Europa, hilf!


Die Belagerten täuschen sich nicht mehr. Sie wissen: nun auch in der aufgerissenen Flanke gepackt, werden sie nicht lange Widerstand leisten hinter ihren zerschossenen Mauern, achttausend gegen hundertfünfzigtausend, wenn nicht baldigst Hilfe kommt. Aber hat nicht feierlichst die Signoria von Venedig zugesagt, Schiffe zu entsenden? Kann der Papst gleichgültig bleiben, wenn Hagia Sophia, die herrlichste Kirche des Abendlandes, in Gefahr schwebt, eine Moschee des Unglaubens zu werden? Versteht Europa, das in Zwist befangene, durch hundertfache niedere Eifersucht zerteilte, noch immer nicht die Gefahr für die Kultur des Abendlandes? Vielleicht – so trösten sich die Belagerten – ist die Entsatzflotte längst bereit und zögert nur aus Unkenntnis, die Segel zu setzen, und es genügte, brächte man ihnen die ungeheure Verantwortung dieses todbringenden Säumens zum Bewußtsein.


Aber wie die venezianische Flotte verständigen? Das Marmarameer ist übersät von türkischen Schiften; mit der ganzen Flotte auszubrechen, hieße sie dem Verderben preisgeben und außerdem die Verteidigung, bei welcher doch jeder einzelne Mann zählt, um ein paar hundert Soldaten schwächen. So beschließt man, nur ein ganz kleines Schiff mit winziger Bemannung aufs Spiel zu setzen. Zwölf Männer im ganzen – gäbe es Gerechtigkeit in der Geschichte, ihr Name müßte so berühmt sein wie jener der Argonauten, und doch kennen wir keines einzelnen Namen – wagen die Heldentat. Auf der kleinen Brigantine wird die feindliche Flagge gehißt. Zwölf Männer kleiden sich auf türkische Art mit Turban oder Tarbusch, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Am 3. Mai wird um Mitternacht die Sperrkette des Hafens geräuschlos gelockert, und mit gedämpftem Ruderschlag gleitet das kühne Boot hinaus, geschützt von der Dunkelheit. Und siehe: das Wunderbare geschieht, und unerkannt durchfährt das winzige Schiff die Dardanellen bis ins Ägäische Meer. Immer ist es gerade das Übermaß der Kühnheit, das den Gegner lähmt. An alles hat Mahomet gedacht, nur nicht an dies Unvorstellbare, daß ein einzelnes Schiff mit zwölf Helden eine solche Argonautenfahrt durch seine Flotte wagen würde.


Aber tragische Enttäuschung: kein venezianisches Segel leuchtet am Ägäischen Meer. Keine Flotte ist bereit zum Einsatz. Venedig und der Papst, alle haben sie Byzanz vergessen, alle vernachlässigen sie, mit kleiner Kirchturmpolitik beschäftigt, Ehre und Eid. Immer wiederholen sich in der Geschichte diese tragischen Augenblicke, daß, wo höchste Zusammenfassung aller geeinten Kräfte zum Schutze der europäischen Kultur notwendig wäre, auch nicht für eine Spanne die Fürsten und die Staaten ihre kleinen Rivalitäten niederzuhalten vermögen. Genua ist es wichtiger, Venedig zurückzustellen, und Venedig wiederum Genua, als für einige Stunden vereint den gemeinsamen Feind zu bekriegen. Leer ist das Meer. Verzweifelt rudern die Tapfern auf ihrer Nußschale von Insel zu Insel. Aber überall sind die Häfen schon vom Feinde besetzt, und kein befreundetes Schiff wagt sich mehr in das kriegerische Gebiet.


Was nun tun? Einige der zwölf sind mit Recht mutlos geworden. Wozu nach Konstantinopel zurück, noch einmal den gefährlichen Weg? Hoffnung können sie keine bringen. Vielleicht ist die Stadt schon gefallen; jedenfalls erwartet sie, wenn sie zurückkehren, Gefangenschaft oder Tod. Aber – herrlich immer die Helden, die niemand kennt! – die Mehrzahl entscheidet dennoch für die Rückkehr. Ein Auftrag ist ihnen gegeben, und sie haben ihn zu erfüllen. Man hat sie um Botschaft gesandt, und sie müssen die Botschaft heimbringen, mag sie auch die bedrückendste sein. So wagt dieses winzige Schiff allein wieder den Weg zurück durch die Dardanellen, das Marmarameer und die feindliche Flotte. Am 23. Mai, zwanzig Tage nach der Ausfahrt, schon hat man längst in Konstantinopel das Fahrzeug verloren gegeben, schon denkt niemand mehr an Botschaft und Rückkehr, da schwenken plötzlich von den Wällen ein paar Wächter die Fahnen, denn mit scharfen Ruderschlägen steuert ein kleines Schiff auf das Goldene Horn zu, und als jetzt die Türken, durch den donnernden Jubel der Belagerten belehrt, erstaunend merken, daß diese Brigantine, die frecherweise mit türkischer Flagge durch ihre Gewässer gefahren, ein feindliches Schiff ist, stoßen sie mit ihren Booten von allen Seiten heran, um sie noch knapp vor dem schützenden Hafen abzufangen. Einen Augenblick schwingt Byzanz mit tausend Jubelschreien in der glücklichen Hoffnung, Europa habe sich seiner erinnert und jene Schiffe nur als Botschaft vorangesandt. Erst abends verbreitet sich die schlimme Wahrheit. Die Christenheit hat Byzanz vergessen. Die Eingeschlossenen sind allein, sie sind verloren, wenn sie sich nicht selber retten.

nachfolgendes Kapitel

Die Nacht vor dem Sturm

lernzettel.org

Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.