X.
Sie legt die Blätter hin und sieht auf. Er ist zurückgekommen und raucht eine Zigarette. »Lies es noch einmal durch.« Sie gehorcht, und erst als sie es noch einmal gelesen hat, fragt er sie: »Ist alles klar und übersichtlich?«
»Ja.«
»Fehlt dir irgend etwas darin?«
»Nein, ich glaube, du hast an alles gedacht.«
»An alles? Nein« – er lächelt –, »etwas habe ich vergessen.«
»Was?«
»Ja, wenn ich das wüßte. Etwas fehlt in jedem Plan. Irgendeine offene Naht ist bei jedem Verbrechen, man weiß nur im voraus nicht, welche. Jeder Verbrecher, so raffiniert er ist, begeht fast immer einen kleinen winzigen Fehler. Er räumt alle seine Papiere weg, nur seinen Paß läßt er liegen; er berechnet alle Widerstände, nur den offenkundigsten und selbstverständlichsten übersieht er. Immer vergißt jeder an etwas. Und wahrscheinlich habe auch ich das wichtigste zu denken vergessen.«
Ihre Stimme ist voll Überraschung. »So glaubst du… du glaubst, daß es nicht gelingen wird …?«
»Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß es schwer ist. Das andere wäre leichter gewesen. Es mißlingt fast immer, wenn man sich auflehnt gegen sein eigenes Gesetz – ich meine nicht die Paragraphen der Juristerei, nicht das Staatsgrundgesetz und die Polizei. Mit dem würde man fertig. Aber jeder hat sein inneres Gesetz: der eine geht nach oben, der andere nach unten, und wer steigen soll, wird steigen, und wer fallen soll, wird fallen. Mir ist bisher noch nichts gelungen. Dir ist bisher noch nichts gelungen, vielleicht ist es schon verschworen, wahrscheinlich sogar, daß wir untergehen müssen. Wenn du mich ehrlich fragst, so sage ich dir, ich glaube nicht, daß ich so einer bin, der einmal ganz glücklich sein wird, vielleicht paßt es auch gar nicht zu mir, ich bin schon zufrieden mit einem Monat, mit einem Jahr, mit zwei Jahren. Wenn wir’s wagen, so denke ich nicht an ein seliges Ende mit weißem Haar und an ein trautes Heim im Grünen, ich denke nur an ein paar Wochen, ein paar Monate, ein paar Jahre über den Revolver hinaus, den wir nehmen wollten.«
Sie blickt ihn ruhig an. »Ich danke dir, Ferdinand, daß du so aufrichtig bist. Hättest du begeistert geredet, ich wäre mißtrauisch geworden gegen dich. Ich glaube auch nicht daran, daß es uns lange gelingt. Immer wenn ich unterwegs war, hat’s mich zurückgerissen. Wahrscheinlich ist es vergeblich, was wir tun, und es hat keinen Sinn. Aber es nicht zu tun und so weiter zu leben, wäre noch sinnloser. Ich sehe nichts Besseres. Also – du kannst auf mich zählen.«
Er blickt sie an, hell, klar, aber ohne Heiterkeit. »Unwiderruflich?«
»Ja.«
»Und Mittwoch, den 10., um sechs Uhr?«
Sie hält seinen Blick aus und hält ihm die Hand entgegen.
»Ja.«
vorheriges Kapitel
IX.
nachfolgendes Kapitel
Personen der Geschichte
Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.