Sechs Jahre Schweigen


Sechs Jahre liegt das vergessene Kabel nutzlos im Weltmeer, sechs Jahre herrscht wieder das alte, kalte Schweigen zwischen den beiden Kontinenten, die eine Weltstunde lang Puls mit Puls zueinander gepocht. Die einander nahe gewesen einen Atemzug, ein paar hundert Worte lang, Amerika und Europa, sie sind wieder wie seit Jahrtausenden durch unüberwindliche Ferne getrennt. Der kühnste Plan des neunzehnten Jahrhunderts, gestern beinahe schon eine Wirklichkeit, ist wieder eine Legende, ein Mythos geworden. Selbstverständlich denkt niemand daran, das halb gelungene Werk zu erneuern; die furchtbare Niederlage hat alle Kräfte gelähmt, alle Begeisterung erstickt. In Amerika lenkt der Bürgerkrieg zwischen Nord- und Südamerika jedes Interesse ab, in England tagen ab und zu noch Komitees, aber sie brauchen zwei Jahre, um die dürre Behauptung mühsam festzustellen, daß prinzipiell ein Unterseekabel möglich wäre. Aber von diesem akademischen Gutachten bis zur wirklichen Tat ist ein Weg, den niemand zu beschreiten denkt; sechs Jahre ruht jede Arbeit so vollkommen wie das vergessene Kabel auf dem Grunde des Meeres.


Aber sechs Jahre, wenn auch innerhalb des riesigen Raumes der Geschichte nur ein flüchtiger Augenblick, bedeuten in einer so jungen Wissenschaft wie der Elektrizität ein Jahrtausend. Jedes Jahr, jeder Monat zeitigt auf diesem Gebiete neue Entdeckungen. Immer kräftiger, immer präziser werden die Dynamos, immer vielfältiger ihre Anwendung, immer genauer die Apparate. Schon umspannt das Telegraphennetz den inneren Raum aller Kontinente, schon ist das Mittelmeer durchquert, schon Afrika und Europa verbunden; so verliert von Jahr zu Jahr der Plan, den Atlantischen Ozean zu durchspannen, unmerklich mehr und mehr von dem Phantastischen, das ihm so lange angehaftet. Unabwendbar muß die Stunde kommen, die den Versuch erneut; es fehlt nur der Mann, der den alten Plan mit neuer Energie durchströmt.


Und plötzlich ist der Mann da, und siehe, es ist der alte, derselbe, mit derselben Gläubigkeit und demselben Vertrauen, Cyrus W. Field, auferstanden aus der schweigenden Verbannung und hämischer Verachtung. Zum dreißigsten Male hat er den Ozean überquert und erscheint wieder in London; es gelingt ihm, die alten Konzessionen mit einem neuen Kapital von sechsmalhunderttausend Pfund zu versehen. Und nun ist auch endlich das langgeträumte Riesenschiff zur Stelle, das die ungeheure Fracht allein in sich aufnehmen kann, die berühmte »Great Eastern« mit ihren zweiundzwanzigtausend Tonnen und vier Schornsteinen, die Isambar Brunel gebaut. Und Wunder über Wunder: sie liegt in diesem Jahre, 1865, brach, weil gleichfalls zu kühn vorausgeplant ihrer Zeit; innerhalb zweier Tage kann sie gekauft und für die Expedition ausgerüstet werden.


Nun ist alles leicht, was früher unermeßlich schwer gewesen. Am 23. Juli 1865 verläßt das Mammutschiff mit einem neuen Kabel die Themse. Wenn auch der erste Versuch mißlingt, wenn durch einen Riß zwei Tage vor dem Ziel die Legung mißglückt und noch einmal der unersättliche Ozean sechsmalhunderttausend Pfund Sterling schluckt, die Technik ist schon zu sicher ihrer Sache, um sich entmutigen zu lassen. Und als am 13. Juli 1866 zum zweitenmal die »Great Eastern« ausfährt, wird die Reise zum Triumph, klar und deutlich spricht diesmal das Kabel nach Europa hinüber. Wenige Tage später wird das alte, verlorene Kabel gefunden, zwei Stränge verbinden jetzt die Alte und die Neue Welt zu einer gemeinsamen. Das Wunder von gestern ist die Selbstverständlichkeit von heute geworden, und von diesem Augenblick an hat die Erde gleichsam einen einzigen Herzschlag; sich hörend, sich schauend, sich verstehend lebt die Menschheit nun gleichzeitig von einem bis zum andern Ende der Erde, göttlich allgegenwärtig durch ihre eigene schöpferische Kraft. Und herrlich wäre sie dank ihres Sieges über Raum und Zeit nun für alle Zeiten vereint, verwirrte sie nicht immer wieder von neuem der verhängnisvolle Wahn, unablässig diese grandiose Einheit zu zerstören und mit denselben Mitteln, die ihr Macht über die Elemente gegeben, sich selbst zu vernichten.

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Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.