Nachlese
1919 - 1925
Nichts Erfreulicheres kann dem Biographen einer zeitgenössischen Persönlichkeit widerfahren, als wenn die geschilderte Gestalt das geschriebene Werk durch neue Verwandlung und Entfaltung überholt: denn ist es nicht besser, ein Bildnis veralte und erkalte als der schöpferische Mensch? So müßte auch diese Darstellung heute, sechs Jahre nach ihrem ersten Erscheinen, in einigen Belangen als überholt gelten, und die Verlockung läge nahe, sie anläßlich einer der Neuauflagen bis an die gegenwärtige Stunde heran umzuformen. Aber nicht Trägheit weigert sich in mir gegen diese Versuchung, sondern ich halte den gegenwärtigen Augenblick für eine neuerliche Abrundung noch für verfrüht. Jedes Leben hat eine innere Architektonik, deren verkleinerten Maßstab eine rechtschaffene Biographie in sich eingezeichnet tragen muß: aber der Schwerpunkt muß immer wieder neu gefunden werden, denn nur in bestimmten Zeitwenden, aus einer gewissen Distanz offenbart sich diese unablässig fortgebaute verborgene Form. Entfaltet sich nun ein künstlerisches Leben wie gerade jenes Rollands immer – ich versuchte es in diesem Buche zu zeigen – in weitausholenden zyklischen Kreisen, so erscheint es geboten, vorsorglich abzuwarten, bis diese Kreise ihren Raum erfüllt und ihren geistigen Kosmos zu Ende gestaltet haben.
Eben nun erlebt Romain Rolland einen solch weitausholenden, sich selbst überholenden Augenblick seiner Produktion, und man wäre an seinen gegenwärtigen Plänen, von denen nur Teile publiziert sind, ebenso voreilig verräterisch, als wenn man versucht hätte, seinerzeit nach dem dritten oder vierten Band des Johann Christof schon den Umfang und die Absicht dieses Weltbuches zu ermessen. Gerade weil die Fundamente bereits gefestigt und offen hegen, ziemt es, zu warten und nach alter Baumannsart den flatternden Kranz erst auf den vollendeten Dachfirst zu heften.
Darum bescheidet sich dieses Nachwort damit, einzig chronistisch zu ergänzen, was Rolland seit Abschluß dieser Biographie seinem damals gerundeten Werke noch beigefügt hat: wie altes Beginnen noch einmal unvermutete neue Förderung durch die Zeit erfuhr und die Zeit wiederum eine neue Deutung durch dies schöpferische Beginnen.
Der Krieg hatte wie für jeden Menschen, der im hegelschen oder unhegelschen Sinne unbewußt an eine wirkende Vernunft in geschichtlichen Geschehnissen glaubt, auch für Rolland mit einer schweren Enttäuschung geendet. Nicht nur Amerika in der Gestalt Wilsons, sondern auch Europa in den fragwürdigen Erscheinungen seiner Politiker und Intellektuellen hatte vollkommen versagt. Die russische Revolution, die wie eine Morgenröte besseren Willens für einen Augenblick von ferne geleuchtet hatte, war zu einem Feuerorkan geworden, und das zertretene Europa fand ein ermüdetes Geschlecht.
Aber ich nannte es ja das ewige Geheimnis Rollands, sich aus allen seinen Enttäuschungen immer wieder Gestalten zu schaffen oder hervorzurufen, aus deren Tat, deren Werk, aus deren Namen eine neue Kraft des Willens und der Hoffnung die Menschen überströmt. So hatte er seinerzeit in der schwersten Krise seines eigenen Lebens sich die Gestalt Beethovens beschworen, des göttlichen Dulders, der Göttliches gerade aus seinem Dulden schafft. So hatte er in den Zeiten der Zwietracht die Brüder aus zwei Nationen, Johann Christof und Olivier, in die Welt gesandt, – und nun stellt er in die moralische Enttäuschung, die physische Ermattung und seelische Niedergebrochenheit der Nachkriegswelt seinen Helden von einst, Beethoven, Michelangelo, Tolstoi, einen neuen Namen zur Seite, nun aber einen lebendigen, einen zeitgenössischen Menschen, den Zeitgenossen zum Trost: Mahatma Gandhi.
Diesen Namen hatte vor ihm niemand in Europa ausgesprochen, niemand den kleinen schmächtigen, indischen Advokaten gekannt, der allein und mutiger als alle Feldherren des Weltkriegs mit dem mächtigsten Reiche der Welt um eine welthistorische Entscheidung rang. Unsere europäischen Dichter und Politiker sind gleicherweise kurzsichtig: immer starren sie nur gerade bis an die nächsten Grenzen hin, das eigene individuelle Schicksal ihrer Nation mit dem europäischen, mit dem universellen eitel verwechselnd. Und es ist eine der Taten Rollands, als erster die ungeheure moralische Tat Mahatma Gandhis als zentrales und moralisches Problem auch unserer Welt aufgeworfen zu haben. Hier war endlich einmal in Wirklichkeit großartig und vorbildlich gestaltet, was er seit Jahren immer als höchste Form menschlichen Daseins erträumt hatte: der Kampf ohne Gewalt. Mit nichts wird ja Romain Rollands Wesen falscher, undeutlicher und verkehrter formuliert als (so häufig) mit dem verwaschenen Wort des »Pazifisten« im Sinne einer weichen, nachgeberischen, buddhistischen Friedfertigkeit, einer Gleichgültigkeit gegen den Druck und Drang aktiver impulsiver Mächte. Nichts schätzt Rolland im Gegenteil höher als die Initiative, die Kampflust um die als wahr und wesentlich erkannte Lebensidee: nur der Massenkrieg, die uniformierte Brutalität, die Anspannung auf Kommando, die Entpersönlichung des Ideals und der Tat will ihm das furchtbarste Verbrechen an der Freiheit erscheinen. In Mahatma Gandhi und seinen dreihundert Millionen offenbart sich ihm nun – ein Jahr nach der europäischen Metzelei von zwanzig Millionen Männern – eine neue Form des Widerstands, ebenso wirksam, ebenso solidarisch, aber ethisch unendlich reiner, persönlich unendlich gefährlicher als das Schießprügeltragen des Okzidents. Mahatma Gandhis Krieg entbehrt aller jener Elemente, die den Krieg für unsere Epoche so erniedrigt haben, er ist »ein Kampf ohne Blut, ein Kampf ohne Gewalt, vor allem ein Kampf ohne Lüge«. Seine Waffe ist einzig die »Non-resistance«, das Nicht-Widerstehen, die »heroische Passivität«, die Tolstoi gefordert, und die »Non-cooperation«, die Nicht-Teilnahme an allem Staatlichen und Solidarischen Englands, die Thoreau gepredigt. Nur mit dem Unterschiede, daß Tolstoi, indem er jeden einzelnen isoliert im Sinne des Urchristentums (im praktischen Sinne also zwecklos) sein Schicksal erleiden läßt, zum (meist sinnlosen) Märtyrertum verleitet, indes Gandhi die Passivität von dreihundert Millionen Menschen in einen Widerstand, also eine Tat, zusammenschweißt, wie sie noch niemals irgendeine Nation auf ihrem politischen Wege vorgefunden hat. Wie immer aber erwächst die Schwierigkeit eines Führers erst, wenn er seine Idee in Wirklichkeit verwandeln muß, und Rollands Buch ist der Heldengesang vom kampflosen Helden, der in den eigenen Reihen die trübe Truppe der Marodeure, die sich jedem Kriege, auch dem geistigsten, beimengen, niederhalten muß, der ohne Haß vehement, ohne Gewalt gegnerisch, ohne Lüge politisch sein muß, um dann selbst als erster im Gefängnis der geistige Blutzeuge seiner Ideen zu sein. So ist Gandhis Tat in der dichterischen (aber nie erdichteten) Darstellung Rollands die schönste Kriegsgeschichte unserer Zeit geworden, ein lebendiges Beispiel, der europäischen Zivilisation entgegengeschleudert, wie man auch ohne den mörderischen Kriegsapparat von Kanonen, verlogenen Zeitungen und bestialisch gesinnten Zwischentreibern einzig durch moralische Mittel eine Revolution praktisch verwirklichen könne. Zum erstenmal hat sich mit Rolland ein Repräsentant unserer Kultur vor einer Idee Asiens, vor einem unbekannten fremden Führer wie vor einem Überlegenen gebeugt. Und diese Geste war eine historische Tat.
Darum ist von allen heroischen Biographien diese späteste und letzte Rollands in ihrer Wirkung die entscheidendste gewesen. Geben die andern nur ein Beispiel für den einzelnen, für den Künstler, so gilt die Tat Gandhis vorbildlich für Nationen und Zivilisationen. Im Johann Christof hatte Rolland nur die notwendige Einheit Europas gefordert, sein »Gandhi« aber deutet noch weiter hinaus über die Sphäre des Abendlandes und zeigt statt trüber Theorien von Volksverständigung, daß immer nur ein Genius und ein Gläubiger Geschichte formt.
Auf seiner höchsten Stufe wird der Geist immer zu Religion, in seiner vollsten Form der Mensch immer zum Helden: als stärkstes Beispiel dieser noch nicht erloschenen Fähigkeit unserer Menschheit ruft Rolland aus dem Schatten des Orients einen Zeugen unserer Menschheit zum Trost. Und so wird Gegenwart zum Gedicht und eine heroische Legende uns zur Wirklichkeit.
Unvermutet war derart an eine alte, längst unterbrochene Reihe, an die »Heroischen Biographien« angeknüpft worden. Und unvermutet und gleichfalls mit dem vollen Auftrieb gesteigerter Kraft nimmt von dieser Höhe des Ausblicks Rolland seinen alten Plan des »Dramas der Revolution« wieder auf, jene Dekalogie des »Théâtre de la révolution«, die der Jüngling glühend begonnen, der Mann, enttäuscht von der Gleichgültigkeit der Zeit, entmutigt unterbrochen hatte.
Den eigentlichen Anstoß gab auch hier die Zeit. Zwanzig Jahre lang waren die Revolutionsdramen Rollands gleichsam verschüttet gewesen. Die französische Bühne kannte sie nicht. Einige auswärtige Bühnen versuchten sich an einzelnen, teils aus dem literarischen Ehrgeiz, den Dichter des Johann Christof dramatisch zur Szene zu führen, teils weil »Danton« dem Regisseur unerwartete Möglichkeiten bot. Aber das Wesentliche ihrer Problematik mußte einer Friedenszeit unverständlich bleiben. Moralische Auseinandersetzungen wie jene der »Wölfe«, was höher stehe, die Wahrheit oder das Vaterland, Diskussionen auf Tod und Leben wie jene des Danton mit Robespierre hatten keine Anwendung, keine Applikation auf die rein wirtschaftlich und artistisch bewegte Welt von 1913. Ihr waren sie historische Stücke, dialektische Gedankenspiele und blieben es so lange, bis ihre Zeit, ihre eigene Wirklichkeit kam und sie zur brennendsten Aktualität machte, ja sogar ein Prophetisches in ihren Formen entschleierte. Es mußte nur der Augenblick kommen, um die moralischen Probleme zwischen dem Einzelnen und der Nation neuerdings in Widerstreit zu bringen, und jedes Wort, jede Gestalt dieser Dramen war beziehungsvoll: hätten sie nicht längst gedruckt vorgelegen, so hätte man sie für Paraphrasen einer Wirklichkeit genommen, als Stichworte von Reden, die damals auf allen Straßen und Plätzen gingen, in Moskau und Wien und Berlin, überall wo die Revolte in Gärung kam. Denn wenn auch immer anderen Zielen zurollend und äußerlich in anderen Formen sich gewandend, so nehmen doch alle Revolutionen, alle Umwälzungen den gleichen Gang. Sie grollen langsam empor, reißen die Menschen, die sie zu führen glauben, durch die Vehemenz der Masse über sich selbst hinaus, schaffen Widerstreit zwischen der reinen Idee und der profanen Wirklichkeit. Immer aber ist der Urrhythmus der gleiche, weil er ein allmenschlicher ist und ein kosmischer beinahe mit dem dumpfen Groll, dem Aufstoß der Zerstörung und dem endlichen Einsturz der zu wild aufgeschossenen Flamme.
Dieserart die Wirkung der verschollenen Stücke erneuernd, wirkten aber die zeitgenössischen Ereignisse gleichzeitig auch auflockernd auf den ganzen schon als Torso vergrabenen Plan. In einer früheren Vorrede hatte Rolland die Revolution einem Elementarereignis, einem Sturm, einem Gewitter verglichen. Nun hatte er unvermuteterweise ein solches Gewitter selbst im Osten sich zusammenballen und mit elementarischer Wucht bis in unser geistiges Reich heranbrechen gesehen. Blut strömte und strömte bis hin in das Werk, die Zeit selbst lieferte ihm Analogien zu den dichterischen Situationen und historischen Gestalten, und so begann er, sich selber unerwartet, die vom Rückschein all dieser Flammen neu erhellte Zeichnung zu Ende zu führen. Das »Spiel von Tod und Liebe«, das erste Werk dieses neuen Beginnens, gehört rein dramatisch und künstlerisch zum Vollendetsten, was Rolland bisher gelungen In einem einzigen Akt, rasch ansteigend, in fortwährender Erregung drängen sich Schicksale zusammen, in denen der wissende Blick Historisches mit frei Erfundenem als sinnvoll vermengt erkennt. Jérôme de Courvoisier trägt Züge des genialen Chemikers Lavoisier und teilt zugleich die seelische Erhobenheit auch mit dem andern großen Opfer der Revolution, mit Condorcet. Seine Frau erinnert in einem an dessen Gattin und die heldenhafte Geliebte Louvets, Carnot wiederum ist streng historisch gestaltet, ebenso wie die Erzählung des geflüchteten Girondisten. Aber wahrhafter als alle Wahrheit darin ist die unmittelbare seelische Stimmung, das Grauen der geistigen, moralischen Menschen vor dem Blut, das ihre eigenen Ideen gefordert haben, das Grauen vor der niedrigen gemeinen Menschentierheit, die jede Revolution als Sturmläufer benötigt, und die dann immer, berauscht vom Blutdunst, das eigene Ideal hinmordet. Der Schauer unzähligen Gefühls ist darin, der ewige unsterbliche Schauer des jungen Lebens um das eigene Leben, die Unerträglichkeit eines Zustandes, wo der Seele das Wort nicht und kein Leib mehr dem einzelnen Menschen selbst gehört, sondern Leib und Seele dunklen, unsichtbaren Gewalten, – all dieses Dinge, die wir Millionen Menschen in Europa während sieben Jahren bis zur äußersten Erschütterung und Ohnmacht in der Seele gefühlt haben. Und über diesem zeitlichen wölbt sich dann noch groß der ewige Konflikt, der allen Zeiten gehört, der Gegensatz zwischen Liebe und Pflicht, zwischen Dienst und höherer Wahrhaftigkeit; wieder schweben, ebenso wie in den »Wölfen« und im »Danton«, in homerischer Art die Ideen als unsichtbare Mächte anfeuernd und beschwörend über dem niedrigen mörderischen Kampf der Menschen.
Niemals war Rolland bisher präziser, intensiver als Dramatiker als in diesem Spiel. Hier ist alles auf engste, dichteste Formeln gebracht, ein weit vorbereitetes, scheinbar verwirrtes Geschehnis in den ununterbrochenen Ablauf einer heroischen Stunde gedrängt: manchmal wirkt es geradezu wie eine Ballade in seiner dichterischen Knappheit und dem reinen rhythmischen Ablauf einer tragischen Melodie. Auf der Bühne unmittelbar bewährt, wird es hoffentlich seinen und unsern Wunsch stärker geltend machen, nun das ganze große Fresko, das damit schon zur Hälfte vollendet ist, zu Ende zu führen. Seit einem Vierteljahrhundert liegen die Skizzen dazu fertig in des Meisters Hand Und nun, da die neue Zeit unverhofft ihre Farbe geliehen, dürfen wir erwarten, daß die nächsten Jahre diese weitesten und kühnsten seiner Kreise in den Horizont unserer Welt einrunden.
So sind zwei alte längst abgestockte Pläne, zwei seit Jahren unterbrochene Reihen innerhalb Rollands Werk wieder in Aufbau und Erneuerung begriffen. Aber der Unermüdliche, der in einer Arbeit immer nur von der andern ausruht, hat gleichzeitig ein Neues begonnen, den Romanzyklus »L’âme enchantée« (»Verzauberte Seele«), eine Art Pendant zum Johann Christof, um unmittelbar, ohne Kulisse und Ferne uns Sinn und Formen der Zeit zu deuten. Denn der deutsche Musikus Johann Christof ist, rein historisch gesprochen, vor dem Kriege gestorben, und alles, was zehn Jahre hinter uns hegt, gilt bei der ungeheuren Wandlungsfähigkeit unserer Zeit und der gegenwärtigen Generation charakterologisch schon als Vergangenheit. Um gegenwärtig zu wirken, wozu sich Rolland als der »Biologe der Zeit« (wie er sich am liebsten nennt) vor allem berufen fühlt, muß das Problem wie die Gestalt näher herangezogen werden, nicht der Vätergeneration entwachsen, sondern der unseren. Gleichzeitig aber schafft Rolland diesem neuen Zyklus eine neue Polarität durch Spannungen anderer Art. Im »Johann Christof« waren die Männer, Johann Christof und Olivier, die Kämpfenden gewesen, die Frauen nur die Leidenden, die Helfenden, die Verwirrenden, die Beschwichtigenden. Diesmal nun lockt es Rolland, den freien Menschen, der sein Ich, der seine Persönlichkeit, der seinen selbsterworbenen Glauben gegen die Welt, gegen die Zeit, gegen die Menschen mit unerschütterlicher Kraft aufrecht hält, einmal in der sieghaften Gestalt einer Frau darzustellen. Notwendigerweise muß aber der Kampf einer Frau um die Freiheit ein anderer sein als jener des Mannes. Der Mann hat sein Werk zu verteidigen oder seinen Glauben oder seine Überzeugung oder seine Idee; die Frau verteidigt sich selbst, ihr Leben, ihre Seele, ihr Gefühl und vielleicht noch ihr zweites Leben, ihr Kind, gegen unsichtbare zeitliche und seelische Mächte, gegen die Sinnlichkeit, gegen die Sitte, gegen das Gesetz und andererseits wieder gegen die Anarchie, gegen alle die unsichtbaren Schranken, die einer freien Entfaltung inneren Frauentums in der Zivilisation, in der moralischen, in der christlichen Welt gesetzt sind. So enthält das verwandelte Problem selbst wieder ungeahnte Verwandlungsmöglichkeiten, intimer zwar, aber nicht minder gewaltsam und großartig. Und Rolland hat seine innerste Leidenschaft aufgeboten, um hier den Kampf einer einfachen, namenlosen, anonymen Frau um ihre Persönlichkeit als nicht geringer erscheinen zu lassen als jenen des neuen Beethoven um sein Werk und seine Überzeugung.
Von diesem geplanten Werke stellt der erste Band, »Annette und Sylvia«, nur ein lyrisches Präludium dar, ein zärtliches Andante, das manchmal von einem leisen Scherzo unterbrochen wird. Aber schon gewittert in die letzten Szenen dieser breitangelegten Symphonie (wie alle Werke Rollands ist auch dieses nach musikalischen Gesetzen aufgebaut) eine passionierte Erregung herein. Annette, das gut bürgerliche und unberührte Mädchen, erfährt nach dem Tode ihres Vaters, daß er eine uneheliche Tochter Sylvia in kleinen Verhältnissen zurückgelassen hat. Mehr aus einem Instinkt der Neugier, aber doch schon aus der ihr eingeborenen Leidenschaft für Gerechtigkeit, beschließt sie, die Halbschwester aufzusuchen. Damit schon zerstört sie eine erste Schranke, ein unsichtbares Gesetz. In Sylvia lernt sie, die Wohlbehütete, zum erstenmal die Idee zur Freiheit kennen, nicht die edelste Form, aber doch die naturhafte, selbstverständliche der unteren Klassen, wo die Frau frei mit sich schaltet und ohne Hemmungen von außen und innen sich ihrem Geliebten hingibt. Und als sie dann ein junger Mann, den sie liebt, für die gutbürgerliche Ehe fordert, wehrt sich der so aufgereizte Instinkt ihrer Freiheit dagegen, mit dieser Ehe schon eine starre Form des Daseins anzunehmen und ganz in seinem Willen unterzugehen. »Der letzte Wunsch, das innerste Verlangen meines Lebens ist vielleicht nicht vollkommen auszudrücken«, sagt sie ihm, »weil er nicht ganz präzise und allzuweit ist.« Sie verlangt, daß irgendein letzter Teil ihres Daseins ihm nicht Untertan sein dürfe und sich nicht ganz in das Gemeinsame der Ehe lösen müsse. Unwillkürlich muß man bei dieser Forderung an das wundervolle Wort Goethes denken, das er einmal in einem Briefe schreibt: »Mein Herz ist eine offene Stadt, die jeder beschreiten kann, aber irgendwo darin ist eine verschlossene Zitadelle, in die niemand eindringen darf.« Diese Zitadelle, diesen letzten geheimnisvollen Schlupfwinkel will sie in sich bewahren, um der Liebe in einem höheren Sinne offen zu bleiben. Aber der Bräutigam, ganz im Bürgerlichen befangen, mißversteht dieses Verlangen und meint, sie liebe ihn nicht. So löst sich die Verlobung. Aber gerade nachdem sie gelöst ist, zeigt Annette in heroischer Art, daß sie zwar ihre Seele einem Manne, den sie liebt, nicht ganz hingeben kann, wohl aber ihren Körper. Sie gibt sich ihm hin und verläßt ihn dann, der ratlos bleibt, denn es ist die Tragik der Mittelmäßigen, das Große, das Heldische, das Einmalige nicht zu verstehen. Damit ist der kühnste Schritt getan, Annette hat die bürgerliche, die sicherumfriedete Welt verlassen und muß nun allein ihren Weg durchs Leben nehmen, oder vielmehr: noch mehr als allein, denn die Frucht jener Hingabe ist ein Kind, ein uneheliches Kind, mit dem zur Seite sie ihren Kampf aufzunehmen hat.
Von der Tragik dieses Kampfes sagt der nächste Band, »Der Sommer«, schon mehr. Annette ist ausgestoßen aus der Gesellschaft, sie hat ihr Vermögen verloren, sie muß in einem kläglichen aufreibenden Ringen alle Kräfte zusammenfassen, nur um das Kind sich zu bewahren, und jenes andere in sich, das ihr mit ihrem Kind das Teuerste ist: ihren Stolz, ihre Freiheit. Durch alle Formen der Prüfungen und Versuchungen wird hier die freie Frau geführt, und kaum daß der seelische Kampf mit dem Manne sich tragisch entspannt, so erwächst ihr schon die andere Not, nämlich ihr Kind, ihren rasch aufwachsenden, gleichfalls vom Instinkt der Freiheit geführten Sohn, sich innerlich zu erhalten und zu bewahren. Noch verrät selbst dieser zweite Band nicht deutlich, wohin die Linie dieses Lebens zielt, noch ist dieser Sommer im höchsten Sinne Präludium und Vorspiel der wachsenden Tragödie. Aber das Feuerzeichen am Ende des Buches, der ausbrechende Krieg, läßt schon ahnen, welche Höllen und Feuerkreise diese Seele wird durchwandern müssen, ehe ihr Läuterung und höchste Stufe entgegenleuchtet. Und erst das vollendete Werk wird gestatten, seinen Umfang, seine Form und die geistige Umfassung mit dem andern epischen Zyklus, dem Johann Christof, zu vergleichen.
Immer wieder, je öfter und je näher man das Leben Rollands betrachtet, um so mehr erstaunt es durch seine kaum faßliche Fülle. Ich habe nur andeutend hier die seit sechs Jahren erschienenen Werke des Unermüdlichen angeführt, die entstanden sind – man vergesse dies nicht – neben der aufopferndsten, hilfreichsten Tätigkeit, neben einer restlosen Selbstverschwendung in Briefen, Manifesten und Aufsätzen, neben einer unermüdlichen Selbstbereicherung in Studien, Lektüre, menschlicher Anteilnahme, Reisen und Musik. Aber selbst diese hier aufgezählten publizierten Werke umschließen (nebst seinem unablässig fortgeführten Tagebuche) noch immer nicht die ganze Summe seiner künstlerischen Unternehmung: während er sich ausstreut in gestaltenden Formen, sammelt er gleichzeitig sich selber die Frucht der Ideen zu einem Buche geistigen Selbstbekenntnisses, das »Voyage intérieur« heißt und vorläufig nicht zur Veröffentlichung bestimmt ist. Immer, in jeder Form, ist seine Tat größer als ihre äußere Manifestation. Immer und immer und je näher und näher man in das Geheimnis seiner Werkstatt einzudringen sucht, um so rätselhafter wird das Einmalige dieser hier wirkenden Kraft. Gerade heute, da das sechste Jahrzehnt ihm als ein wahrhaft erfülltes sich rundet, sehen wir ihn leidenschaftlicher gestaltend und unermüdlicher als alle Jugend: werkfreudig allem Neuen aufgetan, allem Irdischen beziehungshaft gesellt. Auch darin Beispiel und Vorbild wie in so vielen Formen und Manifestierungen seines groß gelebten Lebens, steht er ganz aufrecht noch Stirn an Stirn mit der ihm zugeteilten Aufgabe, als Führer im Geiste, als Bildner des Herzens, als Anwalt jeder leidenschaftlichen Gläubigkeit. Und keinen andern Wunsch wollen wir seinem sechzigsten Geburtstage aus immer wieder dankbarer Seele darbringen, als daß diese heroisch ringende und allzeit obsiegende Kraft ihm und uns unverstellt erhalten bleibe: der Jugend zum Beispiel, den Menschen zum Trost, ihm selber zur Vollendung.
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Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.