es merkte, hatte die Schläfrigkeit ihr den Kopf sanft auf die Kissen niedergebogen.


Immer macht die Hilflosigkeit des Nichtsvonsichwissens einen Schlafenden für andere entweder ergreifend oder leise lächerlich. Wie die Tante sich auf den Fußspitzen Christine nähert, ist sie ergriffen. Im Schlaf hat die Verängstigte beide Arme über die Brust gezogen, als ob sie sich schützen wollte; rührend wirkt diese einfache Gebärde und ebenso kindlich der halbaufgetane, fast erschrockene Mund; auch die Augenbrauen sind von einer inneren Traumspannung etwas hochgezogen; bis in den Schlaf hinein, denkt die Tante in plötzlicher Hellsicht, bis in den Schlaf hinein fürchtet sie sich. Und wie blaß die Lippen sind, wie farblos das Zahnfleisch, wie stubenfahl die Haut in diesem doch noch jungen und schlafkindlichen Gesicht. Wahrscheinlich schlecht genährt, verhetzt von frühem Verdienenmüssen, abgemüdet, zermürbt und dabei noch keine achtundzwanzig Jahre. Poor chap! Etwas wie Scham wird plötzlich in der gutmütigen Frau wach, wie sie auf die ahnungslos im Schlummer sich Verratende sieht. Eine Schande wirklich von uns: so müd, so arm, so abgesorgt, längst hätte man ihnen helfen sollen. Da steckt man drüben in hundert Wohltätigkeitssachen, macht charity teas und Weihnachtsspenden, man weiß nicht für wen, und die eigene Schwester, das nächste Blut, an sie hat man vergessen in all den Jahren und hätte doch Wunder mit paar hundert Dollars getan. Freilich, sie hätten doch schreiben können, einen erinnern – immer dieser dumme Armenstolz, dies Nichtbittenwollen! Ein Glück, daß man wenigstens jetzt noch beispringen kann und diesem blassen stillen Mädel ein bißchen Freude machen. Immer mit neuer Rührung, sie weiß nicht warum, muß sie auf dieses ihr sonderbar verträumte Profil sehen – ist es das eigene Bild, aus dem Spiegel der Kindheit tauchend, und plötzliches Besinnen an ein frühes Foto der Mutter, die über ihrem eigenen Kinderbett in schmalem Goldrahmen gehangen? Oder ein Rückerwachen der eigenen Verlassenheit drüben im Boardinghouse – jedenfalls, es kommt ganz unvermutet eine Zärtlichkeit über die alternde Frau. Und zärtlich leise streichelt sie der Schlafenden über das blond atmende Haar.


Sofort schreckt Christine auf. Vom Pflegedienst an der Mutter ist sie gewöhnt, bei der kleinsten Berührung parat zu sein. »Ist es schon so spät?« stammelt sie schuldbewußt. Die ewige Angst aller Angestellten, zu spät zu kommen, geht bei ihr seit Jahren mit in den Schlaf und springt mit dem ersten Weckerriß auf. Immer fragt dieser erste Blick die Uhr: »Bin ich nicht zu spät?« Immer ist das erste Taggefühl Angst, eine Pflicht versäumt zu haben.


»Aber Kind, was schrickst du gleich so zusammen?« beruhigt die Tante. »Hier hat man Zeit in Doppelportionen, man weiß gar nicht, wie man mit ihr fertig wird. Bleib nur ruhig, wenn du noch müde bist – ich will dich, weiß Gott, nicht stören, ich hab dir nur paar Kleider zum Anschauen gebracht, vielleicht macht es dir Spaß, das eine oder das andere hier oben zu tragen. Ich habe so viel mitgeschleppt von Paris, mir stopft es nur den Kasten voll, und da dachte ich, du trägst besser eins oder das andere für mich.«


Christine spürt, das Rot brennt ihr bis in die Bluse hinein. Sie haben es also doch gemerkt, sofort, auf den ersten Blick, daß sie ihnen Schande macht mit ihrer Dürftigkeit – gewiß schämen sich beide schon, der Onkel und die Tante, um ihretwillen. Aber doch, wie zart die Tante helfen will, wie sie das Almosen verschleiert, wie sie sich bemüht, ihr nicht wehzutun.


»Wie kann ich denn deine Roben tragen, Tante?« stottert sie. »Die sind doch gewiß viel zu kostbar für mich.«


»Unsinn, sie passen dir sicher besser als mir. Anthony brummt ohnehin schon, daß ich mich zu jugendlich anziehe. Er möchte mich am liebsten sehen wie seine Großtanten in Zaandam, schwere schwarze Seide bis zur Halskrause hinauf, protestantisch zugeknöpft und oben ein weißes gesteiftes Hausmutterhäubchen. Bei dir wird er den Kram da tausendmal lieber sehen. Also komm jetzt und sag, welches du für heute abend am liebsten willst.«


Und mit einem Griff – plötzlich sitzt die leichte Vorzeigegeste der längst in ihr verschollenen Probiermamsell locker wieder im Handgelenk – nimmt sie eines der hemdleichten Kleider und faltet es geschickt über das eigene. Elfenbeinfarben, mit japanischer Blumenbordüre leuchtet es frühlingshaft neben dem nächstgezeigten aus nachtschwarzer Seide mit roten flackernden Stichflammen. Das dritte ist teichgrün, an den Enden silbern durchädert, und alle drei erscheinen Christine so zauberhaft, daß sie an Wunsch oder Besitz gar nicht zu denken wagt. Denn wie derart prunkhafte und verletzliche Kostbarkeiten auf ihre unbewehrten Schultern niederfließen lassen, ohne jeden Augenblick sich zu ängstigen? Wie gehen und sich bewegen in solchem Hauch von Farbe und Licht? Muß das nicht gelernt sein, solche Kleider zu tragen?


Aber doch, sie ist zu sehr Frau, um nicht mit demütigem und doch begehrendem Blick diese köstlichen Kleider zu sehen. Ihre Nasenflügel spannen sich erregt und die Hand beginnt merkwürdig zu zittern, weil die Finger schon zärtlich den Stoff betasten möchten, und nur mühsam kann sie ihre Neugier bezähmen. Die Tante kennt aus verschollener Probiermamsell-Erfahrung diese Art begehrlicher Blicke, diese fast sinnliche Erregung, die alle Frauen beim Anblick des Luxus ergreift; unwillkürlich muß sie lächeln über die plötzlich aufgezündeten Lichter in den Pupillen dieser stillen Blondine; von einem Kleide zum andern irrlichtern sie unruhig unschlüssig, und die Erfahrene weiß, welches Kleid sie wählt, sie wird an die andern reumütig denken. Es macht ihr guten Spaß, die ganz Hingerissene noch mehr zu überschütten. »Nun, es eilt nicht, ich laß dir alle drei da, du wählst für heute, was dir am besten paßt, und morgen probierst du das andere. Strümpfe und Wäsche habe ich dir auch gleich mitgebracht – jetzt fehlt nur was Frisches und Fesches, das deine blassen Wangen ein bißchen auffärbt. Wenn’s dir recht ist, gehen wir gleich hinüber in die Stores und kaufen alles ein, was du fürs Engadin brauchst.«


»Aber Tante«, atmet ganz erschüttert die Erschreckte. »Wie komme ich denn dazu … Ich darf dir doch nicht so viele Auslagen machen. Auch das Zimmer ist viel zu kostspielig für mich, wirklich, ein einfaches Zimmer hätte reich genügt.« Doch die Tante lächelt nur und sieht sie prüfend an. »Und dann, Kind«, erklärt sie diktatorisch, »führe ich dich zu unserer Verschönerungskünstlerin, die wird dich einigermaßen zustutzen. Einen solchen Schopf wie du tragen bei uns nur noch die Indios. Paß auf, wie du den Kopf gleich freier trägst, wenn dir die Mähne nicht mehr in den Nacken hängt. Nein, keine Widerrede, das verstehe ich besser, laß mich nur machen und sorg dich nicht. Und jetzt richte dich zusammen, wir haben massenhaft Zeit, Anthony sitzt bei seinem Nachmittagspoker. Abends wollen wir dich ihm ganz frisch aufgebügelt präsentieren. Komm, Kind.«


In dem großen Sportgeschäft sausen sofort Schachteln aus den Stellagen, ein schachbrettartig gewürfelter Sweater wird gewählt, ein Gürtel aus Sämischleder, der die Taille straff aufspannt, ein Paar feste rehbraune Schuhe, scharf und neu duftend, eine Kappe, knapp anliegende bunte Sportstrümpfe und allerlei Kleinigkeiten – dafür darf Christine dann in der Probierkammer die verhaßte Bluse wie eine schmutzige Rinde von sich abstreifen, und in einer Pappschachtel wird die mitgebrachte Armut unsichtbar verstaut. Sonderbare Erleichterung überkommt sie, wie die widrigen Sachen verschwinden, als wäre ihre eigene Angst in dem Paket für immer versteckt. In einem anderen Geschäft kommen noch ein paar Abendschuhe, ein leicht fließender Seidenschal und ähnliche Zauberdinge dazu; ganz unerfahren staunt Christine das neue Wunder dieser Art von Einkaufen an, dies Kaufen ohne Frage nach dem Preis, ohne die ewige Angst vor dem »zu teuer«. Man wählt, man sagt ja, man denkt nicht nach, man sorgt sich nicht, und schon schnüren sich Pakete und fliegen, von geheimnisvollen Boten besorgt, in das Haus. Noch ehe man recht gewagt hat zu wünschen, ist der Wunsch schon erfüllt: unheimlich ist das und doch berauschend leicht und schön. Christine gibt sich dem Wunderbaren ohne weitere Gegenwehr hin, sie läßt die Tante schalten und walten und sieht immer nur ängstlich weg, sobald die Tante aus der Tasche Banknoten holt, und bemüht sich rasch wegzuhören, den Preis nicht zu hören, denn es muß ja so viel sein, so unausdenkbar viel, was für sie ausgegeben wird: in Jahren hat sie nicht so viel verbraucht wie hier in der halben Stunde. Nur wie sie aus dem Geschäft gehn, kann sie nicht mehr an sich halten, faßt zuckend in überströmender Dankbarkeit den Arm der Spenderin und küßt ihr die gütige Hand. Die Tante lächelt in ihre rührende Verwirrung. »Aber jetzt noch den Skalp! Ich führe dich zur Friseurin und gebe inzwischen drüben bei Freunden meine Karte ab. In einer Stunde bist du frisch aufgebügelt, dann hol’ ich dich ab. Paß auf, wie die dich zurichtet, schon jetzt siehst du ganz anders aus. Dann gehen wir spazieren und wollen heute abends ganz richtig lustig sein.« Ein hartes gutes Pochen im Herzen, läßt sie sich willig (die Tante meint es ja so gut) in eine gekachelte und von Spiegeln blinkende Kammer führen, wo es nach Warm und Süß riecht, nach lauer, blumiger Seife und zerstäubten Essenzen und wo nebenan ein elektrischer Apparat wie ein Bergsturm saust. Die Friseurin, eine stupsnasige, flinke Französin, empfängt allerhand Instruktionen, von denen Christine wenig versteht, und sie versucht es auch gar nicht. Eine neue Lust ist über sie gekommen, alles mit sich tun, sich willenlos überraschen zu lassen. Man setzt sie in den bequemen Operationsstuhl, die Tante verschwindet; weich lehnt sie sich zurück und geschlossenen Augs, in einer wohligen Narkose des Genießens, spürt Klappern einer Maschine, stählernes Kühl am Nacken, und das leichte unverständliche Geplapper der munteren Frau, sie atmet die schwülig weichen Duftwolken ein und läßt fremde geschickte Finger und süße Essenzen Haar und Hals überrieseln. Nur nicht die Augen auftun, denkt sie. Vielleicht ist alles dann nicht wahr. Nur nicht fragen. Nur dies sonntägliche Gefühl auskosten, einmal selbst zu ruhen, und statt andere zu bedienen, selbst bedient zu sein. Einmal die Hände wohlig in den Schoß sinken lassen, an sich, mit sich Gutes geschehen und es herankommen lassen, nur tief sie auskosten, diese seltene Ohnmacht des lässig Zurückgelehntseins und Sichpflegenlassens, dieses sonderbare sinnliche Gefühl, seit Jahren, seit Jahrzehnten nicht erlebt; geschlossenen Augs, während das duftende Lau sie überrieselt, erinnert sie sich an das letzte Mal: sie liegt als Kind im Bett und hat Fieber gehabt, tagelang, jetzt ist es vorbei und die Mutter bringt ihr weiße süße Mandelmilch, der Vater, der Bruder sitzen an ihrem Bett, alles sorgt, alles bemüht sich um sie, alle sind gut und mild. Nebenan zwitschert der Kanarienvogel spitzbübische Melodie, das Bett hält warm und weich, man muß nicht zur Schule gehen, alles kommt zärtlich an einen heran, Spielzeug liegt auf der Decke, und doch ist sie zu wohlig trag, damit zu spielen; nein, es ist besser, die Augen zu schließen und das Nichtstun, das Mitsichtunlassen zu fühlen bis tief in die Haut. Jahrzehntelang hat sie sich nicht erinnert an dies schlaffe, gute Kindheitsbehagen von damals, jetzt ist es plötzlich wieder da, die Haut erinnert sich, die warmumrieselte Schläfe. Ein paarmal stellt die flinke Demoiselle Fragen wie: »Wünschen Sie es kürzer?« Aber sie antwortet nur: »Wie Sie wollen« und blickt absichtlich an dem angenäherten Spiegel vorbei. Nein, nur dies göttlich Unverantwortliche des Ansichgeschehenlassens, dies Ausgelöstsein von allem Tun und Wollen nicht stören, obwohl auch dies verlockend wäre, einmal, zum erstenmal im Leben, jemanden zu befehlen, etwas herrisch zu verlangen, ein So oder So zu fordern. Jetzt strömt aus einem geschliffenen Flakon ihr Duft über das Haar, eine Rasierklinge kitzelt sie fein und zärtlich, sonderbar leicht fühlt sie auf einmal den Kopf und eine neue, offene Hautkühle im Nacken. Eigentlich wäre sie schon neugierig, in den Spiegel zu sehen, aber sie hält sich zurück, die geschlossenen Augen verlängern so wohlig das Gefühl des betäubend Traumhaften. Inzwischen hat heinzelmännisch leis sich ein zweites Fräulein neben sie gesetzt und manikürt ihr, während die andere ihr die Wellen kunstvoll legt, ihre Nägel. Auch dies läßt sie – fast ohne Überraschung schon – nachgebend gehorsam geschehen und wehrt nicht, wie nach einem einleitenden »Vous êtes un peu pâle, Mademoiselle« die geschäftige Künstlerin ihr mit allerhand Stiften die Lippen aufrötet, die Bogen der Augenbrauen steiler zeichnet und den Wangen die Farbe auffrischt. All dies bemerkt sie und bemerkt sie zugleich nicht in dieser wohligen Ohnmacht des Sichausschaltens, denn betäubt von der süßsatten, feuchtschwülen Luft, weiß sie kaum, ob all dies ihr selber geschieht oder einem ganz andern, ganz neuen Ich, nur wie Traumgeschehen, verworren und nicht ganz wahr erlebt sie das Sonderbare und mit einer kleinen Angst, plötzlich aus diesem Traum zu stürzen.


Endlich erscheint die Tante. »Ausgezeichnet«, äußert sie kennerisch zu der Künstlerin. Auf ihren Wunsch werden noch einige dieser Schachteln, Stifte und Flakons eingepackt und dann ein kleiner Spaziergang beschlossen. Christine wagt aufstehend nicht in den Spiegel zu sehen: nur ganz sonderbar leicht fühlt sie den Kopf im Nacken, und wenn sie jetzt im Ausschreiten manchmal heimlich herabblickt auf den straffen Rock, die buntgemusterten heitern Strümpfe, die blanken, elegant sitzenden Schuhe, so spürt sie, wie ihr Schritt sich sicherer spannt. Zärtlich an die Tante geschmiegt, läßt sie sich alles erklären, und alles ist wunderbar: die Landschaft mit ihrem schmetternden Grün und dem panoramisch geordneten Kreis der Höhen, die Hotels, diese Luxusburgen, hoch und herausfordernd in die Hänge gestellt, die teuren Geschäfte mit ihren provokant noblen Auslagen, Pelze, Juwelen, Uhren, Antiquitäten, all das sonderbar und fremd neben der ungeheuer einsamen Majestät des eisigen Ferner. Wunderbar auch die Pferde in ihren schönen Geschirren, die Hunde, die Menschen, selber scharfbunt gekleidet wie die Alpenblumen. Die ganze Atmosphäre sonniger Sorglosigkeit, eine Welt ohne Arbeit, eine Welt ohne Armut, die sie nie geahnt. Die Tante nennt ihr die Namen der Berge, die Namen der Hotels, die Namen mancher vorübergehender prominenter Gäste: ehrfürchtig hört sie zu, ehrfürchtig schaut sie zu ihnen auf, und immer mehr wird ihr das eigene Daseindürfen zu einem Wunder. Während sie zuhört, staunt sie, daß sie hier gehen darf, daß dies erlaubt ist, und immer ungewisser wird sie, ob sie selbst es ist, die das erlebt. Endlich sieht die Tante auf die Uhr. »Wir müssen nach Hause. Es ist Zeit zum Umkleiden. Wir haben nur noch eine Stunde zum Dinner. Und das einzige, was Anthony böse machen kann, ist Unpünktlichkeit.« Wie sie, heimgekehrt, die Zimmertür öffnet, ist der Raum schon von Dämmerung weich getönt, ein früh hereingebrochener Abend macht alle Dinge ungewiß und stumm. Einzig das scharf eingesetzte Rechteck Himmel hinter der geöffneten Balkontür bewahrt noch sein pralles, dichtes und blendendes Blau, im Innenraum aber beginnen schon alle Farben an den Rändern sacht zu verfallen und sich mit samtigen Schatten zu mischen. Christine tritt auf den Balkon, der ungeheuren Landschaft gegenüber, und blickt unverwandt auf das rasch sich entfaltende Farbenspiel. Als erste verlieren die Wolken ihr strahlendes Weiß, um allmählich, leise und immer heftiger, zu erröten, gleichsam als ob sie selbst, sie, die hochmütig Teilnahmslosen, der immer raschere Niedergang des großen Gestirns zu eigenem Gefühl erregte. Dann steigen plötzlich aus den Bergwänden Schatten auf, die tagsüber dünn und einzeln hinter den Bäumen sich duckten; jetzt aber rotten sie sich zusammen, werden dicht und kühn, wie ein schwarzes Wasser schwemmen sie rasch vom Tal zu den Gipfeln hinauf, und schon ängstigt sich die erschütterte Seele, ob dieses Dunkel nun auch die Spitzen überfluten werde und die ungeheure Runde plötzlich leer und lichtlos sein – und wirklich, ein leichter Hauch von Frost schlägt als unsichtbare Welle bereits von den Tälern herauf. Aber mit einemmal beginnen die Höhen neu zu leuchten in einem kälteren und fahleren Licht; siehe, in dem längst noch nicht erlöschten Azur ist der Mond erschienen. Wie eine Bogenlampe, hoch und rund schwebt er durch die Gasse zwischen zwei der mächtigsten Berggipfel, und was eben noch Bild gewesen, vielfarbige Einzelheiten, beginnt jetzt Schattenriß zu werden, zusammengefaßte Kontur aus Schwarz und Weiß mit kleinen, ungewiß flimmernden Sternen.


Ganz betäubt, ganz losgelöst von sich selbst, starrt, an solche Schau nicht gewöhnt, Christine auf den dramatischen Wechsel ständigen Übergangs auf dieser riesig aufgefalteten Palette. Wie einem die Ohren dröhnen, der nur an sanfte Geige und Flöte gewöhnt, zum erstenmal die brausenden Tutti eines vollen Orchesters hört, so beben ihr die Sinne in diesem plötzlich offenbarten majestätischen Farbenspiel der Natur. Sie starrt und starrt, die Hand angekrampft an das Geländer. Nie in ihrem Leben hat sie mit solcher Zusammengefaßtheit in eine Landschaft geblickt, nie sich so völlig in das Schauen hineingebeugt, nie sich so sehr an das eigene Erleben verloren. In zwei staunenden Augen ist ihre ganze Lebenskraft zusammengefaßt, schauend und staunend strömt sie von ihrem eigenen Ich herausgehoben in die Landschaft hinein, sich selbst vergessend und die Zeit, und es ist ein Glück, daß in diesem vorsorglichen Hause ein Zeitwächter wartet, der unerbittliche Gong, der von Mahlzeit zu Mahlzeit die Gäste an ihre eigentliche Pflicht erinnert, sich für den Luxus bereit zu machen. Christine schreckt auf beim ersten bronzenen Wirbel. Ausdrücklich hat ihr die Tante eingeschärft, pünktlich zu sein, rasch jetzt, sich bereit machen zum Abendessen!


Aber welches wählen von den neuen herrlichen Kleidern? Noch liegen sie, leise leuchtend wie Libellenflügel, nebeneinander auf dem Bett; verführerisch glänzt das dunkle aus dem Schatten, schließlich wählt sie das elfenbeinfarbene für heute als das bescheidenste. Sie nimmt es zärtlich, zaghaft auf und staunt. Nicht schwerer als ein Taschentuch oder ein Handschuh liegt es in der Hand. Rasch schält sie den Sweater ab. die schweren Juchtenschuhe, die dicken Sportstrümpfe, weg alles Schwere und Feste, ungeduldig schon die neue Last der Leichtigkeit zu fühlen. Wie alles zart ist, wie weich und gewichtslos. Nur sie anzufassen, die neue kostbare Wäsche, läßt ehrfürchtig die Finger erschauern, schon das bloße Berühren ist wunderbar. Schnell zieht sie die alte, die harte, die leinene Wäsche vom Leibe; ein Schaum, zärtlich und warm, rieselt das neue, nachgiebige Gewebe über die nackte Haut. Unwillkürlich will sie Licht machen, um sich selbst zu sehen, aber im letzten Augenblick läßt die Hand den Kontakt; lieber den Genuß durch Erwartung noch verzögern. Vielleicht fühlt sich dies köstlich leichte Gewebe nur im Dunkeln so flaumig, so zart, am Ende schwindet sein zärtlicher Zauber im scharfen schneidenden Licht. Nun, nach der Wäsche, nach den Strümpfen noch das Kleid. Sorgfältig – es gehört ja der Tante – stülpt sie sich die glatte Seide über, und wunderbar: wie ein laues, glitzerndes Wasser fließt es von selbst die Schultern hinab und schmiegt sich gehorsam an die Nacktheit, man spürt es gar nicht, wie in Wind gekleidet geht man darin, die Lippen der Luft auf dem weiter schauernden Leib. Aber weiter, weiter, nicht sich an das. Genießen vorzeitig verlieren, flink fertig werden, um sich endlich zu sehen! Rasch die Schuhe an, ein paar Griffe, ein paar Schritte: fertig, gottlob! Und jetzt – das Herz klopft Angst – den ersten Blick in den Spiegel.


Die Hand dreht den Kontakt, Licht schießt in die elektrische Birne. Grell, hell, mit einem einzigen Blitz ist das verloschene Zimmer wieder da, die blutenden Tapetenwände, die gepflegt spiegelnden Möbel, die neue vornehme Welt. Noch wagt die ängstlich Neugierige sich selber nicht gleich in den Radius des Spiegels, nur von der Seite schielt sie in das sprechende Glas, das im schiefen Winkel nur den Streif Landschaft hinter dem Balkon und ein Stück Zimmer zeigt. Zu der eigentlichen Probe fehlt noch der letzte Mut. Wird sie nicht noch lächerlicher aussehen als vordem in dem abgeborgten Kleid, wird nicht jeder, wird nicht sie selbst den geborgten Betrug erkennen? So schiebt sie nur ganz langsam von der Seite heran an die Spiegelfläche, als ob man den unerbittlichen Richter durch Bescheidenheit überlisten und betören könnte. Schon steht sie ganz nah vor dem strengen Glas, aber noch immer mit gesenkten Blicken, noch scheut sie den letzten entscheidenden Blick. Da rattert von unten zum zweitenmal der Gong: keine Zeit mehr zu verzögern! Mit plötzlichem Mut holt sie tief Atem wie zu einem Sprung, dann hebt sie entschlossen den Blick gegen das harte Glas. Hebt ihn und erschrickt sofort, erschrickt so tief, daß die Überraschung sie unwillkürlich einen Schritt zurückstößt. Denn wer ist das? Wer diese schlanke, diese noble Dame, die, den Oberkörper zurückgebogen, den Mund halboffen, die Augen grell aufgetan, sie mit ehrlicher und unverkennbarer Überraschung anstarrt? Ist sie das selbst? Unmöglich! Sie sagt es nicht, sie spricht es wissentlich nicht aus. Aber unwillkürlich hat das gewollte Wort ihr die Lippen bewegt. Und wunderbar: auch drüben im Spiegelbild bewegen sich die Lippen.


Der Atem stockt ihr vor Überraschung. Nicht einmal im Traum hat sie gewagt, sich so herrlich, so jung zu denken, so geschmückt; ganz neu dieser rote, scharf eingesetzte Mund, die fein gezogenen Augenbrauen, der plötzlich frei leuchtende Nacken unter dem goldgeschwungenen Helm des Haares, ganz neu die eigene nackte Haut in dem glitzernden Rahmen des Kleides. Immer näher tritt sie heran, um ihr Selbst in diesem Bildspiel zu erkennen, und obwohl sie sich in dem Spiegel weiß, wagt sie dies andere Ich nicht als wahr und dauerhaft anzuerkennen, immer wieder hämmert Angst in den Schläfen, bei dem nächsten Zoll Nähe, bei einer brüsken Bewegung könnte das beglückende Bild zerfließen. Nein, es kann nicht wahr sein, denkt sie. Man kann sich nicht dermaßen plötzlich verändern. Denn wenn es wirklich wahr wäre, dann wäre ich ja … Sie hält inne, sie wagt nicht das Wort zu denken. Aber da beginnt das Spiegelbild, den Gedanken erratend, innerlich zu lächeln, ein erst leises, dann immer stärker aufblühendes Lächeln. Nun lachen die Augen ganz offen stark und stolz aus dem dunklen Glas sich selber entgegen, und die aufgelockerten roten Lippen scheinen erheitert zuzugestehen: »Ja, ich bin schön.«


Hinreißend, sich so anzusehen, sich zu bestaunen, zu bewundern, zu entdecken, in einem bisher unbekannten Gefühl der Selbstverliebtheit seinen Körper zu betrachten, zum erstenmal zu merken, wie die befreite Brust sich straff und schön unter der Seide spannt, in wie schlanker und gleichzeitig weicher Linie sich die Formen in den Farben zeichnen, wie leicht und locker die nackten Schultern aus diesem Kleide blühn. Neugier kommt über sie, diesen Körper, diesen unvermutet neuen und schlanken, nun auch in der Bewegung zu sehen. Langsam dreht sie sich zur Seite, ganz langsam und überprüft gleichzeitig, das Profil rückgewandt, die Wirkung der Bewegung: wieder begegnet der Blick im Spiegel einem stolzen zufriedenen Bruderblick. Das macht sie kühn. Jetzt drei Schritte zurück: auch die rasche Bewegung ist schön. Jetzt wagt sie eine rasche Pirouette, daß die kurzen Röcke fliegen, und wieder lächelt der Spiegel: »Ausgezeichnet! Wie schlank, wie geschickt du bist!« Am liebsten möchte sie tanzen, so versucherisch zuckt es ihr in den Gelenken. Sie eilt bis zur Tiefe des Zimmers zurück und schreitet wieder dem Spiegel entgegen, und er lächelt, er lächelt mit ihrem eigenen Blick; von allen Seiten versucht und prüft und umschmeichelt sie das eigene Bild, und die neue Selbstverliebtheit wird nicht satt an diesem neuen verführerischen Ich, das schön gewandet, jung und erneut ihr aus dieser gläsernen Tiefe immer wieder lächelnd entgegentritt. Umarmen möchte sie am liebsten diesen neuen Menschen, der sie ist, ganz nah drängt sie sich heran, daß die Pupillen einander fast berühren, die lebendigen und jene des Spiegelscheins, und so kußhaft nahe rührt die heiße Lippe die schwesterliche, daß für einen Augenblick im Anhauch des Atems die eigene Nähe zerrinnt. Wunderbares Spiel der Selbstentdeckung, immer wieder setzt sie zu anderer Bewegung an, um sich anders in dieser Verwandlung zu sehen. Da lärmt von unten der Gong zum drittenmal. Sie schrickt auf. Mein Gott, nur die Tante nicht warten lassen, gewiß wird sie schon böse sein. Rasch nur den Mantel um, den Abendmantel, leicht, buntfarbig, mit köstlichem Pelz verbrämt. Dann, noch ehe die Hand an den Kontakt faßt, um das Licht auszulöschen, einen gierigen Abschiedsblick, einen letzten, einen allerletzten in das beglückende Glas. Wieder das Leuchten in den Augen drüben, wieder die heiße Seligkeit in dem fremdeigenen Mund! »Ausgezeichnet, ausgezeichnet«, lächelt ihr der Spiegel zu. In heiterer Flucht eilt sie über den Gang zum Zimmer der Tante, das kühl und seidig sie umwehende Kleid macht ihr die schnelle Bewegung zur Lust. Wie von einer Welle fühlt sie sich getragen, wie von einem seligen Wind geführt; seit Kindertagen ist sie nicht so leicht, so flughaft gegangen: Rausch der Verwandlung hat in einem Menschen begonnen.


»Ausgezeichnet paßt dir’s. Wie angegossen«, sagt die Tante. »Ja, wenn man jung ist, dann braucht’s wenig Zauberei! Nur wo das Kleid verstecken muß, statt zu zeigen, hat’s der Schneider schwer. Aber Spaß beiseite: wie angegossen sitzt dir’s, man kennt dich kaum wieder; jetzt sieht man erst, was du für eine gute Figur hast. Aber jetzt auch den Kopf leichter tragen, du gehst – sei mir nicht böse, daß ich dir’s sage – immer so unsicher, so gebückt, du drückst dich so ängstlich in dich hinein wie eine Katze beim Regen. Das mußt du erst noch lernen, amerikanisch zu gehn, leicht, frei, die Stirn hoch nach vorn wie ein Schiff gegen den Wind. Herrgott, wenn ich noch einmal so jung wäre.« Christine errötet. Man sieht ihr also wirklich nichts an, sie ist nicht lächerlich, nicht dörfisch. Inzwischen hat die Tante die Prüfung fortgesetzt, ihr Blick prüft anerkennend die ganze Figur entlang. »Tadellos! Nur dahier, auf den Hals gehört noch etwas Schmuck.« Sie beginnt in ihrem Kasten zu kramen. »Da, diese Perlen nimm noch um! Nein, Tschaperl, keine Angst, nicht erschrecken, sie sind nicht echt. Die wirklichen liegen drüben in einem Safe, für eure Pickpockets nehmen wir wahrhaftig nicht die echten nach Europa mit.« Kühl und fremd rollen die Perlen auf die nackte, leicht erschauernde Haut. Dann tritt die Tante zurück. Ein letzter Gesamtblick: »Tadellos. Dir paßt eben alles. Dich gut auszustaffieren, müßte für einen Mann ein Vergnügen sein. Aber jetzt komm! Wir können Anthony nicht länger warten lassen. Wird der Augen machen!«


Sie gehen zusammen die Treppe hinab. Wunderlich ist Christine dieses Niedersteigen in dem entblößenden neuen Kleid. Als ob sie nackt ginge, so leicht fühlt sie sich, man geht gar nicht, man schwebt, und ihr ist, als höbe Stufe um Stufe sich ihr gleitend entgegen. Auf dem zweiten Treppenabsatz des Stockwerks begegnen sie einem älteren Herrn im Smoking, das straffe weiße Haar auf dem Scheitel wie mit einem Messer geteilt. Er grüßt respektvoll die Tante, bleibt stehen, um die beiden vorbeizulassen, und in dem knappen Vorbei spürt Christine sein besonderes Anschauen, einen männlich bewundernden und beinahe ehrfürchtigen Blick. Sofort fühlt sie Wärme in den Wangen: noch nie in ihrem Leben hat sie ein Mann von Rang, ein wirklicher Herr so respektvoll distanziert und gleichzeitig so wissend anerkennend gegrüßt. »General Elkins, du kennst wohl den Namen vom Krieg her, Präsident der Geographischen Gesellschaft in London«, erklärt die Tante. »Er hat zwischen seinen Dienstjahren große Entdeckungen in Tibet gemacht, ein berühmter Mann, den muß ich dir noch vorstellen, das Beste vom Besten, er verkehrt bei Hof.« Christine braust das Blut vor Glück. Ein so vornehmer, weitgereister Mann, und er hat sie sofort nicht als Zaungast, als verkleidete Dame erkannt und verachtet, nein, er hat sich verbeugt vor ihr wie vor einer Adeligen, wie vor einer Gleichwertigen. Jetzt erst fühlt sie sich legitimiert.


Und abermals Bestärkung. Auch der Onkel, kaum sie sich dem Tisch nähern, stutzt auf. »Oh, das ist aber eine Überraschung. Nein, wie du dich herausgemacht hast! Verdammt gut – oh pardon, ich wollte sagen: famos gut siehst du aus.« Abermals fühlt sich Christine vor Wohlbehagen erröten, bis ins Rückgrat spürt sie den warmen rieselnden Schauer. »Ich glaube, Onkel, du willst mir am Ende noch Komplimente machen«, versucht sie zu spaßen. »Aber kräftig«, lacht der alte Herr, und ohne daß er es weiß, plustert er sich auf. Die zerknitterte Hemdbrust spannt sich plötzlich gerade, seine Onkelbehäbigkeit ist verschwunden, in seinen kleinen rotgeränderten, ganz in die Fettwangen verpolsterten Augen funkelt ein neugieriges und beinahe begehrliches Licht. Das Vergnügen an diesem unerwartet hübschen Mädchen macht ihn ungewöhnlich munter und beredt; mit so vielen fachmännischen Feststellungen über ihr Aussehen legt er betrachtend los, daß die Tante seine etwas neugierig detaillierende Begeisterung heiter abwinkt, er möge ihr nicht den Kopf verdrehen, das würden Jüngere besser und taktvoller besorgen. Inzwischen sind die Kellner servierend angerückt: wie Ministranten zur Seite des Altars stehen sie, das Zeichen der Zustimmung erwartend, respektvoll neben dem Tisch. Sonderbar, denkt Christine, wie konnte ich mich mittags vor ihnen so fürchten, vor diesen höflichen, diskreten und wunderbar leisen Männern, die doch nichts zu wollen scheinen, als daß man ihr Dabeisein gar nicht spüre? Tapfer langt sie jetzt zu, die Angst ist verschwunden, der Hunger der langen Fahrt meldet sich energisch zum Wort. Unerhört munden ihr die leichten getrüffelten Pasteten, die mit Gemüsebeeten kunstvoll umzirkten Braten, die zarten und schaumigen Desserts, die ihr silberne Messer immer wieder vorsorglich auf den Teller servieren; um gar nichts muß sie sich bemühen, an gar nichts denken, und eigentlich wundert sie sich schon gar nicht mehr. Alles ist doch hier wunderbar und das Wunderbarste, daß sie selbst hier sein darf, hier in diesem strahlenden, vollen und doch lautlosen Saal mit auserlesen geschmückten und wahrscheinlich sehr bedeutenden Menschen, sie, die … aber nein, nicht daran denken, nie mehr daran denken, solange man hier sein darf. Am herrlichsten aber mundet ihr der Wein. Aus goldenen, von südlicher Sonne gesegneten Beeren muß er bereitet sein, aus fernen, aus glücklichen und guten Ländern muß er stammen; durchsichtig wie Bernstein glüht er im kristalldünnen Glase und schmeichelt sich wie süßes, gekühltes Öl in die Kehle hinab. Erst wagt Christine in Andacht nur schüchterne Probe, aber vom Onkel, der sich an ihrem sichtlichen Behagen begeistert, mit immer wieder neuer Bewillkommnung verführt, läßt sie sich mehrmals das Glas füllen. Ohne daß sie es will oder weiß, beginnt ihr die Lippe zu plaudern. Ganz leicht und sprudelnd wie Champagner hinter dem Pfropf schießt ihr mit einmal Lachen aus der Kehle, und sie staunt selbst, wie sorglos sein lustiger Schaum zwischen die Worte quirlt; es ist, als ob innen eine Daube von Angst gesprungen sei, die ihr Herz einengte. Und warum hier auch Angst? So gut sind sie alle, die Tante, der Onkel, so schön und geschmückt diese gepflegten, prächtigen Menschen ringsum, schön die Welt, das ganze Leben.


Der Onkel sitzt breit, behaglich und zufrieden gegenüber: ihr plötzlich überfließender Übermut macht ihm höllischen Spaß. Ach, noch selber einmal jung sein, so ein schaumiges, in der eigenen Hitze prasselndes Mädel fest anfassen zu können, denkt er. Er fühlt sich erheitert, belebt, angeregt, erfrischt und fast verwegen; sonst phlegmatisch und eher mürrisch, krabbelt er jetzt aus aufgerütteltem Gedächtnis allerhand Spaßigkeiten hervor, heikle sogar; unbewußt will er das Feuer heizen, das ihm so wohlig die alten Knochen wärmt. Er schnurrt vor Behagen wie ein Kater, der Rock wird ihm heiß, die Wangen verdächtig rot: wie der Bohnenkönig auf dem Bilde von Jordaens sieht er plötzlich aus, die Wangen inkarniert von Behagen und Wein. Immer wieder trinkt er ihr zu und will eben Champagner bestellen, da legt die amüsierte Wächterin, die Tante, ihm warnend die Hand auf den Arm und erinnert an ein ärztliches Gebot.


Inzwischen hat von nebenan aus der Halle ein rhythmisches Rumoren begonnen, es rasselt, dudelt, trommelt und quäkt wie ein tollgewordener Blasebalg: die Tanzmusik. Der alte Herr legt seinen brasilianischen Kolben in den Aschenbecher und zwinkert »Na? Ich sehe dir’s an den Augen an, du möchtest gerne tanzen?«


»Nur mit dir, Onkel«, schmeichelt sie übermütig (mein Gott, hab’ ich nicht einen kleinen Schwips?). Immer muß sie gleich lachen, ganz oben sitzt so ein komischer Kitzel in der Kehle, bei jedem Wort kollert unaufhaltsam ein froher klingender Triller mit. »Verschwör’s nicht!« brummt der Onkel. »Es gibt verdammt stramme Jungens hier, drei zusammen nicht so alt wie ich, und jeder tanzt siebenmal besser als ich greises, gichtisches Nashorn. Aber auf deine Verantwortung: wenn du Courage hast, dann legen wir los.«


Er bietet biedermeierisch galant den Arm, sie nimmt ihn und schwätzt und lacht und biegt sich und lacht, die Tante folgt amüsiert, die Musik dröhnt, der Saal blinkt farbig voll und hell, Gäste sehen neugierig freundlich her, Kellner rücken einen Tisch zurecht, alles ist freundlich, freudig und willkommsbereit, es braucht nicht viel Mut, in das bunte Gewirbel abzustoßen. Ein Meistertänzer ist Onkel Anthony wahrhaftig nicht, unter der Weste schwappt bei jedem Schritt ein gesparter Wulst Fett auf und nieder, er führt zögernd und plump, der behäbig grauhaarige Herr. Aber statt seiner führt die Musik, diese scharf synkopierte, reißerische, diese schmissige und wirbelige und doch fabelhaft präzis taktierte Satansmusik. Wie ein Hieb jappt jeder rhythmische Tschinellenschlag bis in die Kniekehlen, aber herrlich, wie weich dann wieder der Geigenstrich die Gelenke lockert, wie man sich durchgerüttelt, gewalkt, geknetet und geknechtet fühlt vom grellen Griff des hart vorstoßenden Takts. Teufelsmäßig gut spielen sie, und wirklich, wie Teufel sehen sie aus, wie livrierte, angekettete Teufel, diese braunen Argentinier in ihren braunen, goldbeknöpften Jacken, toll allesamt miteinander, dort der Schmale, Brillenfunkelnde, der auf seinem Saxophon so inbrünstig gluckst und gickst, als söffe er es betrunken aus, und fast noch fanatischer neben ihm der Feiste, Wollhaarige, der in wohlstudierter Begeisterung scheinbar aufs Geratewohl holzhackerisch in die Tasten schlägt, während sein Nachbar, das Breitmaul breitgefletscht bis zum hintersten Zahn, eine unverständliche Wut in Pauke und Klingelwerk prasselt. Alle scheinen sie von der Tarantel gestochen, unablässig rücken und zucken sie wie unter elektrischen Schlägen auf ihren Sesseln hin und her, mit äffischem Geschlenker und forcierter Ingrimmigkeit berserkern sie auf ihre Instrumente los. Aber diese höllische Lärmschmiede – sie spürt es mitten im Tanz – arbeitet dabei präzis wie eine Nähmaschine; alle diese negerhaften Übertreiblichkeiten, das Grinsen, die Gickser, die Gebärden, die Griffe, die anpeitschenden Rufe und Spaße, sie sind vor Spiegel und Notenblatt bis ins winzigste Detail geprobt, der gespielte Furor, er ist vollendet gespielt. Das scheinen die hochschenkeligen, schmalhüftigen, puderblassen Frauen auch zu wissen, denn sie lassen sich nicht sichtbar fassen und erregen von dieser allabendlich neu geheuchelten Hitzigkeit. Mit fest angeschminktem Lächeln und rastlosen berougten Händen lehnen sie locker ihren Tänzern im Arm, das kühle Geradvorsichhin ihrer Blicke scheint zu bezeugen, daß sie an etwas anderes denken oder wahrscheinlich an nichts. Sie allein, die Fremde, die Neue, Überraschte muß sich wehren, ihre Erregtheit zu verraten, ihre Blicke zu dämpfen, denn um und um fühlt sie ihr Blut geschüttelt von dieser boshaft prickelnden, dieser frech anfassenden, dieser zynisch leidenschaftlichen Musik. Und wie jetzt der aufgetriebene Rhythmus jäh abreißt und in eine Stille fällt, atmet sie auf, wie einer Gefahr entsprungen.


Auch der Onkel keucht, stolz und schwer, jetzt kann er endlich den Schweiß von der Stirne wischen und sich ausprusten. Mit siegreichen Schritten führt er Christine zurück an den Tisch, und – Überraschung! – die Tante hat bereits für beide eisgekühlten Sorbet bestellt. Eben noch hatte Christine mehr mit den Nerven gefühlt als wirklich wunschhaft gedacht, wie herrlich das täte, jetzt sich die Kehle, das Blut kühlen zu können, und schon steht, ohne daß sie darum bitten mußte, eisbeschlagen ein silberner Becher bereit; märchenhafte Welt, wo ungerufen die Erfüllung den Wünschen vorausläuft: wie kann man hier anders als glücklich sein!


Begeistert saugt sie das kalt Brennende, Mildscharfe des Sorbets in sich hinein, als zöge sie aus diesem einen dünnen Strohhalm allen Saft und alles Süße der Welt. Das Herz schlägt ihr stoßhaft vor Lust, in ihren Fingern zittert ein Wille nach Zärtlichkeit. Unwillkürlich sieht sie sich um, wen oder was anfassen mit einem Blick, etwas von ihrer inneren Überfülltheit, ihrer brennenden Dankbarkeit wegzugeben. Da sieht sie neben sich den Onkel, den guten alten Mann; er sitzt ein wenig zerrüttet im tiefen Sessel, noch immer schnaubt er und keucht und wischt sich mit dem Taschentuch Schweißperlen vom Gesicht. Er hat sich verzweifelt geplagt, ihr Freude zu machen, vielleicht sogar gemüht über seine Kraft; so kann sie nicht anders, dankbar und leicht streichelt sie seine schwere, faltig-harte, auf die Stuhllehne hingestützte Hand. Sofort lächelt der alte Mann auf und macht sich wieder munter. Er versteht, was die unaufhaltsame Geste dieses jungen schüchternen und eben erst erwachenden Wesens meint, mit väterlichem Wohlbehagen genießt er die überflutende Erkenntlichkeit in ihrem Blick. Aber ist es nicht unrecht, nur ihm zu danken und nicht auch der Tante, der sie allein alles schuldet, ihr Daseindürfen, den zärtlichen Schutz, das üppige Kleid und die selige Sicherheit in dieser reichen, rauschhaften Sphäre. So greift sie mit ihrer Linken nach der Hand der Tante und sitzt, beiden verbunden, strahlenden Blicks in dem lichterstrahlenden Saal wie ein Kind unter dem Weihnachtsbaum.


Da setzt die Musik wieder ein, dunkeltöniger jetzt, zärtlicher, weicher, eine Schleppe aus schwarz glitzernder Seide schleift sie dahin: ein Tango. Der Onkel macht ein hilfloses Gesicht, sie müsse ihn entschuldigen, aber diesem biegsamen Tanz hielten seine siebenundsechzigjährigen Beine nicht mehr stand. »Aber nein, Onkel, mir ist tausendmal lieber, hier bei euch sitzen zu dürfen«, sagt sie und ist aufrichtig dabei, rechts und links zärtlich die beiden Hände haltend. Sie fühlt sich so wohl in diesem pochenden Kreis verwandten Blutes und vollkommen sicher in ihrer schützenden Hut. Aber da schattet eine Verbeugung vor ihr, ein hochgewachsener, breitschultriger Mann, das scharfrasierte kriegerische Gesicht bergsonnenbraun über dem Schneepanzer des Smokings. Er klappt auf deutsche Art die Hacken und bittet in einem blanken Norddeutsch die Tante korrekt um Verstattung. »Aber gern«, lächelt die Tante, selber stolz auf den rapiden Erfolg ihres Schützlings. Betroffen, mit ein wenig schwankenden Knien steht Christine auf. Die Überraschung, unter all diesen vielen schönen geschmückten Frauen von einem fremden eleganten Mann gewählt zu sein, hat ihr wie mit einem leichten Hammer auf das Herz geschlagen. Einen starken Atemzug noch aus der verwirrten Brust, dann legt sie dem vornehmen Mann ihre zitternde Hand auf die Schulter. Vom ersten Schritt an fühlt sie sich leicht und herrisch zugleich von diesem tadellosen Tänzer geführt. Nur nachzugeben braucht sie dem kaum fühlbaren Druck, und schon schmiegt sich ihr Leib in seine Biegung und Bewegung hinein, nur folgsam hingeben muß sie dem aufschmelzenden und weich mit sich ziehenden Rhythmus, und gleichsam magisch findet der Fuß richtig den Schritt. So hat sie nie getanzt, und sie staunt selbst, wie leicht es ihr wird. Als sei ein anderer Leib ihr plötzlich geworden unter dem andern Kleid, als hätte sie dies hinschmiegende Bewegen gelernt und geübt in einem vergessenen Traum, so vollendet mühelos folgt sie dem fremden Willen. Traumhafte Sicherheit ist plötzlich über ihr; den Kopf zurückgelehnt wie auf ein wolkiges Kissen, die Augen halb geschlossen, die Brüste zart bebend unter dem seidigen Kleid, völlig abgelöst und nicht mehr sich selber gehörig, fühlt sie sich zu ihrem eigenen Staunen durch den Saal gewichtlos schweben. Manchmal, wenn sie aus diesem strömenden Wogen ihres Hingetragenseins zu dem nahen und fremden Gesicht den Blick aufhebt, meint sie, zufrieden zustimmendes Lächeln in diesen harten Pupillen glitzern zu sehen, und ihr ist, als faßte sie dann immer mit vertrauterem Drucke die fremde, führende Hand. Eine kleine, kribbelige und fast wollüstige Angst flackert ihr unbestimmt im Blut: wie, wenn solche harte männische Hände fester ihre Gelenke packten, wenn dieser Fremde mit dem hochmütigen und hart gehämmerten Gesicht sie plötzlich anfaßte und an sich risse, könnte man sich da wehren? Würde man nicht völlig hinstürzen und nachgeben wie jetzt bloß dem Tanz? Ohne daß sie es ahnt, strömt etwas von der Sinnlichkeit solchen halbbewußten Gedankens in ihre immer lockerer nachgebenden Glieder. Schon blicken aufmerksam Einzelne aus der Corona diesem vollendeten Paare zu, und sie wieder spürt mitten im Tanz rauschhaft und stark dieses Bewundert- und Beobachtetsein. Immer sicherer und folgsamer fügt sie sich in den Willen des führenden Partners, mit dem sie Atem und Bewegung mischt, und die neuentdeckte Lust am eigenen Leib strömt wie durch neuaufgebrochene Poren nach innen und spannt die Seele zu noch nie erlebtem Gefühl.


Nach dem Tanz führt sie der hohe blonde Mann – er hat sich als Ingenieur aus Gladbach vorgestellt – höflich an den Tisch des Onkels zurück. Im Augenblick, da er den Arm von ihr löst, die Wärme der kleinen Berührung wegfällt, spürt sie sich schwächer und vermindert, als sei mit diesem zerrissenen Kontakt ein Teil dieser neuen Kraft wieder weggeströmt. Wie sie sich niedersetzt, hat sie die Sinne noch nicht beisammen. Schwach und beglückt lächelt sie dem Onkel zu, der sie freundlich empfängt, und merkt im ersten Augenblick gar nicht, daß bereits ein Dritter an ihrem Tisch sitzt: General Elkins. Jetzt steht er höflich auf und verbeugt sich. Er ist eigens gekommen, um die Tante zu bitten, ihn diesem »charming girl« vorzustellen: wie vor einer großen Dame, den Körper gestrafft, das ernste Gesicht respektvoll gebeugt, steht er vor ihr. Christine erschrickt und sucht ihre Sinne zusammen. Mein Gott, was sprechen mit einem so furchtbar vornehmen und berühmten Mann, dessen Bild, wie die Tante erzählt, in allen Zeitungen und sogar im Kino zu sehen war? Aber General Elkins selbst ist es, der sich bei ihr entschuldigt für sein armes Deutsch. Er habe zwar in Heidelberg studiert, aber das sei, traurig für ihn, solche Zahlen eingestehen zu müssen, schon mehr als vierzig Jahre her, und eine so prächtige Tänzerin müsse schon Nachsicht üben, wenn er sich erlaube, sie um den nächsten Tanz zu bitten: im linken Schenkel stecke ihm noch ein Sprengschußstück von Ypern her, aber schließlich, nur mit Nachsicht käme man in dieser Welt zu Rande. Christine weiß vor Beschämung gar nicht zu antworten, erst wie sie dann langsam und vorsichtig mit ihm tanzt, staunt sie selbst, wie leicht ihr mit einmal das Konvenieren wird. Wer bin ich denn eigentlich, schauert es ihr unter der Haut, was ist denn mit mir? Wieso kann ich dies alles mit einemmal? Wie gut, wie locker ich mich bewege und war doch sonst, der Tanzlehrer hat’s gesagt, so hölzern und ungeschickt, und jetzt führe ich doch eher ihn als er mich? Und wie leicht ich spreche, vielleicht gar nicht so einfältig, denn er hört mir doch so gütig zu, dieser bedeutende Mann. Hat mich das Kleid, hat mich die Welt hier so anders gemacht, oder war dies alles schon in mir und ich bin nur immer zu mutlos gewesen, zu verschüchtert? Die Mutter hat es ja immer gesagt. Vielleicht ist das alles gar nicht so schwer, vielleicht das ganze Leben unendlich leichter, als ich es glaubte, nur Mut muß man haben, nur sich selber fühlen und spüren, dann kommt von unvermuteten Himmeln die Kraft.


Nach dem Tanz führt sie General Elkins noch langsam und gemessen im Saal herum. Stolz geht sie an seinem Arm, fühlt, wie sich bei diesem sicheren Geradeausblicken ihr Nacken strafft, und ahnt, wie sie durch diese gestraffte Geste jünger und schöner wird. General Elkins, dem sie im Gespräch offen eingesteht, daß sie hier zum ersten Male sei und noch gar nicht das eigentliche Engadin, Maloja, Sils-Maria kenne, scheint eher erfreut als minder respektvoll nach dieser Eröffnung: ob sie ihm dann nicht erlauben wolle, sie morgen vormittag in seinem Auto nach Maloja zu führen. »Wie gern«, sagt sie, ganz erschrocken vor Glück und Respekt, und drückt – woher hat sie plötzlich den Mut? – dem alten vornehmen Mann beinahe kameradschaftlich dankbar die Hand. Immer heimischer, immer selbstsicherer fühlt sie sich in dem heute morgen noch so feindseligen Raum, seit alle Menschen geradezu wetteifern, ihr unvermutete Freude zu bereiten, seit sie sieht, wie voll und vertraulich sich hier flüchtiges Beisammensein ins Gesellige bindet, indes unten in ihrer engen Welt einer dem andern die Butter auf dem Brot neidet und den Ring am Finger. Ganz hingerissen berichtet sie dem Onkel und der Tante von der gütigen Einladung des Generals, aber man läßt ihr nicht viel Zeit zum Gespräch. Zum nächsten Tanz holt sie abermals jener deutsche Ingenieur, quer durch den ganzen Saal schreitet er auf sie zu, durch ihn lernt sie noch einen französischen Arzt kennen, durch den Onkel dessen amerikanischen Freund und eine ganze Reihe anderer Leute, deren Namen sie vor Aufregung und Glück nicht versteht: in zehn Jahren hat sie nicht so viel gütige, höfliche, elegante Menschen um sich gehabt wie seit diesen zwei Stunden. Man fordert sie auf zum Tanz, bietet ihr Zigaretten und Liköre an, lädt sie zu Ausflügen und einer Bergpartie, jeder scheint neugierig, sie kennenlernen zu wollen, und jeder verwöhnt sie durch die hier allen Menschen anscheinend selbstverständliche Liebenswürdigkeit. »Du machst ja Furore, Kind«, flüstert ihr die Tante zu, selber stolz auf den Wirbel, der um ihren Schützling entsteht, und erst ein mühsam verstecktes Gähnen des Onkels mahnt die beiden Frauen, daß der alte Mann allmählich müde geworden ist. Aus Eitelkeit leugnet er zwar die sichtliche Erschöpfung, schließlich gibt er aber nach. »Ja, es ist vielleicht besser, wir ruhen uns alle ausgiebig aus. Nicht zuviel auf einen Hieb. Morgen ist auch wieder ein Tag, und we will make a good job of it.« Einen Blick noch wirft Christine in den zauberischen Saal, lichtspiegelnd aus Kandelabern und elektrischen Kerzen, bebend von Musik und heller Bewegung: wie aus einem Bad gestiegen fühlt sie sich, erneuert und erfrischt, alle Nerven beben ihr vor Freude. Dankbar stützend nimmt sie den Arm des alten Mannes, beugt sich rasch nieder und küßt in unwiderstehlicher Erregung seine zerfaltete Hand.


Und dann im Zimmer allein, staunend, verwirrt, über sich selbst erschreckt und über die Stille, die plötzlich um sie steht: jetzt erst fühlt sie, wie heiß ihr die Haut unter dem lockeren Kleid aufbrennt. Zu eng ist mit einemmal der verschlossene Raum, zu gespannt der aufkochende, erregte Leib unter dem übermächtig erregten Gefühl. Ein Ruck, die Balkontür steht offen und wunderbar braust mit jähem Sturz die Schneekühle über die entblößten Schultern. Jetzt kommt der Ateir, zurück, klar, regelmäßig gut, sie tritt hinaus auf den Balkon und erschauert auf beglückte Art, mit ihrer eigenen heißen Überfülltheit einer so ungeheuren Leere der Landschaft plötzlich gegenüberzustehen und ein kleines irdisches Herz so allein, wild in dies riesige Gewölbe der Nacht pochen zu lassen. Auch hier ist Stille, aber eine mächtigere, elementarischere als die des von Menschenhänden gekellerten Raums, Stille, die nicht bedrückt, sondern auflöst und entspannt. Stumm liegen die vordem leuchtenden Berge jetzt in ihrem eigenen Schatten, gekauerte schwarze Riesenkatzen mit phosphoreszierenden Schneeaugen, und vollkommen atemlos die Luft im opalenen Lichte des fast schon gerundeten Mondes. Wie eine zerbeulte gelbe Perle schwimmt er oben zwischen der diamantenen Streu der Sterne, dünn und ungewiß entschleiert nur sein fahles, kühles Licht die nebelumwogten Konturen des Tales. Nie hat sie etwas derart Mächtiges, sanft die Seele Niederzwingendes gefühlt als diese nicht menschhaft, sondern göttlich schweigende Landschaft, aber alle Erregtheit strömt sacht von ihr ab in diese grundlose Ruhe, und sie horcht, horcht und horcht sich leidenschaftlich hinein in diese Stille, um völlig gefühlshaft in ihr aufzugehen. Da plötzlich – wie aus einem Weltall heraus, rollt ein bronzener Block mächtig hinein in die erfrorene Luft: die Kirchenglocke unten im Tal hat angeschlagen, und aufgeschreckt werfen rechts und links die Felswände den erzenen Ball zurück. Wie selbst vom Klöppel auf das Herz getroffen, schreckt Christine auf und horcht. Abermals schollen ein solcher bronzener Ton in das Nebelmeer hinein, abermals, abermals. Atemlos zählt sie die fallenden Schläge mit: neun, zehn, elf, zwölf: Mitternacht! Ist es möglich? Erst Mitternacht? Nur zwölf Stunden also, daß sie hier angekommen, schüchtern, scheu, verstört, mit einer ganz eingetrockneten, kleinen, armseligen Seele, wirklich nur ein einziger Tag, nein, ein halber Tag? Und zum erstenmal beginnt in diesem Augenblick ein selig aufgewühlter, bis in seine Tiefen erschütterter Mensch zu ahnen, aus welch geheimnisvoll zartem und biegsamen Stoff unsere Seele gewoben ist, daß schon ein einziges Erlebnis vermag, sie ins Unendliche zu erweitern und ein ganzes Weltall in seinem winzigen Räume zu umfassen.

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Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.