Der Morgen von Waterloo


Neun Uhr morgens. Aber die Truppen sind noch nicht vollzählig beisammen. Der von dreitägigem Regen durchweichte Grund erschwert jede Bewegung und hemmt das Nachrücken der Artillerie. Erst allmählich erscheint die Sonne und leuchtet unter scharfem Wind: aber es ist nicht die Sonne von Austerlitz, blankstrahlend und glückverheißend, sondern nur falben Scheins glitzert mißmutig dieses nordische Licht. Endlich sind die Truppen bereit, und nun, ehe die Schlacht beginnt, reitet noch einmal Napoleon auf seiner weißen Stute die ganze Front entlang. Die Adler auf den Fahnen senken sich nieder wie unter brausendem Wind, die Reiter schütteln martialisch ihre Säbel, das Fußvolk hebt zum Gruß seine Bärenmützen auf die Spitzen der Bajonette. Alle Trommeln rollen frenetischen Wirbel, die Trompeten stoßen ihre scharfe Lust dem Feldherrn entgegen, aber alle diese funkelnden Töne überwogt donnernd der über die Regimenter hinrollende, aus siebzigtausend Soldatenkehlen sonor brausende Jubelschrei: »Vive l’Empereur!«


Keine Parade der zwanzig Napoleonsjahre war großartiger und enthusiastischer als diese seine letzte. Kaum sind die Rufe verhallt, um elf Uhr – zwei Stunden später als vorausgesehen, um zwei verhängnisvolle Stunden zu spät! –, ergeht an die Kanoniere der Befehl, die Rotröcke am Hügel niederzukartätschen. Dann rückt Ney, »le brave des braves«, mit dem Fußvolk vor; die entscheidende Stunde Napoleons beginnt. Unzählige Male ist diese Schlacht geschildert worden, aber man wird nicht müde, ihre aufregenden Wechselfälle zu lesen, bald in der großartigen Darstellung Walter Scotts, bald in der episodischen Darstellung Stendhals. Sie ist groß und vielfältig von nah und fern gesehen, ebenso vom Hügel des Feldherrn wie vom Sattel des Kürassiers. Sie ist ein Kunstwerk der Spannung und Dramatik mit ihrem unablässigen Wechsel von Angst und Hoffnung, der plötzlich sich löst in einem äußersten Katastrophenmoment, Vorbild einer echten Tragödie, weil in diesem Einzelschicksal das Schicksal Europas bestimmt war und das phantastische Feuerwerk der Napoleonischen Existenz prachtvoll wie eine Rakete noch einmal aufschießt in alle Himmel, ehe es in zuckendem Sturz für immer erlischt.


Von elf bis ein Uhr stürmen die französischen Regimenter die Höhen, nehmen Dörfer und Stellungen, werden wieder verjagt, stürmen wieder empor. Schon bedecken zehntausend Tote die lehmigen, nassen Hügel des leeren Landes, und noch nichts ist erreicht als Erschöpfung hüben und drüben. Beide Heere sind ermüdet, beide Feldherren beunruhigt. Beide wissen, daß dem der Sieg gehört, der zuerst Verstärkung empfängt, Wellington von Blücher, Napoleon von Grouchy. Immer wieder greift Napoleon nervös zum Teleskop, immer neue Ordonnanzen jagt er hinüber; kommt sein Marschall rechtzeitig heran, so leuchtet über Frankreich noch einmal die Sonne von Austerlitz.

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