Moskau: Der Rote Platz
So hat er immer geheißen, seit tausend Jahren, dieser rechteckige Platz, das Herz der Stadt Moskau, um der roten, kunstvoll geschatteten Kremlmauer willen, an deren Länge er sich lehnt. Zur Linken zackt sich die breite Fassade der Handelshäuser, das alte Emporium der Kaufmannschaft, empor; hier standen einst die zahllosen Buden der Kaufleute, die Moskaus Reichtum und Ruhm gemacht. Zur Rechten schützt ihn ein weites, wölbiges Tor, zur Linken, an seiner Schmalseite, steigt farbig, mit bunten Steinen und glitzernden Tulpendächern, die fünftürmige Wassilij-Blaschenni-Kathedrale auf, ein Wunderbau ohnegleichen, morgenländisch phantastisch, abendländisch architektural, die kühnste Vermählung byzantinischer, italienischer, urrussischer und manchmal auch buddhistisch-pagodischer Formen. Sie ist das kostbarste Kleinod der Stadt, und nichts rühmt sie mehr als die finstere Legende, daß Iwan der Schreckliche dem Baumeister zu Dank für seine Meisterschaft die Augen ausstechen ließ, damit er keine zweite ähnliche Kirche in der Welt bauen könnte. Dieser Platz war von jeher das Herz Rußlands. Hier querten die Handelsstraßen von Normannenland und Ingermanland nach Byzanz, hier brachten vom Osten die Händler Pelzwerk und Getier. Hier zäumten Hunnen und Tataren auf der Heerschau die Rosse, hier stiegen in feierlichem Aufzug die ersten Zaren zur Krönung in den Kreml empor. Noch sieht man den runden Steinring, wo die Häupter der aufständischen Strelitzen abgeschlagen wurden und die Leiche des falschen Demetrius blutig lag; und gerade hier, wo das Zarentum aus dem engen Ring einer Stadt, aus dem jämmerlichen Kreis einer Binnenherrschaft sich auswuchs und entfaltete zum weitesten Reich, das jemals die Welt gekannt, – hier veranstaltet in beabsichtigter und wissender Symbolik die Sowjetregierung ihre Paraden und Aufzüge. Hier stand die Tribüne, wo Trotzki klirrenden Worts die Bauern und Soldaten aufrief zum Verzweiflungskampfe, hier liegen die Führer und Vorkämpfer des Bolschewismus und die Arbeiter, die für ihn gefallen, in den »Brüdergräbern« längs des Kremls, und hier ruht in eigenem Gebäude, dem Herzpunkt dieses Platzes, das Herz der russischen Revolution, die Leiche Lenins.
Bei Tag brandet der Platz von Menschen und Wagen, man steht und kann sich nicht sattsehen an diesem glitzernden, mosaikhaften Bild der Kathedrale, der strengen Mauern des Kremls, sich nicht entziehen der erschütternd eindringlichen Gräberreihe, die hier mitten in der Stadt als Wahrzeichen des Dankes und des Sieges großartig hingestellt ist. Während man in Wien und Berlin zu den Gräbern der Märzgefallenen stundenweit hinauspilgern muß und in Paris vergebens die Grabplätze der Volksführer sucht, sind hier und ebenso in Leningrad statt irgendeines steinernen Baues oder pathetischer Denkmäler die Gräber selbst in die Stadt gestellt: der wuchtigste, großartigste Aufruf und Dank, den man sich erdenken kann. Wie vordem die Basilika und Kathedrale, bilden sie nun das eigentliche religiöse Zentrum der Stadt, aber frei aufgeschlagen unter dem Himmel, ohne jedes Pathos und jeden Prunk. Dieser geniale Sinn für Regie waltet überall in der neuen russischen Revolution. Zwanghaft muß man im Foyer eines Theaters, in jedem Bahnhofe, in jeder Wartehalle in Plastik oder Photographie das eiserne Antlitz Lenins in sich einfühlen; Lenin, wie er spricht, vorstoßend die Hand wie das Wort, zusammengeballte Energie, oder präsidierend in einer entscheidenden Sitzung, oder im schlichten Rock mit der Bauernkappe, heiter und lachend unter den Helfern. Überall, an jeder Stelle und jedem Ort, durch den roten Stab des Polizisten, durch die rote Mütze der Tramwaykondukteure, durch das überall eingemeißelte Zeichen der Sichel wird man erinnert an die neue Zeit, aber nirgends großartiger und überwältigender als an diesem Platze. Denn selbst wenn die Schatten alle Konturen verwischen, das Grab Lenins nur wie ein schwarzer Stein in dem ungeheuren leeren Dunkel einer Septembernacht steht, dann sieht man noch hoch oben auf der einstigen Residenz der Zaren hell und glühend die rote Fahne des Sowjet sich bauschen. Mit einem genialen Kunstgriff ist von unten her dieser purpurn wogende Stoff bestrahlt, so daß man inmitten des ungeheuren Nachtdunkels nur die rote Flamme sieht, diese rote Flamme, die leuchtet, hoch über dem leeren Platz, die Gräber, die Burgen und Handelshallen und weithin über Moskau und die ganze russische Welt, – ein Regieeinfall scheinbar nur, aber gleichzeitig mehr: ein Fanal in die neue Zeit, ein grandios ersonnenes Symbol.
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Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.