Der Kampf gegen den Haß


Dieser Aufsatz »Au-dessus de la Mêlée« war der erste Axtschlag im wild aufgewucherten Walde des Hasses: dröhnendes Echo donnert von allen Seiten, es braust unwillig in den Blättern. Aber der Entschlossene läßt nicht ab: er will in das ungeheuere und gefährliche Dunkel eine Lichtung roden, durch die ein paar Sonnenstrahlen der Vernunft in die stickige Atmosphäre hereinschimmern können. Seine nächsten Aufsätze wollen Klarheit schaffen, einen hellen, reinen, fruchtbaren Raum; und vor allem wollen die schönen Aufsätze »Inter arma Caritas« (30. Oktober 1914), »Les Idoles« (4. Dezember 1914), »Notre prochain, l’ennemi« (15. Mai 1915), »Le meurtre des élites« (14. Juni 1915) den Schweigenden eine Stimme geben: »Helfen wir den Opfern! Freilich, viel vermögen wir nicht. Im ewigen Kampfe zwischen dem Guten und dem Bösen sind die Aussichten ungleich: man braucht ein Jahrhundert, um das aufzubauen, was ein Tag zerstört. Jedoch, die tolle Wut dauert nur einen Tag und die geduldige Arbeit ist das tägliche Brot aller Tage. Sie unterbricht sich selbst nicht in einer Stunde des Weltunterganges.«


Nun hat der Dichter klar seine Aufgabe erkannt: den Krieg zu bekämpfen wäre sinnlos. Vernunft bleibt machtlos gegen Elemente. Aber im Kriege das zu bekämpfen, was die Leidenschaften der Menschen wissend dem Entsetzlichen hinzutun, die geistige Vergiftung der Waffen, scheint ihm seine vorbestimmte Pflicht. Das Furchtbarste gerade dieses Krieges, das, was ihn so von allen früheren unterscheidet, ist seine bewußte Vergeistigung, der Versuch, ein Geschehnis, das vergangene Zeiten einfach als naturhaftes Verhängnis wie Pest und Seuche hinnehmen, heroisch in eine »große Zeit« zu verklären, der Gewalt eine Moral, der Vernichtung eine Ethik zu unterstellen, einen Massenkampf der Völker gleichzeitig in einen Massenhaß der Individuen zu steigern. Nicht den Krieg also bekämpft Rolland (wie vielfach vermeint wurde), er bekämpft die Ideologie des Krieges, die künstliche Vergöttlichung des ewig Bestialischen; und er bekämpft im einzelnen die träge, leichtfertige Hingabe an eine kollektive und bloß für Kriegsdauer konstruierte Ethik, die Flucht vor dem Gewissen in die Massenlüge, die Suspendierung der inneren Freiheit auf Kriegsdauer.


Nicht gegen die Massen, gegen die Völker wendet sich also sein Wort. Sie sind Unwissende, Belogene, arme Getriebene, denen man durch Lüge den Haß verständlich gemacht hat – »il est si commode de haïr sans comprendre« – »es ist so bequem zu hassen, wenn man nicht versteht«. Alle Schuld liegt bei den Treibern und bei den Fabrikanten der Lüge, bei den Intellektuellen. Sie sind schuldig, und siebenfach schuldig, weil sie, dank ihrer Bildung und ihrer Erfahrung, die Wahrheit wissen mußten und sie verleugnen, weil sie aus Schwäche und vielfach aus Berechnung sich der banalen Meinung angeschlossen haben, statt kraft der ihnen gegebenen Autorität die Meinung zu führen. Bewußt haben sie statt des einst vertretenen Ideals der Menschlichkeit und Völkereintracht spartanische und homerische Heldenidole rekonstruiert, die in unsere Zeit so wenig passen, wie Lanzen und Rüstungen zwischen Maschinengewehre. Und vor allem, sie haben den Haß, der allen Großen aller Zeiten eine verächtliche und niedere Begleiterscheinung des Krieges war, den die Geistigen durch Ekel, die Kämpfenden durch Ritterlichkeit von sich wiesen, diesen Haß haben sie nicht nur mit allen Argumenten der Logik, der Wissenschaft, der Dichtung verteidigt, sie haben ihn sogar (mit Suspendierung der christlichen Evangelienworte) zur sittlichen Pflicht erhoben und jeden, der sich gegen die kollektive Gehässigkeit wehrte, zum Verräter am Vaterland gestempelt. Gegen diese Feinde des freien Geistes hebt Rolland sein Wort: »Nicht nur, daß sie nichts taten, um das wechselseitige Mißverstehen zu vermindern und den Haß zu begrenzen, im Gegenteil: mit wenigen Ausnahmen haben sie alles getan, ihn auszubreiten und zu vergiften. Zum großen Teil war dieser Krieg ihr Krieg. Mit ihren mörderischen Ideologien haben sie Tausende von Gehirnen verführt und in frevelhafter Sicherheit ihrer Wahrheit, unbelehrbar in ihrem Stolze, Millionen fremder Existenzen für die Phantome ihres Geistes in den Tod getrieben.« Schuldig ist nur der Wissende oder der, dem die Möglichkeit gegeben war, wissend zu sein, der aber aus Trägheit der Vernunft und des Herzens, aus falscher Ruhmsucht oder Feigheit, aus Vorteilsgründen oder aus Schwäche sich einer Lüge hingegeben hat.


Denn der Haß der Intellektuellen war eine Lüge. Wäre er eine Wahrheit, eine Leidenschaft gewesen, so hätte er die Schwätzer das Wort wegwerfen und eine Waffe ergreifen lassen müssen. Haß und Liebe kann nur Menschen gelten, nicht Begriffen, nicht Ideen, deshalb war der Versuch, Haß zwischen Millionen unbekannter Individuen zu säen und ihn »verewigen« zu wollen, ein Verbrechen gegen den Geist so sehr, wie gegen das Blut. Deutschland zu verallgemeinern in einen einzigen Gegenstand des Hasses, Treibende und Getriebene in eine seelische Verfassung, war bewußte Fälschung. Es gab nur eine Gemeinsamkeit: die der Wahrhaftigkeit und die der Lügner, die der Menschen des Gewissens und die der Phrase. Und so wie Rolland im Johann Christof das wahre Frankreich vom falschen, das alte Deutschland vom neuen sonderte, um die allmenschliche Gemeinsamkeit zu zeigen, so unternimmt er mitten im Kriege den Versuch, die erschreckende Ähnlichkeit der Kriegsvergifter in beiden Lagern an den Pranger zu stellen und die heroische Einsamkeit der freien Naturen in beiden Ländern zu feiern, um – gemäß jenem Worte Tolstois – der Pflicht des Dichters gerecht zu werden, der »Bindende zwischen den Menschen« zu sein. Die »cerveaux enchainés«, die »gefesselten Gehirne« seiner Komödie Liluli, tanzen in verschiedenen Uniformen hüben und drüben unter der Peitsche des Negers Patriotismus den gleichen indianischen Kriegstanz: die deutschen Professoren und die der Sorbonne haben eine erschreckende Ähnlichkeit in ihren logischen Sprüngen und die Haßgesänge eine groteske Gleichheit des Rhythmus und der Konstruktion.


Das Gemeinsame aber, das Rolland zeigen will, soll zugleich eine Tröstung sein. Die Worte der menschlichen Erhebung sind freilich schwerer zu erspähen, als jene des Hasses, denn die freie Meinung muß durch einen Knebel sprechen, während die Lüge durch die Megaphone der Zeitungen dröhnt. Mühsam muß man die Wahrheit und die Wahrhaftigen suchen, weil der Staat sie versteckt, aber die beharrlich spürende Seele findet sie bei allen Völkern und Nationen. An Beispielen, Büchern und Menschen, deutschen wie französischen, beweist Rolland in diesen Aufsätzen, daß hüben und drüben, sogar oder gerade in den Schützengräben, ganz brüderliches Empfinden bei Tausenden und Abertausenden herrscht. Er veröffentlicht Briefe deutscher Soldaten neben denen französischer: sie sind in der gleichen menschlichen Sprache geschrieben. Er erzählt von der Feindeshilfe der Frauen und siehe: es ist die gleiche Organisation des Herzens inmitten der grausamen der Waffen. Er publiziert Gedichte von hüben und drüben: sie vereinen sich im Gefühl. Wie er einst in seinen »Biographien der Helden« den Leidenden der Welt zeigen wollte, daß sie »nicht allein seien, sondern die Größten aller Zeiten mit ihnen«, so sucht er denen, die inmitten der Tollheit sich in manchen Stunden selbst für Ausgestoßene halten, weil sie nichts von den gehässigen Empfindungen der Zeitungen und Professoren in sich fühlen, ihre unbekannten Brüder im Schweigen bekannt zu machen – wieder bemüht, die unsichtbare Gemeinde der freien Seelen zu vereinen. »Das gleiche Glück«, schreibt er, »das wir in diesen zitternden Märztagen beim Anblick der ersten aufschießenden Blumen empfinden, ich fühle es auch, wenn ich die zarten und kraftvollen Blüten menschlichen Mitleids die Eiskruste des Hasses Europas durchdringen fühle. Sie bezeugen, daß die Lebenswärme fortdauert und nichts sie zerstören kann.« Unerschütterlich setzt er »l’humble pèlerinage«, die »demütige Pilgerschaft« fort, bemüht, »unter den Ruinen die letzten Herzen zu entdecken, die dem alten Ideal der menschlichen Brüderschaft getreu blieben. Welche melancholische Freude, sie zu entdecken und ihnen zu Hilfe zu kommen.« Und um dieses Trostes, um dieser Hoffnung willen gibt er sogar dem Krieg, dem seit seiner frühesten Kindheit gefürchteten und gehaßten, einen neuen Sinn: »Der Krieg hat den schmerzvollen Vorteil gehabt, die Geister, die sich dem nationalen Hasse verweigern, auf der ganzen Welt zu vereinigen. Er hat ihre Kraft gestählt, zu einem ehernen Block, ihre Willen zusammengeschlossen. Wie doch jene sich täuschen, die meinen, die Ideen der Brüderlichkeit seien erstickt… Ich zweifle nicht im mindesten an der zukünftigen Einheit der europäischen Gemeinschaft. Sie wird wahr werden. Und der Krieg von heute ist nur ihre blutige Taufe.«


Samariter der Seelen, sucht er so die Verzagten mit Hoffnung, dem Brot des Lebens, zu trösten. Vielleicht über seine eigenste innerste Meinung hinaus kündet er seine Zuversicht: und nur wer den Hunger der Zahllosen, in den Kerker eines Vaterlandes, hinter die Gitter der Zensur Gesperrten kannte, wird ermessen, was ihnen diese Manifeste des Glaubens, dies endlich vernommene Wort ohne Haß, diese Botschaft der Brüderlichkeit damals bedeutet haben.

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Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.