Der Dramatiker


Die unleugbare und schon historische Tatsache, daß hier ein dramatisches Schaffen, äußerlich so umfangreich wie das Shakespeares, Schillers oder Hebbels, ein Werk von stellenweise hinreißender bühnenmäßiger Kraft (wie es die Aufführungen Rollandscher Dramen in Deutschland jetzt erwiesen haben) durch zwanzig Jahre völlig erfolglos und sogar unbemerkt blieb, deutet auf tiefere als bloß zufällige Ursachen. Zwischen einem Werk und seiner Wirkung waltet immer die geheimnisvolle Atmosphäre des Zeitlichen, bald mit gesteigerter Geschwindigkeit das Schicksal des Werkes hinreißend, daß es wie ein Funke ins Pulverfaß gehäufte Empfindung aufsprengt, bald mit vielfältigem Hemmnis den Fortlauf verhindernd: nie spiegelt darum ein Werk allein eine Epoche, sondern einzig das Werk in Gemeinsamkeit mit seiner Wirkung.


Irgend etwas im tiefsten Wesen der Stücke Romain Rollands muß also der Epoche widerstrebt haben, und tatsächlich sind seine Stücke in einem bewußten und fast feindseligen Gegensatz zur herrschenden literarischen Mode entstanden. Der Naturalismus, die Darstellung der Wirklichkeit, beherrscht die Zeit und bedrückt sie zugleich, denn er führt bewußt zurück in das Enge, das Kleine, das Alltägliche des Lebens. Rolland aber will das Große, die Dynamik der ewigen Ideen hoch über den schwankenden Tatsachen, er begehrt Aufschwung, beflügelte Freiheit des Gefühls, aufspringende Energie, er ist Romantiker und Idealist: nicht die Mächte des Lebens, die Armut, die Gewalt, die Leidenschaft, scheinen ihm das Darstellungswürdige, sondern immer der Geist, der sie überwindet, die Idee, die den Tag mit Ewigkeit überhöht. Suchen die andern das Tägliche mit der äußersten Wahrhaftigkeit darzustellen, so er das Seltene, das Sublime, das Heroische, das Korn Ewigkeit, das aus den Himmeln in die irdische Saat fällt. Ihn lockt nicht das Leben wie es ist, sondern das Leben, wie der Geist und der Wille es sich aus ihrer Freiheit selbst gestalten.


Nie hat Rolland verschwiegen, wer im letzten Sinn Pate dieser seiner Tragödien gewesen ist. Shakespeare war nur der feurige Dornbusch, die erste Botschaft, er war der Befeuernde, der Anreizende, der Unerreichbare: ihm dankt er bloß den Elan, die Glut, stellenweise auch die dialektische Kraft. Aber für die geistige Form bleibt er einem andern Meister verbunden, der als Dramatiker noch heute ein fast Unbekannter ist, Ernest Renan, dem Dichter der »Drames philosophiques«, von denen besonders die »Abbesse de Jouarre« und »Le Prêtre de Nemi« auf den jungen Dichter entscheidende Wirkung geübt haben. Die Art, geistige Probleme statt im Aufsatz oder in der platonischen Form des Dialogs lieber in dramatischer Transkription auszuarbeiten, die tief innen ruhende Gerechtigkeit und gleichzeitig die immer hoch den Konflikt überschwebende Klarheit, das ist Erbe Renans (der noch den jungen Studenten gütig und belehrend empfing). Nur ist der ein wenig ironischen und selbst maliziösen Skepsis des großen Weisen, für dessen überlegenes Gefühl alles Tun der Menschen ein ewig erneuerter Wahn blieb, ein ganz neues Element beigemengt, die Feurigkeit eines noch ungebrochenen Idealismus. Seltsames Widerspiel: der Gläubigste aller borgt vom Meister des vorsichtigen Zweifels die künstlerische Form. Und sofort wird, was bei Renan retardierend, abspannend wirkte, tatkräftig und begeisternd: während jener die Legenden entblättert, selbst die heiligsten, um einer weisen, aber auch lauen Wahrheit willen, sucht Rolland durch sein revolutionäres Temperament eine neue Legende zu schaffen, ein anderes Heldentum, ein neues Pathos des Gewissens.


Dieses ideologische Gerüst ist in allen Dramen Rollands immer unverkennbar geblieben: keine Bewegtheit des Szenischen, keine Farbigkeit des kulturellen Bildes kann darüber hinwegtäuschen, daß nicht vom Gefühle aus und nicht vom Menschen, sondern vom Geiste und von Ideen aus hier eine Problematik der Geschehnisse in Bewegung gesetzt wird, ja selbst die historischen Figuren, wie Robespierre, Danton, St. Just, Desmoulins, sind mehr Formulierungen als Charaktere. Aber dennoch ist es nicht die Art des Dramatischen, sondern die Art seiner Probleme, die solange seine Bühnenwerke der Zeit entfremdet hat. Auch Ibsen (der damals die Weltbühne erobert) ist ein Theoretiker und sogar viel mehr, unendlich viel mehr Kalkulator und Mathematiker; er und ebenso Strindberg wollen nicht nur Gleichungen der elementaren Kräfte aufstellen, sondern ihre Formulierungen noch beweisen. Sie gehen weit hinaus in ihrer Vergeistigung über Rolland, indem sie Ideen bewußt propagieren wollen, indes Rolland sie nur in der Fülle ihres Widerspruchs sich entfalten läßt: Jene wollen zu sich überzeugen, Rolland nur durch die jeder Idee innewohnende Schwungkraft die Menschen erheben; jene zielen auf bestimmte Wirkung der Bühne, Rolland auf eine allgemeine: auf Enthusiasmus. Für Ibsen ebenso wie für die französische Dramatik bleibt im Sinne bürgerlicher Welt der Konflikt zwischen Mann und Frau noch immer der Drehpunkt, für Strindberg der Mythos der Polarität im Geschlecht; die Lüge, gegen die sie kämpfen, ist eine konventionelle, eine Gesellschaftslüge. Deshalb auch das Interesse, das unser Theater – als geistige Arena der bürgerlichen Sphäre – selbst der mathematischen Nüchternheit Ibsens, der grausamen Analytik Strindbergs und wie erst den zahllosen Explosionstechnikern entgegenbrachte: denn dies Theater war immer noch Welt von ihrer Welt.


Die Problematik der Stücke Rollands war aber von allem Anfang an verurteilt, bei einem bürgerlichen Publikum Gleichgültigkeit zu finden, weil sie eine politische, eine ideelle, eine heroische, eine revolutionäre Problematik war. Sein überströmendes Gefühl überflutet die kleinen Spannungen des Geschlechts; das Theater Romain Rollands ist – und das bleibt immer tödlich bei modernem Publikum – ein unerotisches. Er prägt einen neuen Typus, das politische Drama im Sinne jenes Wortes Napoleons zu Goethe in Erfurt, da er ihm sagte: »La politique, voilà la fatalité moderne« – »Die Politik, das ist unser Schicksal von heute.« Der Tragiker stellt den Menschen immer gegen Mächte und läßt ihn groß werden durch seinen Widerstand. Dem antiken Drama offenbarten sich diese Mächte noch als Mythen: Zorn der Götter, Mißgunst der Dämonen, finstere Orakelsprüche. Gegen sie hob Oedipus das geblendete Haupt, Prometheus die angeschmiedete Faust, Philoktet die fiebernde Brust. Dem modernen Menschen ist die unentrinnbare Macht der Staat, die Politik, das Massenschicksal, gegen das der einzelne mit gespreizten Händen wehrlos steht, die großen geistigen Gewitterstürze, die »courants de foi«, die das Leben des Individuums mitleidslos fortreißen. Ebenso gewalttätig und unerbittlich spielt das Weltgeschick mit unserer Existenz: der Krieg ist stärkstes Symbol solcher Suggestivkraft der menschlich-seelischen Materie über den Einzelnen, und darum spielen alle Dramen Rollands im Kriege.


Aber die Griechen erkannten die Götter immer erst in ihrem Zorn, und unsere finstere Gottheit Vaterland, blutdürstig wie jene, wir erkennen, wir fühlen sie erst im Kriege. Ohne Schicksal denkt der Mensch selten an die Mächte, er vergißt und verachtet sie erst, die dunkel harren, um jählings ihre Kraft an uns zu proben. Darum waren einer lauen, einer friedlichen Zeit solche Tragödien fremd, die prophetisch ahnend im Spiel schon geistige Kräfte gegeneinander stellten, die zwei Jahrzehnte später erst in der blutigen Arena Europas aufeinanderprallen. Man bedenke, man erinnere sich: was konnten einem Boulevardpublikum von Paris, gewohnt an Ehebruchsgeometrie, jene Fragen sein, ob es wesentlich sei, dem Vaterland zu dienen oder der Gerechtigkeit, ob man im Kriege dem Gewissen gehorchen müsse oder dem Befehl? Gedankenspiele eines Müßigen bestenfalls, abseits von der Wirklichkeit, »Hekubas Schicksal«, indes es doch Kassandras Warnungsruf war. Rollands Dramen sind – das ist ihre Tragik und ihre Größe – dem Erlebnis um eine Generation voraus: für keine aber scheinen sie mehr geschrieben als für die unsere, der sie das Geistige der politischen Begebenheiten in großen Symbolen zu deuten vermögen. Der Aufstieg einer Revolution, das Zerprasseln ihrer geballten Kraft in einzelne Gestalten, die Peripetie von Leidenschaft zur Brutalität und ins selbstmörderische Chaos, wie bei Kerenski, Lenin, Liebknecht, ist das nicht a priori in seinen Stücken gestaltet, und die Beklemmungen Aërts, die Konflikte der Girondisten, die auch gegen zwei Fronten standen, haben wir sie seitdem nicht alle mit dem letzten Nerv unseres Wesens erlebt? Welche Frage war uns seit 1914 wichtiger als der Konflikt der weltbürgerlichen freien Menschen mit dem Massenwahn seiner Heimatsbrüder, und wo war irgendwo im Umkreis der letzten Jahrzehnte ein dramatisches Werk, das sie so menschlich vor unserm beunruhigten Bewußtsein auftat als diese verschollenen Tragödien, die zuerst im Dunkel der Unberühmtheit lagen und dann verschattet vom Ruhm ihres nachgeborenen Bruders Johann Christof? Dies scheinbar abseitige dramatische Werk zielte noch aus Friedensstunde zum Zentrum unserer zukünftigen noch ungestalteten Bewußtseinssphäre. Und der Stein, den die Bauleute der Bühne damals achtlos verworfen haben, ist vielleicht das Fundament eines zukünftigen, großgesinnten, zeitgenössischen und doch heroischen Theaters, jenes Theaters des freien europäischen Brudervolkes, dem es aus schaffender Seele eines Unbekannten früh und einsam entgegengeträumt war.

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Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.