Tolstoifeier
Das große Theater in Moskau, gewiß das weiteste und außerdem auch eines der schönsten der Welt, riesigen Raum ohne kolossalische Geste bemeisternd, diskret in Tönung, blaßrot mit gespartem Gold – das Ideal einer Festbühne. Im Parkett und auf den Galerien viertausend Personen (Rußland denkt und feiert in anderen Dimensionen als wir) eine geduldig wartende Menge. Um 6 Uhr soll die Feier beginnen, weshalb sie selbstverständlich um 7 Uhr beginnt, ohne daß ein einziges Scharren, eine einzige Unruhe sich regte. Auf der Bühne im runden Oval ein Tisch für das Komitee, in der Mitte Lunatscharski, der Minister und Gebieter der Kunstwelt, straffes energisch geballtes Gesicht über gesunden, grobgehauenen Schultern, neben ihm die Kamenewa, die Schwester Trotzkis, Leiterin der Kulturabteilung, damenhaft und diskret mit einer sehr sanften und ruhigen Stimme, deren Musikalität erst bei der Rede fühlbar wird. Dann der Sohn Tolstois, Sergei, ein stiller grauer Herr, eher Masaryk ähnlich als seinem Vater, dann Delegierte aus allen Reichen und Korporationen des Landes und die ausländischen Gäste.
Als erster tritt Lunatscharski an die Tribüne und spricht (frei wie jeder in Rußland) anderthalb Stunden lang mit der dramatischen Geschultheit eines Agitators. Er trennt wie mit der Messerschneide die Lehre Tolstois vom Dogma des Bolschewismus. Ich kann seiner russischen Rede natürlich nicht folgen, aber ich sehe an seinen hart taktierenden, energisch zustoßenden Fäusten, wie er das Rechts vom Links entschlossen teilt und damit gleich vom Anfang an wie ein Standbild die Stellung der Regierung vor das riesig aufragende Bildnis Tolstois setzt.
Nach ihm spricht Professor Sakulin für die Akademie, ein schöner, würdeeinflößender Graubart, gekleidet in die alte russische Bluse, dann kommen wir an die Reihe – eine schwere Aufgabe für uns, die wir vom Politischen her nicht geschult sind, mit sechs Scheinwerfern in den Pupillen, einem Mikrophon von der Lippe und einem kurbelnden Kinematographen knapp an der Schulter, vor viertausend Personen zu sprechen. Aber wie hilft einem dieses Publikum mit seiner wunderbar lauschenden unvergleichlichen Disziplin, mit dieser immer großartig wartenden, ewig neuen russischen Geduld; schon ist es zwölf Uhr, und seit sechs Uhr sitzen diese Menschen da, nur ab und zu zwischen den Reden durch Musik erfrischt, und keiner der Unersättlichen denkt an Fortgehen und rührt sich von der Stelle – Intellektuelle, Arbeiter, Soldaten, eine einzige dankbar horchende, aufnehmende, das Wort ehrfürchtig in sich eintrinkende Masse.
Am nächsten Tag dann Eröffnung des Tolstoi-Museums und des Tolstoi-Hauses, beide das Angedenken dieses Menschen mit fünfzigtausend Bildern und Erinnerungen noch dokumentarischer vergegenwärtigend als Weimar jenes Goethes. Mit tausend kleinen Nägeln wird seine Physiognomie dem Gedächtnis unverrückbar eingehämmert, man sieht Tolstoi zu Pferde, im Bett, bei der Arbeit, mit der Sichel, beim Spiel und am Pfluge, auf Reisen und daheim mit Kindern und Enkeln. Man sieht ihn als Knaben, als jungen Mann, als Soldaten, als Greis und Prophet, und nach zwei Stunden dieses Schauens kennt man keinen seiner persönlichen Bekannten in seiner physischen Form so unvergeßlich wie ihn. Mir persönlich machten zwei Kleinigkeiten den stärksten Eindruck: in einer Glasvitrine ein schlichter grober Strick mit einem Brief dazu, von einer fremden Frau ihm zugeschickt, die das Weltverdüsternde und ewig Klagende seiner Bücher nicht ertragen konnte und ihm russisch konsequent diesen Strick ins Haus sandte, er sollte nicht länger sich selbst und damit die Menschheit mit seiner ewigen Unzufriedenheit und Empörung quälen und lieber rasch mit sich ein Ende machen; und ein zweites solches erschütterndes Lebensdokument, ein gestempeltes amtliches Papier, ein Frachtbrief, peinlich, sorglich ausgefüllt. Adressat: Familie Tolstoi. Beschreibung der Verpackung: Kiste. Inhalt: Eine Leiche. So hat das offizielle Rußland die welthistorische Überführung der Leiche Leo Tolstois von seinem Sterbeort Astapowo zur letzten Heimkehr nach Jasnaja Poljana verewigt. Grausame Ironie – die Nichtigkeit alles Geistes vor dem amtlichen Blick, erschütternd durch seine Stupidität; das phantastischste Denkmal unseres irrsinnig wütenden Bürokratismus, das ich jemals gesehen.
Aber all dies ist nur Vorspiel und Vorklang, denn nicht in Rede und Schrift läßt sich die Erinnerung dieses Lebensbildes vollkommen erfassen, nicht in Photographien und Phonographen, nicht in künstlich geräumten und geordneten Museen, sondern erst am wahren Orte, wo er wurzelte, wo er geboren ward, wo er am längsten lebte und am meisten litt: in seinem Hause in Jasnaja Poljana.
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Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.