Die Freunde


Eine Leere war nach den ersten Worten um den Mutigen entstanden. Es bestand – wie Verhaeren so schön sagte – »Gefahr, ihn zu heben«, und die meisten scheuten die Gefahr. Älteste Freunde, die von Jugend auf sein Werk und seinen Charakter kannten, ließen ihn im Stich, leise rückten die Vorsichtigen von ihm ab, die Zeitungen, die Verleger versagten ihm die Gastlichkeit – keiner, oder fast keiner gerade der ältesten Freunde wagte ihm offen zur Seite zu stehen. So schien Rolland einen Augenblick allein. Aber – wie er im Johann Christof sagt – »eine große Seele ist niemals allein. So verlassen sie von allen Freunden sein mag, schließlich schafft sie sich sie selbst und strahlt um sich einen Kreis jener Liebe, deren sie selber voll ist«.


Die Not, die Goldprobe der Gewissen, hat ihm Freunde genommen, aber auch Freunde gegeben. Freilich, man hört ihre Stimmen kaum im Gelärm der Gegner. Denn die Kriegstreiber haben alle öffentliche Macht in ihren Händen, sie brüllen ihren Haß durch die Megaphone der Tageszeitungen, die Freunde können nur behutsam ein paar abgedämpfte Worte in kleinen Blättchen der Zensur abringen. Die Feinde sind eine kompakte Masse, wie ein Schwall stürzen sie nieder (um ebenso auch wieder in den Morast des Vergessens zu versickern), die Freunde kristallisieren sich langsam und verborgen um seine Idee, aber sie dauern und werden immer klarer an seinem Element. Die Feinde sind ein Rudel, ein Regiment, blind hinstürmend auf eine Parole, die Freunde eine Gemeinschaft, still wirkend und nur gebunden durch Liebe.


Die Freunde in Paris haben das schwerste Los. Sie können nur unsichtbar, gleichsam durch magische Zeichen sich ihm verbinden: die Hälfte ihrer Worte und die Hälfte der seinen an sie verliert sich an der Grenze. Aus belagerter Festung grüßen sie den Befreier, der ihre Ideen, ihre verschlossenen und verbotenen, frei vor der Welt sagt, und sie können die Ideen nur verteidigen, indem sie ihn selbst verteidigen. Amedé Dunois, Fernand Deprès, Georges Pioch, Renaitour, Rouanet, Jacques Mesnil, Gaston Thiesson, Marcel Martinet, Severine haben mutig dem Verleumdeten in seinem Vaterlande zur Seite gestanden, eine tapfere Frau, Marcelle Capy, hob die Fahne und nannte ihr Buch »Une voix de femme dans la mêlée«. Durch die unendlichen Wogen des Blutmeeres getrennt, blickten sie zu ihm wie zu einem fernen Leuchtfeuer auf sicherem Felsen und deuteten ihren Brüdern das verheißungsvolle Licht.


In Genf aber bildete sich eine kleine Gruppe junger Dichter um ihn, die seine Schüler waren und seine Freunde wurden, die Kraft gewannen aus seiner Kraft. Der erste unter ihnen, P. I. Jouve, der Dichter der pathetischen Versbände »Vous êtes des hommes« und »Danse des morts«, glühend vor Zorn und vor Ekstase der Güte, leidend bis in den letzten Nerv an der Ungerechtigkeit der Welt, ein auferstandener Olivier, paraphrasiert in Gedichten den Haß gegen die Gewalt. René Arcos, der gleich ihm den Krieg gesehen in seinem Schauer und ihn haßte gleich seinem Freunde, klarer in seiner Umfassung des dramatischen Augenblicks, besonnener, aber rein und gütig wie Jouve, erhebt das Bildnis Europas; Charles Baudouin die ewige Güte; Frans Masereel, der belgische Holzschneider, gräbt in Platten seine allmenschliche Klage, grandioser Bildner der Zeit, menschlicher in seinen gezeichneten Protesten als alle Bücher und Bilder; Guilbeaux, der Fanatiker des sozialen Umschwungs, Kampfhahn gegen jede Macht, gründet eine Monatsschrift »Demain«, die einzig wahre europäische, ehe sie ganz im russischen Gedanken unterging; Jean Debrit, in seiner »Feuille«, kämpft gegen die Parteilichkeit der romanischen Presse und gegen den Krieg. Claude de Maguet begründet die »Tablettes«, die durch kühne Beiträge und die Zeichnungen Masereels das lebendigste Blatt werden, das die Schweiz gesehen. Eine kleine Insel der Unabhängigkeit entsteht, der alle Windrichtungen der Welt manchmal Grüße zuwehen aus der Ferne: hier allein spürte man europäische Luft inmitten des Blutdunstes.


Das Wunderbarste dieser Sphäre aber war, daß dank Rolland auch die feindlichen Brüder von dieser geistigen Gemeinschaft nicht ausgeschlossen waren. Während sonst jeder, angesteckt von der Hysterie des Massenhasses oder aus Furcht vor Verdächtigungen, selbst seinen vormals brüderlichen Freunden aus Feindesland wie Pestkranken auswich, wenn er ihnen zufällig auf der Gasse in neutralem Lande begegnete, während Verwandte nicht wagten, einander brieflich nach Leben und Sterben des eigenen Blutes zu fragen, hat Rolland nicht einen Augenblick seine deutschen Freunde verleugnet. Im Gegenteil, er hat die Treuen unter ihnen nie mehr geliebt als in der Zeit, da es gefährlich war, sie zu lieben. Öffentlich hat er sich zu ihnen bekannt, ihnen Hand und Brief geboten; seine Worte des Bekenntnisses zu ihnen werden dauern: »Ja, ich habe deutsche Freunde wie ich französische, englische, italienische Freunde aus allen Rassen habe. Sie sind mein Reichtum, ich bin darauf stolz und ich bewahre ihn mir. Hat man das Glück, in der Welt loyalen Seelen begegnet zu sein, mit denen man seine intimsten Gedanken teilt, mit denen einen ein brüderliches Band verknüpft, so ist dieses Band heilig und gerade die Stunde der Probe darf es nicht zerreißen. Wie feige wäre der, der sich nicht zu ihnen bekennen würde, gehorsam dem frechen Verlangen einer öffentlichen Meinung, die kein Recht hat über unser Herz… Wie schmerzvoll, ja wie tragisch solche Freundschaften in solchen Augenblicken sind, werden später einmal Briefe zeigen. Aber gerade dank ihrer konnten wir uns gegen den Haß verteidigen, der noch mörderischer ist als der Krieg, denn er ist eine Vergiftung seiner Wunden und schädigt ebenso den Getroffenen wie jenen, der ihn entsendet.«


Unendlich ist, was Rolland seinen Freunden und den zahllosen unsichtbaren Gefährten im Dunkel mit dieser seiner mutigen und freien Haltung gegeben hat. Ein Beispiel all jenen vorerst, die zwar gleicher Gesinnung waren, aber verstreut irgendwo im Dunkel, die erst jenen Kristallisationspunkt brauchten, um ihre Seelen zu formen und rein zu bilden. Gerade für die noch nicht Selbstsichern bedeutete diese vorbildliche Existenz eine wunderbare Befeuerung durch die aufrechte Haltung, die jeden Jüngeren beschämte; alle waren wir stärker, freier, wahrer, vorurteilsloser in seiner Nähe; das Menschliche, geläutert von seiner Glut, schlug als Flamme empor, und was uns band, war mehr als der Zufall gleicher Gesinnung, es war eine leidenschaftliche Erhobenheit, manchmal gesteigert zu einem Fanatismus der Verbrüderung. Daß wir gegen die Meinung, gegen das Gesetz aller Staaten an einem Tisch saßen, Wort und Vertrauen arglos tauschten, daß unsere Kameradschaft aufgetan war aller Verdächtigung, machte sie nur glühender, und in manchen – unvergeßlichen – Stunden empfanden wir in einer reinen Trunkenheit das unerhört Einzige unserer Freundschaft. Wir zwei Dutzend Menschen in der Schweiz, Franzosen, Deutsche, Russen, Österreicher, Italiener, gehörten zu den ganz wenigen unter den hundert Millionen, die sich hell und ohne Haß ins Auge sahen, die innersten Gedanken tauschten, – wir, die kleine Schar in seinem Schatten, waren damals Europa, unsere Einheit – ein Staubkorn im Weltsturm – vielleicht das Samenkorn künftiger Verbrüderungen. Wie stark, wie beglückt haben wir das in manchen Stunden empfunden und wie dankbar vor allem! Denn ohne ihn, ohne das Genie seiner Freundschaft, das Bindende seiner Natur, das mit zarter, wissender und gütiger Hand uns verknüpfte, hätten wir nie die Freiheit, die Sicherheit unseres Wesens gefunden. Jeder hebte ihn anders, und alle verehrten ihn gleich: die Franzosen den reinsten geistigen Ausdruck ihrer Heimat, wir den wunderbaren Gegenpol unserer besten Welt. In diesem Kreise der Menschen um ihn war ein Gefühl der Gemeinschaft wie in jeder Gemeinde einer beginnenden Religion; gerade die Feindschaft unserer Nationen, das Bewußtsein der Gefahr, drängte uns in einen Überschwang der Freundschaft, und das Vorbild des mutigsten und freiesten Menschen befeuerte das Beste unserer Menschlichkeit. In seiner Nähe fühlte man sich im Herzen des wahren Europa: und wer ihm nahte und den Kern seines Wesens berührte, hatte wie in der alten Sage neue Kraft für das Ringen mit Herkules, dem antiken Symbol der brutalen Gewalt.

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Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.