Dunkle Jugend


Unübertreffliches Symbol für diesen übernationalen, der ganzen Welt gehörigen Genius: Erasmus hat keine Heimat, kein richtiges Elternhaus, er ist gewissermaßen im luftleeren Raum geboren. Der Name Erasmus Roterodamus, den er dem Weltruhm entgegenträgt, ist nicht von Vätern und Ahnen ererbt, sondern ein angenommener, die Sprache, die er zeitlebens spricht, nicht die heimatlich holländische, sondern das erlernte Latein. Tag und Umstände seiner Geburt sind in merkwürdiges Dunkel gehüllt; kaum mehr ist gewiß als das nackte Geburtsjahr 1466. An dieser Verschattung war Erasmus keineswegs unschuldig, denn er liebte nicht, von seiner Herkunft zu sprechen, weil ein uneheliches Kind und mehr noch, ärgerlicher noch, Kind eines Priesters, »ex illicito et ut timet incesto damnatoque coitu genitus«; (und was Charles Reade in seinem berühmten Roman »The cloister and the heart« romantisch von der Kindheit des Erasmus erzählt, ist selbstverständlich Erfindung). Die Eltern sterben früh, und begreiflicherweise zeigen die Verwandten größte Eile, den Bastard möglichst kostenlos von sich wegzuhalten; glücklicherweise ist die Kirche immer geneigt, einen begabten Knaben an sich zu ziehen. Mit neun Jahren wird der kleine Desiderius (in Wahrheit: ein Unerwünschter) in die Kapitelschule von Deventer geschickt, dann nach Herzogenbusch: 1487 tritt er in das Augustinerkloster Steyn, nicht so sehr aus religiöser Neigung, sondern weil es die beste klassische Bibliothek im Lande besitzt; dort legt er um das Jahr 1488 das Mönchsgelübde ab. Aber daß er in diesen Klosterjahren glühender Seele um die Palme der Frömmigkeit gerungen habe, ist von keiner Seite bezeugt, man erfährt aus seinen Briefen vielmehr, daß eher die schönen Künste, daß lateinische Literatur und Malerei ihn hauptsächlich beschäftigt haben. Immerhin empfängt er 1492 durch die Hand des Bischofs von Utrecht die Priesterweihe.


In diesem seinem geistlichen Kleide haben Erasmus zeitlebens nur wenige jemals gesehen; und es bedarf immer einer gewissen Anstrengung, sich zu erinnern, daß dieser freidenkende und unbefangen schreibende Mann tatsächlich bis in die Sterbestunde dem Priesterstand angehört hat. Aber Erasmus verstand die große Lebenskunst, alles, was ihm drückend war, auf sachte und unauffällige Weise von sich abzutun und in jedem Kleid und unter jedem Zwang sich seine innere Freiheit zu wahren. Von zwei Päpsten hat er unter den geschicktesten Vorwänden die Dispens erlangt, das Priesterkleid tragen zu müssen, vom Fastenzwang befreit er sich durch ein Gesundheitszertifikat und in die Klosterzucht ist er trotz allen Bitten, Mahnungen, ja Drohungen seiner Vorgesetzten nicht für einen Tag mehr zurückgekehrt.


Damit enthüllt sich schon ein bedeutsamer und vielleicht der wesentlichste Zug seines Charakters: Erasmus will sich an nichts und niemanden binden. Keinen Fürsten-, keinen Herren- und selbst keinen Gottesdienst will er dauernd auf sich nehmen, er muß aus einem innern Unabhängigkeitszwang seiner Natur frei bleiben und niemandem untertan. Niemals hat er innerlich einen Vorgesetzten anerkannt, an keinen Hof, an keine Universität, an keinen Beruf, an kein Kloster, an keine Kirche, an keine Stadt fühlte er sich je verpflichtet, und wie seine geistige Freiheit, hat er lebenslang seine moralische mit stiller und zäher Hartnäckigkeit verteidigt.


An diesen so wesentlichen Zug seines Charakters schließt sich organisch ein zweiter: Erasmus ist zwar Unabhängigkeitsfanatiker, aber darum keineswegs ein Rebell, ein Revolutionär. Im Gegenteil, er verabscheut alle offenen Konflikte, er vermeidet als kluger Taktiker jeden unnützen Widerstand gegen die Mächte und Machthaber dieser Welt. Er paktiert lieber mit ihnen als gegen sie zu frondieren, er erschleicht lieber seine Unabhängigkeit als sie zu erkämpfen; nicht wie Luther mit kühner dramatischer Geste wirft er, weil sie ihm zu eng die Seele schnürt, seine Augustinerkutte von sich; nein, er zieht sie lieber leise, nach unterirdisch eingeholter Erlaubnis in aller Stille aus: als guter Schüler seines Landsmannes Reineke Fuchs schlüpft er wendig und geschickt aus jeder Falle, die man seiner Freiheit stellt. Zu vorsichtig, um jemals ein Held zu werden, erreicht er durch seinen klaren, die Schwächen der Menschheit überlegen berechnenden Geist alles, was er für seine Persönlichkeitsentwicklung benötigt: er siegt in seiner ewigen Schlacht um die Unabhängigkeit der Lebensgestaltung nicht durch Mut, sondern durch Psychologie.


Aber diese große Kunst, sich das Leben frei und unabhängig zu gestalten (die schwerste für jeden Künstler), will erlernt sein. Die Schule des Erasmus war hart und langwierig. Erst mit sechsundzwanzig Jahren entrinnt er dem Kloster, dessen Enge und Engstirnigkeit ihm unerträglich geworden. Doch – erste Probe seiner diplomatischen Geschicklichkeit – er entläuft seinen Vorgesetzten nicht als ein eidbrüchiger Mönch, sondern läßt sich nach geheimen Verhandlungen zum Bischof von Cambrai berufen, um ihn auf seiner Reise nach Italien als lateinischer Sekretär zu begleiten; in demselben Jahre, da Kolumbus Amerika, entdeckt sich der Klostergefangene Europa, seine zukünftige Welt. Glücklicherweise verzögert der Bischof seine Reise, und so hat Erasmus gemächlich Zeit, das Leben nach seiner Façon zu genießen, er muß keine Messen lesen, kann an der großen, wohlbestellten Tafel sitzen, kluge Menschen kennenlernen, sich mit Leidenschaft dem Studium der lateinischen und kirchlichen Klassiker hingeben und außerdem an seinem Dialog »Antibarbari« schreiben: dieser Name seines Erstlingswerkes könnte übrigens auf allen Titelblättern seiner Werke stehen. Unbewußt hat er den großen Feldzug seines Lebens gegen Unbildung, Torheit und traditionelle Überheblichkeit begonnen, indem er seine Sitten verfeinert, seine Kenntnisse erweitert; aber leider, der Bischof von Cambrai gibt seine Reise nach Rom auf, und die schöne Zeit soll plötzlich enden, ein lateinischer Secretarius ist jetzt nicht mehr vonnöten. Nun sollte der ausgeborgte Mönch Erasmus eigentlich gehorsam in sein Kloster zurückkehren. Doch jetzt, da er das süße Gift der Freiheit einmal in sich eingetrunken, will er nicht und nie mehr davon lassen. So heuchelt er ein unwiderstehliches Verlangen nach den höheren Graden geistlicher Wissenschaft, er bedrängt mit der ganzen Leidenschaft und Energie seiner Klosterangst und gleichzeitig mit der rasch herangereiften Kunst seiner Psychologie den gutmütigen Bischof, er möge ihn mit einem Stipendium nach Paris schicken, damit er dort den Doktorgrad der Theologie erwerben könne. Endlich gibt der Bischof ihm seinen Segen und, was Erasmus wichtiger ist, eine schmale Börse als Stipendium, und vergebens wartet der Prior des Klosters auf die Rückkehr des Ungetreuen. Aber er wird sich gewöhnen müssen, Jahre und Jahrzehnte auf ihn zu warten, denn längst hat Erasmus sich seinen Urlaub vom Mönchstum und jedem andern Zwang für das ganze Leben selbstherrlich erteilt.


Der Bischof von Cambrai hat dem jungen geistlichen Studenten die übliche Börse gewährt. Aber diese Börse ist verzweifelt schmal, ein Studentenstipendium für einen dreißigjährigen Mann, und mit bitterem Spott tauft Erasmus den sparsamen Gönner seinen »Antimaecenas«. Schwer gedemütigt muß der rasch an die Freiheit Gewöhnte und am Bischofstisch Verwöhnte im domus pauperum, im berüchtigten Collège Montaigu Hausung nehmen, das ihm durch seine asketischen Regeln und seine strenge geistliche Führung wenig behagt. Im Quartier Latin gelegen, auf dem Mont Saint-Michel (etwa bei dem heutigen Panthéon), schließt dieses Zuchthaus des Geistes den jungen, lebensneugierigen Studenten eifersüchtig von dem heitern Treiben der weltlichen Kameraden vollkommen ab: wie von einer Sträflingszeit spricht er von diesem theologischen Gefängnis seiner schönsten Jugend. Erasmus, der von Hygiene überraschend moderne Vorstellungen hat, fällt in seinen Briefen von einer Klage in die andere: die Schlafräume seien ungesund, die Wände eiskalt, kahl getüncht und fühlbar nahe den Latrinen, niemand könne lange in diesem »Essigkollegium« wohnen, ohne todkrank zu werden oder zu sterben. Auch die Nahrung behagt ihm nicht, die Eier oder das Fleisch sind verfault, der Wein verdorben und die Nacht erfüllt von unrühmlichem Kampf gegen das Ungeziefer. »Du kommst von Montaigu?« spottet er später in seinen Kolloquien. »Zweifellos hast du das Haupt mit Lorbeeren bedeckt? – Nein, mit Flöhen.« Die damalige Klosterzucht schreckt überdies nicht zurück vor körperlichen Züchtigungen, und was zwanzig Jahre im gleichen Haus ein fanatischer Asket wie Loyola gesonnen ist, der Willenserziehung wegen gelassen zu ertragen, die Rute und den Bakel, widerstrebt einer nervösen und unabhängigen Natur wie Erasmus. Auch der Unterricht ekelt ihn an: rasch lernt er den Geist der Scholastik mit seinem abgestorbenen Formalismus, seinen schalen Talmudismen und Spitzfindigkeiten für immer verabscheuen, der Künstler in ihm empört sich – nicht so heiter ergötzlich wie später Rabelais, aber mit der gleichen Verachtung gegen die Vergewaltigung des Geistes in diesem Prokrustesbett. »Niemand kann die Mysterien dieser Wissenschaft begreifen, der irgend einmal Verkehr mit den Musen oder Grazien gepflogen hat. Alles, was Du von bonae litterae erworben hast, mußt Du hier verlieren, und was Du aus den Quellen des Helikon getrunken, wieder von Dir geben. Ich tue mein Bestes, nichts Lateinisches, nichts Anmutiges oder Geistreiches zu sagen, und mache schon derartige Fortschritte darin, daß sie mich hoffentlich einmal als den ihren anerkennen werden.« Schließlich gibt ihm eine Krankheit den langersehnten Vorwand, aus dieser verhaßten Galeere des Körpers und des Geistes unter Verzicht auf den theologischen Doktorgrad zu entfliehen. Erasmus kehrt zwar nach kurzer Erholung wieder nach Paris zurück, aber nicht mehr in das »Essigkollegium«, das »Collège vinaigre«, sondern bringt sich lieber fort, indem er als Hauslehrer und Nachhelfer junge vermögende Deutsche und Engländer unterrichtet: die Selbständigkeit des Künstlers hat in dem Priester begonnen.


Aber Selbständigkeit ist für den geistigen Menschen in der noch halb mittelalterlichen Welt gar nicht vorgesehen. In deutlicher Stufenreihe sind alle Stände abgegrenzt, die weltlichen und die geistlichen Fürsten, die Kleriker, die Zünfte, die Soldaten, die Beamten, die Handwerker, die Bauern, jeder einzelne Stand eine starre Gruppe und sorgfältig gegen jeden Eindringling vermauert. Für den geistigen, für den schaffenden Menschen, für den Gelehrten, den freien Künstler, den Musiker ist in dieser Weltordnung noch kein Raum vorhanden, denn die Honorare, die späterhin Unabhängigkeit gewähren, sind noch nicht erfunden. Dem geistigen Menschen bleibt also keine andere Wahl, als irgendeinem dieser herrschenden Stände zu dienen, er muß Fürstendiener oder Gottesdiener werden. Da die Kunst noch nicht als selbständige Macht gilt, muß er Gunst suchen bei den Mächtigen, er muß Günstling werden eines gnädigen Herrn, sich hier eine Pfründe erbetteln und dort eine Pension, muß sich – bis anno Mozart und Haydn – ducken im gemeinen Kreise der Dienerschaft. Er muß, will er nicht verhungern, den Eitlen schmeicheln mit Dedikationen, die Ängstlichen durch Pamphlete schrecken, den Reichen nachstellen mit Bettelbriefen; unablässig und ohne Sicherheit, bei einem Gönner oder bei vielen, erneuert sich für ihn dieser unwürdige Kampf um das tägliche Brot. Zehn oder zwanzig Geschlechter von Künstlern haben so gelebt, von Walther von der Vogelweide bis zu Beethoven, der als erster von den Mächtigen herrisch sein Künstlerrecht fordert und rücksichtslos nimmt. Dieses Sichkleinmachen, Sichanschmiegen und Sichducken hat allerdings einem so überlegenen und ironischen Geist wie Erasmus kein großes Opfer bedeutet. Er durchschaut schon früh das Trugspiel der gesellschaftlichen Welt; weil nicht rebellischer Natur, nimmt er ihre geltenden Gesetze ohne Klage hin und setzt seine Mühe nur daran, sie auf geschickte Weise zu durchbrechen und zu umgehen. Aber sein Weg zum Erfolg bleibt desungeachtet langwierig und wenig beneidenswert: bis zu seinem fünfzigsten Jahr, da dann ihrerseits die Fürsten um ihn werben, da die Päpste und Reformatoren sich bittend an ihn wenden, da die Drucker ihn bestürmen und die Reichen sich’s zur Ehre machen, ihm ein Geschenk ins Haus zu schicken, lebt Erasmus von geschenktem, ja erbetteltem Brot. Noch mit ergrauenden Haaren muß er sich beugen und verneigen: zahllos sind seine devoten Dedikationen, seine Schmeichelepisteln, sie füllen einen Großteil seiner Korrespondenz und würden, für sich gesammelt, einen geradezu klassischen Briefsteller für Supplikanten abgeben, mit so großartiger List und Kunst stilisiert er seine Betteleien. Aber hinter diesem oft bedauerten Mangel an Charakterstolz verbirgt sich bei ihm ein entschlossener, großartiger Wille zur Unabhängigkeit. Erasmus schmeichelt in Briefen, um in seinen Werken besser wahr sein zu können. Er läßt sich fortwährend beschenken, aber von keinem einzigen kaufen, er weist alles zurück, was ihn dauernd an eine besondere Person binden könnte. Obschon international berühmter Gelehrter, den Dutzende von Universitäten an ihr Katheder fesseln möchten, steht er lieber als bloßer Korrektor in einer Druckerei, bei Aldus in Venedig, oder er wird Hofmeister und Reisemarschall von blutjungen englischen Aristokraten, oder bloß Schmarotzer bei reichen Bekannten, aber all das immer nur genauso lange, als es ihm gefällt, und niemals für dauernde Frist an einem Ort. Dieser hartnäckig entschlossene Wille zur Freiheit, dies Niemandem-dienen-Wollen hat Erasmus zeitlebens zum Nomaden gemacht. Unablässig ist er auf der Wanderschaft durch alle Länder, bald in Holland, bald in England, bald in Italien, Deutschland und der Schweiz, der Meistreisende und Meistgereiste unter den Gelehrten seiner Zeit, nie ganz arm, nie recht reich, immer, wie Beethoven, »in der Luft lebend«, aber dies Schweifen und Vagieren ist seiner philosophischen Natur teurer als Haus und Heim. Lieber kleiner Sekretär eines Bischofs bleiben für eine Zeit, als selbst Bischof zu werden für immerdar und Ewigkeit, lieber gelegentlicher Berater eines Fürsten für eine Handvoll Dukaten als sein allmächtiger Kanzler. Aus tiefem Instinkt scheut dieser Geistmensch jede äußere Macht, jede Karriere: – im Schatten der Macht, abgesondert von jeder Verantwortung zu wirken, in einer stillen Stube gute Bücher zu lesen und die eigenen zu schreiben, niemandes Gebieter und niemandes Untertan, dies ist Erasmus’ eigentliches Lebensideal gewesen. Um dieser geistigen Freiheit willen geht er viele dunkle, ja sogar krumme Wege, aber alle auf ein und dasselbe innere Ziel hin: auf die geistige Unabhängigkeit seiner Kunst, seines Lebens.


Seine eigentliche Sphäre entdeckt sich Erasmus erst als Dreißigjähriger in England. Bisher hatte er in dumpfen Klosterstuben gelebt, unter engen und plebejischen Menschen. Die spartanische Zucht der Seminare und der geistige Daumschraubenzwang der Scholastik waren für seine feinen, sensitiven und neugierigen Nerven wirkliche Folter gewesen; sein Geist, der auf Weite gestellt ist, kann sich in dieser Beschränkung nicht entfalten. Aber dieses Salz und diese Bitternis waren vielleicht notwendig, um ihm jenen ungeheuren Durst nach Weltwissen und Freiheit zu geben, denn in dieser Zucht hat der lange Geprüfte gelernt, ein für allemal alles engstirnige Bornierte und doktrinär Einseitige, alles Brutale und Befehlshaberische als unmenschlich zu hassen – gerade daß Erasmus von Rotterdam das Mittelalter am eigenen Leibe, an der eigenen Seele noch so ganz und so schmerzhaft erlebt hat, befähigt ihn, Bote der neuen Zeit zu werden. Von einem jungen Schüler, dem Lord Montjoy, nach England mitgenommen, atmet er mit unermeßlicher Beglückung zum erstenmal die stärkende Luft geistiger Kultur. Denn Erasmus kommt in einem guten Augenblick in die angelsächsische Welt. Nach dem endlosen Krieg der Weißen und Roten Rose, der jahrzehntelang das Land zerstampft hat, genießt England wieder die Segnungen des Friedens, und überall wo Krieg und Politik abgedrängt sind, vermögen Kunst und Wissenschaft sich freier zu entfalten. Zum erstenmal entdeckt der kleine Klosterschüler und Stundengeber, daß es eine Sphäre gibt, wo einzig der Geist und das Wissen als Macht gelten. Keiner fragt ihn nach seiner unehelichen Geburt und zählt seine Messen und Gebete nach, hier wird er einzig als Künstler, als Intellektueller um seines eleganten Lateins, um seiner amüsanten Redekunst willen in den vornehmsten Kreisen geschätzt, beglückt lernt er die wunderbare Gastlichkeit, die edle Unvoreingenommenheit der Engländer kennen,


»ces grands Mylords
Accords, beaux et courtois, magnanimes et forts«,


wie sie Ronsard gerühmt. Eine andere Art des Denkens wird ihm in diesem Lande offenbar. Obzwar Wiclif längst vergessen ist, lebt in Oxford die freiere, kühnere Auffassung der Theologie weiter, hier findet er Lehrer der griechischen Sprache, die ihm eine neue Klassik erschließen, die besten Geister, die größten Männer werden seine Gönner und Freunde, sogar der junge König, Heinrich VIII., damals noch Prinz, läßt sich das kleine Priesterlein vorstellen. Es ehrt Erasmus für alle Zeiten und zeugt für seine eindrucksvolle Haltung, daß die edelsten Menschen jener Generation, daß Thomas Morus und John Fisher seine innigsten Freunde, daß John Colet, die Erzbischöfe Warham und Cranmer seine Gönner wurden. Mit leidenschaftlichem Durst trinkt der junge Humanist solche geistig durchglühte Luft ein, er nützt die Zeit dieser Gastlichkeit, um nach allen Seiten sein Wissen zu erweitern, er verfeinert im Gespräch mit den Adeligen und deren Freunden und Frauen seine Umgangsformen. Das Selbstbewußtsein seiner Stellung hilft mit zur raschen Verwandlung – aus dem ungelenken scheuen Priesterchen wird eine Art Abbé, der die Soutane wie ein Gesellschaftskleid trägt. Erasmus beginnt sich sorgfältig auszustaffieren, er lernt reiten und jagen, seine aristokratische Lebenshaltung, die dann in Deutschland so scharf von den gröberen, plumperen Formen der Provinzhumanisten absticht und ihm ein gut Teil seiner kulturellen Hoheitsstellung einbrachte, hat er in den gastlichen Häusern des englischen Adels sich anerzogen. In die Mitte der politischen Welt gestellt und innig den besten Geistern der Kirche und des Hofes verbrüdert, gewinnt sein scharfer Blick jene Weite und Universalität, die später die Welt an ihm bewundert. Aber auch sein Gemüt wird hell: »Du fragst mich«, schreibt er froh einem Freunde, »ob ich England liebe? Nun, wenn Du mir je Glauben schenktest, so bitte, glaube mir auch dies, daß nichts mir je so wohlgetan hat. Ich finde hier ein angenehmes und gesundes Klima, soviel Kultur und Gelehrtheit, und zwar nicht der haarspalterischen und banalen Art, sondern tiefer, exakter und klassischer Bildung, sowohl in Latein als in Griechisch, daß ich außer den Dingen, die dort zu sehen sind, wenig Sehnsucht nach Italien habe. Wenn ich meinem Freund Colet zuhöre, so ist mir, als lausche ich Plato selbst, und hat die Natur je eine gütigere, zartere und glücklichere Wesensart hervorgebracht als die des Thomas Morus?« In England ist Erasmus vom Mittelalter genesen.


Aber alle Liebe zu England macht Erasmus dennoch nicht zum Engländer. Als Kosmopolit, als Weltmann, als freie und universalische Natur kehrt der Befreite zurück. Von nun ab ist seine Liebe überall dort, wo Wissen und Kultur, wo Bildung und Buch herrschen; nicht Länder und Flüsse und Meere teilen für ihn mehr den Kosmos ab, nicht Stand und Rasse und Klasse; er kennt nur zwei Schichten mehr: die Aristokratie der Bildung und des Geistes als die obere Welt, den Plebs und die Barbarei als die untere. Wo das Buch herrscht und das Wort, die »eloquentia und eruditio«, dort ist von nun ab seine Heimat.


Dieses hartnäckige Sichbeschränken auf den geistesaristokratischen Kreis, auf die damals so haardünne Schicht der Kultur, gibt der Gestalt des Erasmus und seinem Schaffen etwas Wurzelloses: als der wahre Kosmopolit bleibt er überall nur Besucher, nur Gast, nirgendwo nimmt er Sitten und Wesen eines Volkes in sich auf, nirgends eine einzige lebendige Sprache. Mit allen seinen ungezählten Reisen ist er eigentlich am Wesenhaftesten jedes Landes vorbeigereist. Für ihn bestanden Italien, Frankreich, Deutschland und England aus dem Dutzend Menschen, mit denen er ein geschliffenes Gespräch führen konnte, eine Stadt aus ihren Bibliotheken, und er bemerkte allenfalls noch, wo die Gasthöfe am reinlichsten, die Menschen am höflichsten, die Weine am süßesten waren. Aber jede andere als die Buchkunst blieb ihm verschlossen, er hatte kein Auge für Malerei, kein Ohr für Musik. Er bemerkt nicht, daß in Rom ein Lionardo, ein Raffael und ein Michelangelo schaffen, und die Kunstbegeisterung der Päpste tadelt er als überflüssige Verschwendung, als antievangelische Prunkliebe. Niemals hat Erasmus die Strophen Ariosts gelesen, Chaucer bleibt ihm in England, die französische Dichtung in Frankreich fremd. Nur der einen Sprache Latein ist sein Ohr wirklich offen, und die Kunst Gutenbergs war für ihn die einzige Muse, der er wahrhaft verschwistert war, er, der subtilste Typus des Literaten, dem nur durch die litterare, die Lettern, Weltinhalt erfaßbar wird. Er konnte zur Wirklichkeit kaum anders in Beziehung treten als durch das Medium der Bücher, und er hat mit ihnen mehr Umgang gehabt als mit Frauen. Er liebte sie, weil sie leise waren und ohne Gewaltsamkeit und unverständlich der dumpfen Menge, das einzige Vorrecht der Gebildeten in einer sonst rechtlosen Zeit. In dieser Sphäre allein konnte der sonst sparsame Mann zum Verschwender werden, und wenn er mit Widmungen sich Geld zu schaffen suchte, so tat er dies einzig zu dem Zwecke, um sich Bücher kaufen zu können, immer mehr, immer mehr, griechische, lateinische Klassiker, und er liebte die Bücher nicht nur um ihres Inhalts willen, sondern er vergötterte sie auch als einer der ersten Bibliophilen rein fleischlich in ihrem Dasein und in ihrem Werden, in ihrer herrlichen, handlichen und gleichzeitig ästhetischen Form. Bei Aldus in Venedig oder bei Froben in Basel in der niedern Druckstube zwischen den Werkleuten zu stehen, noch feucht die Druckbogen aus der Presse zu empfangen, die Zieraten und zarten Initialen mit den Meistern dieser Kunst gemeinsam einzusetzen, wie ein scharfsichtiger Jäger mit flinker gespitzter Feder den Druckfehlern nachzujagen oder noch rasch auf den nassen Blättern eine lateinische Phrase reiner und klassischer zu runden, das waren für ihn die seligsten Augenblicke seines Daseins, an Büchern, für Bücher zu wirken, die natürlichste Form seiner Existenz. Im letzten hat Erasmus nie innerhalb der Völker und Länder gelebt, sondern über ihnen, in einer dünneren, hellsichtigeren Atmosphäre, in dem tour d’ivoire des Artisten, des Akademikers. Aber von diesem Turm, der ganz aus Büchern und Arbeit gebaut war, lugte er neugierig herab, ein anderer Lynkeus, um frei, klar und gerecht das lebendige Leben zu sehen und zu verstehen.


Denn Verstehen und immer besser Verstehen war die eigentliche Lust dieses merkwürdigen Genius. Im strengen Sinn kann Erasmus vielleicht kein tiefer Geist genannt werden; er gehört nicht zu den Zuendedenkern, zu den großen Umformern, die den Weltraum mit einem neuen geistigen Planetensystem beschenken; die Wahrheiten des Erasmus sind eigentlich nur Klarheiten. Aber wenn kein profunder, so war Erasmus doch ein ungewöhnlich weiter Geist, wenn kein Tiefdenker, so doch ein Richtigdenker, ein Helldenker und Freidenker im Sinne Voltaires und Lessings, ein vorbildlicher Versteher und Verständlichmacher, ein Aufklärer in des Wortes edelster Bedeutung. Helligkeit und Redlichkeit zu verbreiten, war für ihn eine Naturfunktion. Alles Wirre widerte ihn an, alles verworren Mystische und verstiegen Metaphysische stieß ihn organisch ab; wie Goethe haßte er nichts so sehr wie das »Nebulose«. Das Weite lockte ihn aus sich heraus, aber die Tiefe zog ihn nicht an: über den »Abgrund« Pascals hat er sich nie gebeugt, er kannte nicht die seelischen Durchschütterungen eines Luther, Loyola oder Dostojewskij, diese Art furchtbarer Krisen, die geheimnisvoll schon Tod und Wahnsinn verwandt sind. Alles Übertreibliche mußte seiner vernünftlerischen Art fremd bleiben. Aber anderseits war auch kein anderer Mensch des Mittelalters so wenig abergläubisch wie er. Er hat wahrscheinlich leise gelächelt über die Krämpfe und Krisen seiner Zeitgenossen, über die Höllenvisionen Savonarolas, über die panische Teufelsangst Luthers, die astralen Phantasien eines Paracelsus; nur das Allverständliche konnte er verstehen und verständlich machen. Die Klarheit saß organisch schon in seinem ersten Blick, und was immer er anleuchtete mit seinem unbestechlichen Auge, wurde sofort licht und ordnungshaft. Dank dieser wasserklaren Durchsichtigkeit seines Denkens und der Einsichtigkeit seines Gefühls ist er der große Verständlichmacher, Zeitkritiker, Erzieher und Lehrer seines Jahrhunderts geworden, aber Lehrer nicht nur für sein Geschlecht, sondern auch für die nächsten, denn alle Aufklärer, Freidenker und Enzyklopädisten des achtzehnten Jahrhunderts und noch viele Pädagogen des neunzehnten sind Geist von seinem Geist.


In allem Nüchternen und Lehrhaften versteckt sich aber die Gefahr der Verflachung ins Philiströse, und wenn die Aufklärerei des siebzehnten, des achtzehnten Jahrhunderts uns durch ihre anmaßende Vernünftelei anwidert, so ist das nicht des Erasmus Schuld, denn sie äffte nur seine Methode nach und entbehrte seines Geistes. Jenen Kleingeistern fehlte das Gran attischen Salzes, jene souveräne Überlegenheit, die alle Briefe und Dialoge ihres Meisters so unterhaltsam, so literarisch schmackhaft macht. In Erasmus balancierte immer eine heitere spöttische Laune mit dem Gravitätisch-Gelehrtenhaften, er war stark genug, um mit seiner geistigen Kraft auch spielen zu können, und vor allem war ihm ein zugleich funkelnder und doch nicht bösartiger, ein kaustischer und doch nicht böswilliger Witz zu eigen, dessen Erbe Swift wurde und dann Lessing, Voltaire und Shaw. Erasmus wußte als erster großer Stilist der neuen Zeit gewisse ketzerische Wahrheiten zwinkernd und blinzelnd zu flüstern, er verstand es, mit genialer Frechheit und unnachahmlicher Geschicklichkeit die allerheikelsten Dinge an der Nase der Zensur vorbeizuschreiben, ein gefährlicher Rebell, der sich selbst aber nie gefährdete, geschützt durch seinen Gelehrtentalar oder ein rasch übergestülptes Schalksgewand. Für ein Zehnteil dessen, was Erasmus an kühnen Dingen seiner Zeit sagte, kamen andere auf den Scheiterhaufen, weil sie es grob herauspolterten; seine Bücher aber nahmen Päpste und Kirchenfürsten, Könige und Herzöge hochgeehrt entgegen und entgalten sie sogar mit Würden und Geschenken; dank seiner literarisch-humanistischen Verpackungskunst hat Erasmus eigentlich den ganzen Sprengstoff der Reformation in die Klöster und Fürstenhöfe hineingeschmuggelt. Mit ihm beginnt – überall war er Bahnbrecher – die Meisterschaft politischer Prosa mit ihrer ganzen Skala vom Dichterischen bis zum muntern Pasquill, jene beflügelte Kunst des zündenden Worts, die dann bei Voltaire, Heine und Nietzsche herrlich vollendet aller weltlichen und geistlichen Mächte spottet und immer dem Bestehenden gefährlicher war als die grobe offene Attacke der Schwerblütigen. Durch Erasmus wird der Schriftsteller zum erstenmal eine europäische Macht neben den andern Mächten. Und daß er sie nicht im Sinne der Auflösung und Aufhetzung, sondern einzig in jenem der Bindung und Gemeinsamkeit geübt hat, bleibt sein dauernder Ruhm.


Dieser große Schriftsteller ist Erasmus nicht von Anfang an gewesen. Ein Mann seiner Art muß alt werden, um in die Welt zu wirken. Ein Pascal, ein Spinoza, ein Nietzsche können jung sterben, weil ihr zusammengefaßter Geist gerade in den engsten und geschlossensten Formen Vollendung findet. Ein Erasmus dagegen, ein sammelnder, suchender, ein kommentierender und komprimierender Geist, der seine Substanz nicht so sehr in sich selbst hat, als er sie aus der Welt gewinnt, wirkt nicht durch seine Intensität, sondern durch seine Extensität. Erasmus war mehr Könner als Künstler, für seine ewig parate Intelligenz ist Schreiben nur eine andere Form des Gesprächs, sie kostet seiner geistigen Beweglichkeit keine sonderliche Mühe, und er erklärt selbst einmal, daß es ihm weniger Anstrengung bereite, ein neues Buch zu verfassen, als die Korrektur eines alten zu lesen. Er braucht sich nicht zu erhitzen, nicht zu steigern, sein Verstand ist ohnehin immer rascher, als das Wort ihm folgen kann. »Mir war«, schreibt Zwingli, »als ich Deine Schrift las, als ob ich Dich reden hörte und Deine kleine, aber zierliche Gestalt auf das gefälligste sich bewegen sähe.« Je leichter er schreibt, desto überzeugender, je mehr er schafft, um so wirksamer.


Die erste Schrift, die Erasmus Ruhm einbringt, dankt ihr Glück einem Zufall oder vielmehr einem unbewußten Erkennen der Zeitatmosphäre. Im Laufe der Jahre hatte der junge Erasmus zu Lehrzwecken für seine Schüler eine Sammlung lateinischer Zitate zusammengestellt, bei guter Gelegenheit ließ er sie in Paris unter dem Titel »Adagia« drucken. Damit kommt er unbeabsichtigt dem Snobismus der Zeit entgegen, denn gerade war Latein die große Mode geworden, und jeder Mann von literarischem Rang – dieser Mißbrauch reicht bis nahe an unser Jahrhundert – glaubte sich als »Gebildeter« verpflichtet, einen Brief oder eine Abhandlung oder eine Rede mit lateinischen Zitaten spicken zu müssen. Die geschickte Auswahl des Erasmus sparte nun allen humanistischen Snobs die Mühe, selbst die Klassiker zu lesen. Wenn einer einen Brief schreibt, braucht er von nun an nicht lange Folianten zu wälzen, sondern er fischt sich rasch eine hübsche Floskel aus den »Adagia« heraus. Und da die Snobs zu allen Zeiten zahlreich sind und waren, macht das Buch rasch seinen Weg: ein Dutzend Auflagen, jede fast doppelt soviel Zitate als die vorhergehende enthaltend, werden in allen Ländern gedruckt, und mit einmal ist der Name des Findlings und Bastards Erasmus berühmt in der ganzen europäischen Welt.


Ein einmaliger Erfolg beweist nichts für einen Schriftsteller. Wiederholt er sich aber immer und immer wieder und jedesmal auf einem andern Gebiete, dann deutet sich eine Berufung an, dann ist ein besonderer Instinkt bei diesem Künstler bezeugt. Diese Kraft läßt sich nicht steigern, diese Kunst nicht erlernen; niemals zielt auch Erasmus bewußt auf einen Erfolg, und immer fällt er ihm wieder auf das überraschendste zu. Wenn er in seinen »Colloquia« privat für seine ihm anvertrauten Schüler ein paar Dialoge zur leichteren Erlernung des Lateins hinschreibt, wird ein Lesebuch daraus für drei Generationen. Wenn er in seinem »Lob der Torheit« eine scherzhafte Satire zu schreiben meint, entfesselt er mit diesem Buch eine Revolution gegen alle Autoritäten. Wenn er die Bibel aus dem Griechischen ins Lateinische neu übersetzt und kommentiert, beginnt damit eine neue Theologie; wenn er für eine fromme Frau, die sich über die unreligiöse Gleichgültigkeit ihres Mannes kränkt, innerhalb weniger Tage ein Trostbuch schreibt, wird es ein Katechismus der neuen evangelischen Frömmigkeit. Ohne zu zielen, trifft er immer ins volle. Was immer ein freier und unbefangener Geist souverän berührt, wird neu für eine in überlebten Vorstellungen befangene Welt. Denn wer selbständig denkt, denkt zugleich auch am besten und förderlichsten für alle.

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