Bildnis
Zwei Zimmerchen, nußschalengroß, im Herzen von Paris, knapp unter dem Dach: fünf Stockwerke hoch schraubt sich die hölzerne Treppe. Unten donnert ganz leise wie ein fernes Gewitter der Boulevard Montparnasse. Manchmal zittert auf dem Tisch ein Glas, wenn unten der schwere »Motorbus« vorüberdröhnt. Aber von den Fenstern geht der Blick über die niederen Nachbarhäuser in einen alten Klostergarten, und im Frühling weht ein weicher Duft von Blüten in die aufgetanen Fenster. Kein Nachbar hier oben, keine Bedienung als die alte Conciergefrau, die den Einsamen vor Gästen und Besuchern schützt.
Im Zimmer Bücher und Bücher. An den Wänden klettern sie auf, den Boden überhäufen sie, bunte Blumen wuchern sie über Fensterbrett, Sessel und Tisch, dazwischen Papiere verstreut, ein paar Gravüren an der Wand, Photographien von Freunden und eine Büste Beethovens. Nah dem Fenster ein kleiner Holztisch mit Feder und Papier, zwei Sessel, ein kleiner Ofen. Nichts in der engen Zelle, was kostbar wäre, nichts was weich zur Ruhe lüde oder zu gemächlicher Geselligkeit. Eine Studentenbude, ein kleiner Kerker der Arbeit.
Vor den Büchern er selbst, der milde Mönch dieser Zelle, immer dunkel gekleidet in der Art eines Geistlichen, schmal, hoch, zart, das Gesicht ein wenig blaß und gegilbt, wie das eines Menschen, der selten im Freien lebt. Feine Falten unter den Schläfen, man spürt einen Schaffenden, der viel wacht und wenig schläft. Alles ist zart an seinem Wesen, das reine Profil, dessen ernste Linie keine Photographie ganz wiedergibt, die schmalen Hände, das Haar, das feinsilbern hinter die hohe Stirn tritt, der Bart, der spärlich und sanft wie ein heller Schatten über der dünnen Lippe liegt. Und alles ist leise an ihm, die Stimme, die sich nur zögernd im Gespräche gibt, der Gang, der leicht vorgeneigt, auch im Ruhenden noch unsichtbar die Linie der gebückten Arbeit nachzeichnet, die Gesten, die sich immer bändigen, der zögernde Schritt. Nichts Leiseres kann man sich denken als seine Gegenwart. Und fast wäre man versucht, dieses Sanfte seines Wesens für Schwäche zu halten oder eine große Müdigkeit, wären nicht die Augen in diesem Antlitz, klar, messerscharf vorblinkend unter dem leicht geröteten Lidrand und dann wieder sanft sich vertiefend in Güte und Gefühl. In ihrem Blau ist etwas von der Tiefe eines Wassers, das seine Farbe nur von seiner Reinheit hat (und alle seine Bilder sind darum arm, weil sie dies Auge nicht bilden, in dem sich seine ganze Seele sammelt). Das ganze feine Antlitz ist von dem Blick so belebt, wie der schwache enge Körper vom geheimnisvollen Feuer der Arbeit.
Diese Arbeit, die unendliche Arbeit dieses Menschen im Gefängnis des Körpers, im Gefängnis des engen Raumes in all jenen Jahren, wer kann sie ermessen! Die Bücher, die geschriebenen, sind nur ihr kleinstes Teil. Alles umfaßt die brennende Neugier dieses Einsamen, die Kulturen aller Sprachen, die Geschichte, Philosophie, Dichtung und Musik aller Nationen. Mit allen Bestrebungen ist er in Verbindung, über alles hat er Aufzeichnungen, Briefe und Notizen, er hält Zwiesprache mit sich und den andern, indessen die Feder vorwärts gleitet. Mit seiner feinen aufrechten Schrift, die doch gleichzeitig mit Kraft die Buchstaben hinter sich wirft, hält er die Gedanken fest, die ihm begegnen, die eigenen und die fremden, Melodien vergangener und neuer Zeit, die er in schmalen Heften notiert, Auszüge aus Zeitschriften, Entwürfe, und sein gesparter, gesammelter Besitz an solchem selbst geschriebenen geistigen Gut ist unermeßlich. Immer brennt die Flamme dieser Arbeit. Selten gönnt er sich mehr als fünf Stunden Schlaf, selten einen Spaziergang in den nahen Luxembourg, selten kommt zu stillem Gespräch ein Freund die fünfmal gewundene Treppe empor, und auch seine Reisen sind meist Suche und Forschung. Ausruhen heißt für ihn eine Arbeit tauschen für eine andere, Briefe gegen Bücher, Philosophie gegen Dichtung. Sein Alleinsein ist tätige Gemeinsamkeit mit der Welt, und freie Stunden sind einzig jene kleinen Feste inmitten des langen Tages, wenn er in der Dämmerung auf dem Klavier Zwiesprache hält mit den großen Geistern der Musik, Melodien holend aus andern Welten in diesen kleinen Raum, der selbst wieder eine Welt des schaffenden Geistes ist.
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Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.