Durch Deutschland: Ja oder nein?
Die Schweiz liegt eingebettet zwischen Italien, Frankreich, Deutschland und Österreich. Durch die alliierten Länder ist Lenin der Weg als Revolutionär gesperrt, durch Deutschland und Österreich als russischer Untertan, als Angehöriger einer feindlichen Macht. Aber absurde Konstellation: von dem Deutschland Kaiser Wilhelms hat Lenin mehr Entgegenkommen zu erwarten als von dem Rußland Miljukows und dem Frankreich Poincarés. Deutschland braucht am Vorabend der amerikanischen Kriegserklärung Frieden um jeden Preis mit Rußland. So muß ein Revolutionär, der dort den Gesandten Englands und Frankreichs Schwierigkeiten macht, ihnen nur ein willkommener Helfer sein.
Aber ungeheure Verantwortung eines solchen Schrittes, mit dem kaiserlichen Deutschland, das er hundertmal in seinen Schriften beschimpft und bedroht, nun mit einemmal Verhandlungen anzuknüpfen. Denn im Sinne aller bisherigen Moral ist es selbstverständlich Hochverrat, mitten im Kriege und unter Billigung des feindlichen Generalstabes gegnerisches Land zu betreten und zu durchfahren, und selbstverständlich muß Lenin wissen, daß er damit die eigene Partei und die eigene Sache anfänglich kompromittiert, daß er verdächtig sein wird, daß er als bezahlter und gemieteter Agent der deutschen Regierung nach Rußland geschickt wird und daß, falls er sein Programm des sofortigen Friedens verwirklicht, ihm ewig die Schuld in der Geschichte aufgelastet wird, den richtigen, den Siegfrieden Rußlands verhindert zu haben. Selbstverständlich sind nicht nur die linderen Revolutionäre, sondern auch die meisten Gesinnungsgenossen Lenins entsetzt, wie er seine Bereitschaft kundgibt, notfalls auch diesen allergefährlichsten und kompromittierendsten Weg zu gehen. Bestürzt verweisen sie darauf, daß durch die Schweizer Sozialdemokraten längst schon Verhandlungen angeknüpft sind, um die Rückführung der russischen Revolutionäre auf dem legalen und neutralen Wege des Gefangenenaustausches in die Wege zu leiten. Aber Lenin erkennt, wie langwierig dieser Weg sein wird, wie künstlich und absichtsvoll die russische Regierung ihre Heimkehr bis ins Endlose hinausziehen wird, indes er weiß, daß jeder Tag und jede Stunde entscheidend ist. Er sieht nur das Ziel, während die andern, minder zynisch und minder verwegen, nicht wagen, sich zu einer Tat zu entschließen, die nach allen bestehenden Gesetzen und Anschauungen eine verräterische ist. Aber Lenin hat innerlich entschieden und eröffnet für seine Person auf seine Verantwortung die Verhandlungen mit der deutschen Regierung.
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Der Pakt
Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.